Postpartale Blutung im Fokus
Autorin:
Dr. med. Evelin Beizermann
Past-President Junges Forum SGGG
Oberärztin GZO Wetzikon
E-Mail: evelin.beizermann@gzo.ch
Wenn sich die Sonne über dem Tafelberg erhebt und das goldene Licht über Kapstadt legt, ahnt man kaum, dass sich hier im Oktober 2025 mehr als 8000 Fachpersonen aus über 130 Ländern versammelt haben, um über das Leben zu sprechen – genauer: über das Leben von Frauen, Müttern und Neugeborenen. Der 25. FIGO World Congress of Gynecology and Obstetrics wurde zu einem globalen Brennpunkt für Hoffnung, Wissenschaft und Engagement.
Unter dem Motto «Advancing Women’s Health: A Journey of Unity and Freedom» spannte der Kongress einen Bogen von Forschung bis hin zur Gesundheitspolitik, von Hightech-Operationsmethoden bis zu Basisgesundheitsversorgung in ländlichen Regionen weltweit. Das Programm war so vielfältig wie die Frauen, deren Gesundheit im Mittelpunkt steht. Über 400 wissenschaftliche Sitzungen, 150 Posterpräsentationen und Dutzende praxisorientierte Workshops boten Einblicke in die neuesten Entwicklungen. In zahlreichen Panels wurden neueste Erkenntnisse aus Grundlagenforschung und klinischer Praxis diskutiert – etwa zur Rolle der Mikrobiota in der reproduktiven Gesundheit, zur Epigenetik der Frühgeburtlichkeit, zu KI-gestützter pränataler Diagnostik, nichtinvasiver Tumorüberwachung in der Gynäkoonkologie und zu neuen Perspektiven der Endometriosetherapie.
Zentraler Schwerpunkt aber war in diesem Jahr die Bekämpfung der postpartalen Blutung (PPH) – einer der Hauptgründe, warum weltweit noch immer jede 11. Minute eine Frau an Komplikationen bei der Geburt stirbt.
PPH im Fokus: wenn Geburt zur Gefahr wird
Die postpartale Blutung («postpartum haemorrhage», PPH) ist eine der ältesten und zugleich aktuellsten Herausforderungen der Geburtshilfe. Lange galt sie als unvermeidbarer Schicksalsschlag – heute weiss man: in über 80% der Fälle wäre sie vermeidbar. PPH bezeichnet den Blutverlust von über 500ml nach vaginaler Geburt oder über 1000ml nach Kaiserschnitt. Neuere Definitionen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der FIGO schlagen jedoch eine frühere Erkennungsschwelle vor – bereits ab 300ml Blutverlust kombiniert mit klinischen Symptomen wie Tachykardie oder Hypotonie. Warum das wichtig ist? Weil jede Minute zählt: Innerhalb von 10 bis 15 Minuten kann eine unbehandelte PPH zum Kreislaufversagen führen. Medizinisch betrachtet beruht die Mehrzahl der PPH-Fälle auf den sogenannten «4 Ts»:
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Tone – Uterusatonie (mangelhafte Kontraktion der Gebärmutter, etwa nach Mehrlingsgeburten oder langer Wehentätigkeit)
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Tissue – Plazentareste oder Fehlbildungen
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Trauma – Geburtsverletzungen, Dammrisse, Uterusrupturen
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Thrombin – Gerinnungsstörungen
Ein zentrales Ergebnis des Kongresses war die Präsentation aktualisierter internationaler Leitlinien zur Prävention und Behandlung der PPH, die gemeinsam von FIGO, ICM und WHO erarbeitet wurden. Herzstück der Empfehlungen ist das sogenannte «MOTIVE-Bundle», ein standardisierter Massnahmenkatalog für das geburtshilfliche Notfallmanagement:
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M – Massage des Uterus zur Stimulierung der Kontraktion
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O – Oxytocika (oder Alternativen wie Carbetocin, Misoprostol)
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T – Tranexamsäure (TXA) innerhalb von 3 Stunden nach Geburtsende
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IV – intravenöse Flüssigkeitstherapie zur Stabilisierung
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E – Evaluation/Eskalation: Untersuchung auf Verletzungen, Plazentareste, ggf. chirurgisches Vorgehen
In Ländern mit niedrigem Einkommen wurden zudem innovative Lowtech-Lösungen vorgestellt – etwa wiederverwendbare, kalibrierte Blutauffangbeutel zur objektiven Messung oder der Einsatz von nichtpneumatischen Anti-Schock-Garments, die Blutverlust temporär kompensieren können.
Der erste Welt-PPH-Tag: ein Signal an die Welt
In einer feierlichen Zeremonie am 5. Oktober 2025 wurde in Kapstadt der erste «World Postpartum Haemorrhage Day» ausgerufen. Initiiert von FIGO, der International Confederation of Midwives (ICM) und der WHO, soll er jedes Jahr daran erinnern, dass jede Blutung, die erkannt und behandelt werden kann, ein Leben retten kann. Die nun ehemalige FIGO-Präsidentin Dr. med. Anne-Beatrice Kihara betonte in ihrer Eröffnungsrede: «PPH ist kein unausweichliches Schicksal. Es ist ein Versagen der Systeme. Und Systeme kann man verändern.» Die Veranstaltung mündete in die «Cape Town Declaration on Maternal Survival», ein internationales Commitment zur Verbesserung von Notfallversorgung, Medikamentenzugang und Hebammenausbildung.
