Erkenntnisse, Entwicklungen und Handlungsbedarf
Präsident SGSPP<br>Psychiatrische Universitätsklinik Zürich<br>Privatklinik Wyss AG und<br>Psychiatrische Dienste Graubünden<br>E-Mail: malte.claussen@pukzh.ch
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Die Schweizerische Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie (SGSPP) bezweckt die Förderung der Sportpsychiatrie und -psychotherapie über die Lebensspanne in der Schweiz im Leistungssport und in der Allgemeinbevölkerung. In Leading Opinions Neurologie & Psychiatrie wird seit Dezember 2019 regelmässig über die jüngsten Entwicklungen der Sportpsychiatrie und -psychotherapie (in der Schweiz) und ihre Tätigkeitsfelder berichtet.
Anlässlich dieser Jubiläumsausgabe der Leading Opinions Neurologie & Psychiatrie soll beispielhaft auf wichtige Erkenntnisse und die Entwicklung in den Tätigkeitsfeldern von Sportpsychiatern und -psychotherapeuten eingegangen sowie der weitere Handlungsbedarf und die damit verbundenen Hoffnungen und Wünsche benannt werden. Die aktuelle Berichterstattung über die «Magglingen-Protokolle» [in «Das Magazin» am 1. November 2020, in der Schweiz] und die Bedeutung von Gewalt und Missbrauch im Leistungssport gebietet es, hierauf zudem einzugehen. Aus der SGSPP wird dann wieder in der 1. Ausgabe 2021 an dieser Stelle berichtet.
Sportpsychiatrie und -psychotherapie
Die Förderung der psychischen Gesundheit und der sichere Umgang mit psychischen Problemen und Erkrankungen im Leistungssport sowie Sport und Bewegung in der Prävention und Therapie psychischer Erkrankungen haben sich mittlerweile als Tätigkeitsfelder und die Sportpsychiatrie und -psychotherapie als eine medizinische Fachrichtung und Disziplin der Psychiatrie und Psychotherapie etabliert. Die Sportpsychiatrie und -psychotherapie ist aber genauso auch Teilgebiet im Querschnittsfach Sportmedizin und Aufgabe wird in den nächsten Jahren sein, die Inhalte der Sportpsychiatrie und -psychotherapie als Teilgebiet auch der Sportmedizin (weiter) zu etablieren.
Erkenntnisse und Entwicklungen
Im Leistungssport wurde bis vor wenigen Jahren angenommen, dass es dort keine ernsthaften psychischen Probleme und Erkrankungen geben kann und dass mentale Stärke gleichzeitig auch psychische Gesundheit bedeutet. Durch immer zahlreicher werdende Veröffentlichungen wissen wir mittlerweile, dass psychische Belastungen und Erkrankungen häufige Gesundheitsprobleme im Leistungssport sind, die sich sportspezifisch manifestieren und die Leistung vermindern können.1 Erfolgreiche Spitzensportler lehrten uns zudem mit ihren mutigen Interviews, dass ihre mentale Stärke und Wettkampfpersönlichkeit kein Garant für eine anhaltende psychische Gesundheit sein müssen.
Körperliche Gesundheit, psychische Gesundheit und Leistung können im Sport nicht getrennt voneinander betrachtet werden: Psychische Belastungen und Erkrankungen im Sport können das Verletzungsrisiko erhöhen, die Zeit der Rehabilitation verlängern und die Leistung mindern.1 Verletzungen sowie ausbleibende sportliche Erfolge sind selbst Risiken für die psychische Gesundheit oder können erst bestehende psychische Probleme sichtbar werden lassen. Die Wirksamkeit von Sport und Bewegung in der Prävention und Therapie psychischer Erkrankungen hat mittlerweile dazu geführt, dass körperliche Aktivität in den Behandlungskonzepten psychischer Erkrankungen auf höchster Ebene Einzug gehalten hat, zum Beispiel in die S3-Leitlinie/Nationale Versorgungsleitlinie zur unipolaren Depression in Deutschland.2
Schizophrene Psychosen, Substanzgebrauchsstörungen, Angst- und Schlafstörungen sind weitere Beispiele psychischer Erkrankungen aus der psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis, für die positive und therapeutische Effekte von Sport und Bewegung nachgewiesen werden konnten und entsprechend in den Behandlungskonzepten Berücksichtigung finden sollten.3 Dass Sport und Bewegung präventive Effekte nicht nur auf die bekannten somatischen Folgen des Bewegungsmangels haben, sondern sich zum Beispiel auch positiv auf die Kognition auswirken und präventive Effekte bei demenziellen Erkrankungen aufweisen, konnte bereits ebenso gut gezeigt werden und muss berücksichtigt werden.3, 4
Sektionen, Arbeitsgruppen und Referate zur Sportpsychiatrie und -psychotherapie sind in den letzten Jahren innerhalb der psychiatrischen und -psychotherapeutischen Fachgesellschaften entstanden, wie auch eigenständige Gesellschaften Sportpsychiatrie und -psychotherapie; zum Beispiel in der Schweiz die Schweizerische Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie (SGSPP) als zweite und erste nationale Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie. Weitere Gesellschaften und Sektionen, Arbeitsgruppen und Referate innerhalb der Psychiatrie und Psychotherapie werden folgen und auch in der Sportmedizin in den nächsten Jahren entstehen.
