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Diabetes und Psyche

Wenn Patienten an ihre Belastungsgrenze kommen

<p class="article-intro">In der Reihe „persönlich gefragt“ kommen Menschen zu Wort, die mit persönlichem Engagement besondere Projekte für Patienten mit Diabetes vorantreiben. Dieses Mal sprachen wir mit Prim. Dr. Heidemarie Abrahamian über ihr langjähriges Engagement hinsichtlich psychosozialer Aspekte in der Diabetologie.</p> <hr /> <p class="article-content"><p><em><strong>Sehr geehrte Frau Primaria Abrahamian, Sie haben die Bedeutung von psychischen Belastungen und Erkrankungen f&uuml;r die Entstehung und den Verlauf des Diabetes bereits sehr fr&uuml;h thematisiert. Wie ist es zu diesem Interesse gekommen? </strong></em><br /><em><strong>H. Abrahamian:</strong></em> Mir ist bereits w&auml;hrend meiner Ausbildung zur Internistin und Diabetologin aufgefallen, dass die Psyche bei vielen Patienten eine wesentlich gr&ouml;&szlig;ere Rolle spielt, als uns bewusst war. Speziell bei Personen mit Diabetes, bei denen die vereinbarten Ziele &uuml;ber l&auml;ngere Zeitr&auml;ume aufgrund einer mangelhaften Therapieadh&auml;renz nicht zu erreichen waren, ist mir relativ schnell klar geworden, dass sich dahinter h&auml;ufig nicht Schwierigkeiten im Verst&auml;ndnis oder Wissen, sondern ein psychisches Problem verbergen kann. Die Patienten hatten ja die Diabetesschulungen durchlaufen und es wurde auch versucht, die Betroffenen im Sinne des Empowerments zu unterst&uuml;tzen. Es hat sich gezeigt, dass bei vielen dieser Patienten eine psychische &Uuml;berforderung im Hintergrund wirkte, sodass sie sich den Herausforderungen der Erkrankung nicht mehr stellen konnten. Die Patienten haben sich dann zur&uuml;ckgezogen und sich nicht mehr um die Krankheit gek&uuml;mmert.</p> <p><em><strong>Also weniger ein Nichtwollen als vielmehr ein Nichtk&ouml;nnen? </strong></em><br /><em><strong>H. Abrahamian:</strong></em> Ja, das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Ich habe gesehen, dass die Diabeteseinstellung wesentlich besser funktionierte, wenn man hinter die Fassade der Nichtadh&auml;renz schaut. Dann wurden diese &Uuml;berforderungen transparent und konnten konkret adressiert werden. Daher habe ich psychische Probleme der Patienten zunehmend in den Fokus genommen und eine Ausbildung sowohl in psychosomatischer Medizin als auch in Verhaltenstherapie absolviert.</p> <p><em><strong>Welches sind die im Bereich der Diabetologie wichtigsten psychischen Herausforderungen? </strong></em><br /><em><strong>H. Abrahamian:</strong></em> Bezogen auf die H&auml;ufigkeit sind dies sicherlich der Diabetes- Disstress, der bei rund 40 % der Betroffenen auftritt, die Depression bzw. depressive Episoden, die rund ein Viertel der Patienten betreffen, und Angstst&ouml;rungen. Wir gehen davon aus, dass bei rund 20 % der Menschen mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes im Laufe des Lebens eine generalisierte Angstst&ouml;rung zu finden ist. Einen weiteren wichtigen Aspekt stellen die kognitiven Defizite dar.