Neben Dr. Kihara prägten weitere bekannte Stimmen den Kongress, unter anderem sprach Prof. Frank Louwen (Goethe-Universität Frankfurt) – der neue Präsident der FIGO – über «Geburtshilfe im Spannungsfeld zwischen High-Tech und Hands-on».
Ein weiteres zentrales Thema, das beim Weltkongress 2025 grosse Aufmerksamkeit fand, war die «female genital mutilation» (FGM). Diese Praxis – definiert als jede teilweise oder vollständige Entfernung der äusseren weiblichen Genitalien oder andere Verletzungen der weiblichen Genitalorgane aus nichtmedizinischen Gründen – betrifft mehr als 230 Millionen Mädchen und Frauen weltweit.
Beim Kongress wurde hervorgehoben, dass FGM nicht nur in klassischen Hochprävalenz-Regionen Afrikas praktiziert wird, sondern durch Migration und Diaspora-Bevölkerungen zunehmend auch in Europa, Nordamerika und Australien relevant ist. Zudem wurde über den wachsenden Trend der sogenannten «Medikalisierung» von FGM diskutiert – also der Durchführung durch medizinisches Personal, was laut World Health Organization nicht nur die Praxis legitimieren könne, sondern auch die globale Bekämpfung erschwere.
Der wissenschaftliche Diskurs konzentrierte insbesondere in Bezug auf die sofortigen und langfristigen Komplikationen von FGM, etwa im Bereich der Geburtshilfe, Gynäkologie, Urologie, Sexual- und psychischen Gesundheit. Es wurden Strategien zur Prävention diskutiert, hier insbesondere gemeinschaftsbasierte Interventionen, Einbindung von Experten, Bildung von Jugendlichen und intersektorale Ansätze. Die Verantwortung des Gesundheitswesens: Ärztinnen und Ärzte, Hebammen und weitere Fachkräfte wurden dazu ermutigt, nicht nur FGM zu behandeln und betroffene Frauen zu betreuen, sondern aktiv Präventionspartner zu sein und sich klar gegen die Durchführung von FGM zu positionieren.
Durch diese Fokussierung schuf der Kongress Awareness nicht nur für Länder mit traditioneller Praxis, sondern auch für jene Staaten, in denen FGM bislang weniger Präsenz hatte – etwa durch Migration betroffene Gesellschaften. Damit wurde ein globaler Ansatz unterstrichen: FGM ist nicht ausschliesslich eine Gesundheitsfrage afrikanischer Länder, sondern eine Menschenrechts- und Public-Health-Herausforderung im weltweiten Kontext.
Zwischen Wissenschaft und Kultur – das soziale Programm
FIGO 2025 war bei Weitem mehr als nur Daten und Studien. Das soziale Programm verband Medizin mit Menschlichkeit und brachte einen jeden Teilnehmenden näher an die Kultur Südafrikas.
Den Auftakt bildete ein Kennenlernabend, der den internationalen Delegierten die Gelegenheit bot, in entspannter Atmosphäre Kontakte zu knüpfen, Erfahrungen auszutauschen und Brücken zwischen Kulturen zu schlagen. Ein weiteres starkes Zeichen setzte der Marsch für Frauen «We walk against violence against women», der somit das Thema Gewalt gegen Frauen in den Mittelpunkt rückte und die globale Solidarität sichtbar machte. Ein starkes Statement für die Rechte und Würde jeder Frau.
Den festlichen Abschluss des Kongresses bildete ein Galaabend, der mit einem vielfältigen Programm die kulturelle Seele Südafrikas lebendig werden liess. Die Gäste konnten traditionelle afrikanische Kopftücher binden, ihre Gesichter mit kulturell inspirierten Mustern bemalen und an Tänzen teilnehmen, die von Rhythmen lokaler Instrumente getragen wurden. Ein besonderes Highlight des Abends war der Auftritt der weltberühmten Sängerin Zolani Mahola, die internationale Bekanntheit unter anderem durch ihren gemeinsamen Performance-Auftritt mit Shakira beim FIFA World Cup 2010 erlangte, als sie zusammen den Song «Waka Waka (This Time for Africa)» performten. Ihre kraftvolle Stimme und ihre warme Bühnenpräsenz gaben dem Abend einen emotionalen Höhepunkt. Dieser Abend war weit mehr als ein gesellschaftliches Ereignis – er war ein Symbol für Einheit, Respekt und die gemeinsame Vision einer besseren Zukunft für Frauen weltweit.
Fazit: ein Kongress als Wendepunkt
Der FIGO-Weltkongress 2025 hat Maßstäbe gesetzt. Er zeigte, dass Wissenschaft und Empathie keine Gegensätze sind. Dass globale Zusammenarbeit nicht bei Resolutionen endet, sondern in konkreten Handlungsempfehlungen mündet. Der XXVI. FIGO-Weltkongress wird in Montréal, Kanada, vom 31. Oktober bis 5. November 2027 stattfinden und verspricht ein aussergewöhnliches Ereignis zu werden.
Quelle:
FIGO-Weltkongress, 5. bis 9. Oktober 2025 in Kapstadt, Südafrika
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