In diesen Netzwerken wurden in den letzten Jahren erste Curricula zur Sportpsychiatrie und -psychotherapie ausgearbeitet, zum Beispiel das SGSPP-Curriculum in der Schweiz, das eine Expertise und Qualitätssicherung in den Tätigkeitsfeldern von Sportpsychiatern und -psychotherapeuten vermitteln und gewährleisten soll.5 Die International Society for Sports Psychiatry (ISSP) bietet das «ISSP Certificate of Additional Training in Sports Psychiatry» und die International Olympic Committee Medical and Scientific Commission das «IOC Program in Mental Health in Elite Sport» an, beide Curricula zielen im Wesentlichen auf das Tätigkeitsfeld von Sportpsychiatern und -psychotherapeuten im Leistungssport.
Handlungsbedarf
Im Leistungssport bedarf es eines qualifizierten Umgangs mit den körperlichen, psychischen und sozialen Aspekten, in einem bio-psycho-sozialen Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Dieses Verständnis ist Voraussetzung und ermöglicht erst die qualifizierte Förderung der psychischen Gesundheit im Leistungssport (in Prävention) und einen sicheren Umgang mit psychischen Problemen und Erkrankungen, in Diagnostik, Therapie und Nachsorge.6 Die Psychiatrie und Psychotherapie ist die einzige Fachrichtung und Disziplin, die diesen Anforderungen vollumfänglich gerecht werden kann mit einer Expertise auch in der Sportpsychiatrie und -psychotherapie.
Die empirische Grundlage, die Sport und Bewegung unter präventiven und therapeutischen Gesichtspunkten mittlerweile aufweisen, bedarf, dass sich alle, die Präventions- und Therapiekonzepte für psychische Erkrankungen anbieten, auch sportpsychiatrische und psychotherapeutische Inhalte aufnehmen und Sport und Bewegung in ihre Behandlungskonzepte integrieren.3 Sport und Bewegung sollten – wenn immer möglich – als zusätzlicher Therapiebaustein in der Behandlung psychischer Erkrankungen und zu deren Prävention empfohlen werden.
Gewalt und Missbrauch im Leistungssport
Die aktuelle Thematik der Gewalt und des Missbrauchs im (schweizerischen) Leistungssport, psychische Gesundheit und Erkrankungen, wie Traumafolgestörungen, als schwere psychische Erkrankungen, verlangt im Sportkontext eine Expertise, in erster Linie verlangt sie einen qualifizierten Umgang mit den schwerwiegenden und gesundheitlichen Folgen von Gewalt und Missbrauch. Die körperlichen und psychischen Folgen von Gewalt und Missbrauch gebieten eine nachweisliche, klinische und medizinische Kompetenz, die eine kinder- und jugendmedizinische und psychiatrisch-psychotherapeutische Expertise zwingend miteinschliesst. Die störungs- und erkrankungsspezifische Expertise sollte dabei immer höher gewichtet werden als die sportspezifische Kompetenz und letztlich massgebend sein.
Die Aufarbeitung der Geschehnisse in Magglingen gebieten Transparenz und einen kritischen Umgang mit den Versorgungskonzepten in einem offenen System. Insbesondere die Frage zur Qualifikation und Kompetenz der Verantwortlichen, im Erkennen von und Umgang mit Gewalt und Missbrauch ist zu beantworten. Genauso zu beantworten gilt es, ob der Umgang mit den schwerwiegenden psychischen Folgen von Gewalt und Missbrauch empirisch begründet und Leitlinien-konform erfolgte und die Versorgungskonzepte und -strukturen den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten in Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge von Gewalt und Missbrauch sowie psychischen Erkrankungen entsprechen.
Es bedarf der medizinischen, störungs- und erkrankungsspezifischen Expertise in den Versorgungskonzepten und -strukturen im Leistungssport für die körperliche und psychische Gesundheit. Die gegenwärtigen Versorgungskonzepte im Leistungssport sind durch das Fehlen qualifizierter, medizinischer Fachleute für die psychische Gesundheit in Verbänden und Vereinen gekennzeichnet, das heisst das Fehlen von Kinder- und Jugendpsychiatern und -psychotherapeuten und Psychiatern und Psychotherapeuten. Dies wird in der aktuellen Berichterstattung über die «Magglingen-Protokolle» ein weiteres Mal deutlich.