</p> <p><em><strong>Entstehen diese Probleme durch Diabetes oder f&ouml;rdern sie die Entstehung von Diabetes? </strong></em><br /><em><strong>H. Abrahamian:</strong> </em>Meistens geht es in beide Richtungen. Am besten erforscht ist sicherlich der Zusammenhang zwischen Depression und Diabetes. Diese Beziehung ist klar bidirektional. Das hei&szlig;t, Menschen mit Diabetes entwickeln h&auml;ufiger eine Depression als Nichtdiabetiker und depressive Personen haben ein erh&ouml;htes Risiko, Diabetes zu manifestieren. Eine &auml;ngstliche Pers&ouml;nlichkeit wiederum erleichtert das Angehen einer psychischen &Uuml;berforderung, wenn Belastungen auftreten. Eine generalisierte Angstst&ouml;rung ist dar&uuml;ber hinaus ein Pr&auml;diktor f&uuml;r Injektionsangst und Angst vor Hypoglyk&auml;mien. Gerade Letztere k&ouml;nnen sehr einschneidend sein. Es kann Stunden bis Tage dauern, bis sich die Betroffenen nach einer Hypoglyk&auml;mie psychisch einigerma&szlig;en erholt haben. Andere Diabetesspezifische &Auml;ngste beziehen sich auf die Krankheitsprogression, auf Komplikationen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall oder darauf, die therapeutischen Vorgaben nicht zu erreichen. Das Auslassen von Insulininjektionen oder das Vergessen von Mahlzeiten im Rahmen von Ged&auml;chtnisst&ouml;rungen kann sich gerade bei Personen mit Diabetes sehr dramatisch auswirken. Psychische Belastungen und St&ouml;rungen k&ouml;nnen jedenfalls die F&auml;higkeit der Betroffenen, ihre Erkrankung ad&auml;quat zu managen, deutlich beeintr&auml;chtigen und das Risiko sowohl f&uuml;r mikro- und makrovaskul&auml;re Komplikationen als auch f&uuml;r die Sterblichkeit erh&ouml;hen.</p> <p><em><strong>Sie haben den Begriff &bdquo;Diabetes-Disstress&ldquo; erw&auml;hnt. Worum handelt es sich dabei konkret? </strong></em><br /><em><strong>H. Abrahamian:</strong> </em>Diabetes ist keine einfach zu bew&auml;ltigende Erkrankung. Medikamenteneinnahme bzw. deren Applikation, Dosisanpassungen, Blutzuckerkontrollen, Ern&auml;hrungsvorgaben und Empfehlungen bez&uuml;glich k&ouml;rperlicher Aktivit&auml;t sind langfristig im Auge zu behalten und umzusetzen und stellen dauerhaft hohe Anforderungen an die Betroffenen.<br /> &bdquo;Diabetes-Disstress&ldquo; ist ein Begriff, der &uuml;bersetzt so viel wie &bdquo;psychische bzw. emotionale Belastung durch Diabetes mellitus&ldquo; bedeutet und der je nach Auspr&auml;gung die emotionale und kognitive Bew&auml;ltigung dieser Stoffwechselerkrankung durch die individuelle Pers&ouml;nlichkeit bewertet. Er beinhaltet Sorgen, Bedenken und &Auml;ngste, die mit einer chronischen, fordernden und progredienten Erkrankung wie Diabetes assoziiert sind. Patienten mit hohem Disstress kommen also schlechter mit den Anforderungen dieser Erkrankung zurecht.<br /> Genauer hinschauen sollte man vor allem bei jenen Patienten, bei denen man den Eindruck gewinnt, dass sie ihre Krankheit verstehen und sie durchaus in ihr Leben integrieren k&ouml;nnten, die aber dennoch ihre Therapieziele nicht erreichen. Hier ist die mangelnde Adh&auml;renz nicht ein Widerstand gegen den Arzt oder die Therapie per se, sondern ein Symptom als Ausdruck der &Uuml;berforderung &ndash; ein Hilfeschrei, den wir nicht &uuml;berh&ouml;ren sollten. Wir wissen ja auch aus Studien, dass die kognitive und emotionale Belastungsgrenze der Betroffenen oft &uuml;berschritten wird, wenn der Hintergrundstress schon hoch ist, z.B. wenn Arbeitslosigkeit in der Familie herrscht und dann die Diagnose eines Diabetes dazukommt.