Die Präventions- und Versorgungskonzepte und die Praxis im Umgang mit Gewalt und Missbrauch sowie psychischer Gesundheit und Erkrankungen im Leistungssport sind aus fachlicher und ethischer Sicht zu hinterfragen; auf die Empfehlungen zu Interdisziplinarität und Einbindung von Spezialisten in den Konsenuspapieren des Internationalen Olympischen Komitee sei hier verwiesen.1, 7
Hoffnungen und Wünsche
Die Massnahmen zur Prävention von Gewalt und Missbrauch sowie zur Förderung der psychischen Gesundheit im Leistungssport müssen um die psychiatrische und -psychotherapeutische Expertise ergänzt werden.
Qualifizierte Kinder- und Jugendpsychiater und -psychotherapeuten und Psychiater und Psychotherapeuten im Leistungssport und in den Versorgungskonzepten der Verbände und Vereine dürfen aber keinesfalls als Ausdruck einer Psychiatrisierung des Leistungssports verstanden werden. Sie sind vielmehr Ausdruck eines Bewusstseins, dass auch im Leistungssport Gewalt und Missbrauch ein bedeutendes Thema ist, Belastungen und Risiken für die psychische Gesundheit bestehen, und demzufolge einer notwendigen und medizinischen Initiative: in der Prävention von Gewalt und Missbrauch sowie zur Förderung der psychischen Gesundheit und eines sicheren Umgangs bei auftretenden psychischen Problemen und Erkrankungen, in Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge, evidenzbasiert und Leitlinien- und Konsensus-konform, in einer dann erst gesamtmedizinischen Versorgung.
Der Prävention und Förderung der psychischen Gesundheit kommt im Leistungssport eine grosse Bedeutung zu, genauso aber natürlich auch in der Allgemeinbevölkerung. Häufig geht dies bei der Betrachtung psychischer Erkrankungen und der Psychiatrie und Psychotherapie vergessen. Prävention ist wie Diagnostik, Therapie und Nachsorge genuine ärztliche Aufgabe und Tätigkeit, die alle Aspekte ärztlichen Handelns durchziehen sollte.
Die Schlussfolgerungen im Mental Health in Elite Athletes: International Olympic Committee Consensus Statement (2019) stellen in bemerkenswerter Klarheit die Bedeutung der psychischen Gesundheit im Leistungssport heraus:3 Psychische Symptome und Erkrankungen sollten wie andere medizinische Erkrankungen betrachtet werden. Die Fürsorge der psychischen Gesundheit sollte alltäglich und der Zugang zur bestmöglichen interdisziplinären Fürsorge sollte gewährleistet sein. Dies gilt selbstredend nicht nur für den Leistungssport, sondern genauso für die Allgemeinbevölkerung.
Die Hoffnungen und Wünsche in Hinblick auf Sport und Bewegung für die Prävention und Therapie psychischer Erkrankungen schliessen eine zunehmende Akzeptanz und Aufnahme dieser in den Präventions- und Therapiekonzepten psychischer Erkrankungen mit ein sowie die Hoffnung, dass die empirische Basis von Sport und Bewegung in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis in den nächsten Jahren weiter zunehmen wird.
Danksagung
Bedanken möchten wir uns bei allen für das Vertrauen und die Unterstützung der Arbeit des SGSPP-Vorstandes und Mitgestaltung der Sportpsychiatrie und -psychotherapie in der Schweiz.
Wir wünschen Ihnen und Ihrem Umfeld alles Gute und Gesundheit sowie – trotz aller Unwägbarkeiten in diesen Zeiten – eine schöne Weihnachtszeit und einen guten Start in 2021. Bleiben Sie gesund!
Sportliche Grüsse
Malte Christian Claussen
Präsident SGSPP,
im Namen des SGSPP-Vorstandes
Autor:
Dr. med. Malte Christian Claussen
Präsident SGSPP
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Privatklinik Wyss AG und
Psychiatrische Dienste Graubünden
E-Mail: malte.claussen@pukzh.ch
◾19
Literatur:
1Reardon CL et al.: Mental health in elite athletes: International Olympic Committee consensus statement. Br J Sports Med 2019; 53(11): 667-99 2 DGPPN, BÄK, KBV, AWMF: S3-Leitlinie/Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression – Langfassung. 2. Auflage, Version 5. 2015 3 Imboden C et al.: Swiss Society for Sports Psychiatry and Psychotherapy SSSPP. Position Paper: Physical activity and mental health. Sport & Exercise Medicine Switzerland 2020; 68 (3): 14-18 4 Ngamsri T et al.: Körperliche Aktivität und sportliche Bewegung bei Demenz. Swiss Sports & Exercise Medicine 2019; 67(4): 11-5 5 Claussen MC et al.: SGSPP-Curriculum Sportpsychiatrie und -psychotherapie: Stufe 1. Schweizerische Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie (SGSPP). Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother 2020; 171: w03111 6 Claussen MC et al.: Swiss Society for Sports Psychiatry and Psychotherapy SSSPP. Position paper: Mental health in competive sport. Sport & Exercise Medicine Switzerland 2020; 68 (3): 9-12 7 Mountjoy M et al.: International Olympic Committee consensus statement: harassment and abuse (non-accidental violence) in sport. Br J Sports Med 2016; 50(17): 1019-29
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