</p> <p><em><strong>Gibt es standardisierte Werkzeuge zur Erfassung von Diabetes-Disstress?</strong></em><br /><em><strong> H. Abrahamian:</strong></em> International gibt es zahlreiche verschiedene Scores zur Erfassung des Diabetes-Disstress. Als Beispiele seien hier der Diabetes Distress Screener 2 (DDS2), die Diabetes Distress Scale 17 (DDS17) und die Problem Areas in Diabetes (PAID) Scale erw&auml;hnt. Man kann solche internationalen Scores verwenden. Ich denke aber, dass es n&ouml;tig w&auml;re, einen eigenen deutschsprachigen Score zu entwickeln und zu evaluieren, der sowohl depressive Symptome, &Auml;ngste und Diabetes-Disstress als auch kognitive Beeintr&auml;chtigungen erfasst. Derzeit liegt das Hauptaugenmerk aber sicher auf einer tiefgehenden Exploration der Patientin oder des Patienten.</p> <p><em><strong>Braucht es eine Verbesserung der Schnittstellen f&uuml;r die Betreuung dieser Patienten?</strong></em><br /><em><strong> H. Abrahamian:</strong></em> Es bedarf eher einer Senkung der Hemmschwelle, die Schnittstellen zu nutzen. So scheuen sich beispielsweise viele Patienten, aber auch &Auml;rztinnen und &Auml;rzte, Psychotherapeuten hinzuzuziehen. Psychotherapie kann aber gerade bei Erkrankungen, welche die Betroffenen oft an die Grenze ihrer Belastbarkeit bringen, eine sehr gro&szlig;e St&uuml;tze sein. Ein multidisziplin&auml;rer Zugang verbessert in diesen F&auml;llen einerseits das Wohlbefinden der Betroffenen und kann andererseits das Diabetesmanagement deutlich erleichtern. Auch die Diabetesberatung k&ouml;nnte hinsichtlich psychosozialer Aspekte mehr Bedeutung erlangen. Oft geht es ja nur um ein gut gef&uuml;hrtes Entlastungsgespr&auml;ch und daf&uuml;r ist keine mehrj&auml;hrige Ausbildung notwendig. Viele Diabetesberater k&ouml;nnen das sehr gut.</p> <p><em><strong>Im Dezember 2018 wurde der &bdquo;Ausschuss f&uuml;r Psychosoziale Aspekte bei Diabetes mellitus&ldquo; der &Ouml;sterreichischen Diabetes Gesellschaft (&Ouml;DG) rekonstituiert. Was sind dessen konkrete Ziele?</strong></em><br /><em><strong> H. Abrahamian:</strong></em> Uns von der &Ouml;sterreichischen Diabetes Gesellschaft ist es ein Anliegen, die Bedeutung der psychischen und sozialen Situation der Betroffenen f&uuml;r den Verlauf und die Bew&auml;ltigung dieser chronischen und fordernden Erkrankung in gr&ouml;&szlig;erem Ausma&szlig; ins Bewusstsein zu bringen. Neben dieser Awareness-Bildung geht es uns aber auch ganz konkret um die Ausbildung in diesem Bereich und nat&uuml;rlich auch um die Schaffung entsprechender Ressourcen (Tab. 1).<br /> Pers&ouml;nlich w&uuml;rde ich mir eine erh&ouml;hte Achtsamkeit bez&uuml;glich des Vorliegens psychosozialer Belastungen bei Patienten mit Diabetes w&uuml;nschen, wie sie mittlerweile ja in den internationalen und auch in den &Ouml;DG-Leitlinien verankert ist. Andererseits w&auml;re es mir ein gro&szlig;es Anliegen, dass die Betroffenen bei Vorliegen psychosozialer Belastungen auch dar&uuml;ber sprechen und die notwendige Unterst&uuml;tzung erhalten.</p> <p><em><strong>Vielen Dank f&uuml;r das Gespr&auml;ch!</strong></em></p> <p><em><strong><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Diabetes_1901_Weblinks_jatros_dia_1901_s51_tab1_abrahamian.jpg" alt="" width="650" height="393" /></strong></em></p></p>
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