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Wenn Patienten an ihre Belastungsgrenze kommen
Jatros
30
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07.03.2019
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<p class="article-intro">In der Reihe „persönlich gefragt“ kommen Menschen zu Wort, die mit persönlichem Engagement besondere Projekte für Patienten mit Diabetes vorantreiben. Dieses Mal sprachen wir mit Prim. Dr. Heidemarie Abrahamian über ihr langjähriges Engagement hinsichtlich psychosozialer Aspekte in der Diabetologie.</p>
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<p class="article-content"><p><em><strong>Sehr geehrte Frau Primaria Abrahamian, Sie haben die Bedeutung von psychischen Belastungen und Erkrankungen für die Entstehung und den Verlauf des Diabetes bereits sehr früh thematisiert. Wie ist es zu diesem Interesse gekommen? </strong></em><br /><em><strong>H. Abrahamian:</strong></em> Mir ist bereits während meiner Ausbildung zur Internistin und Diabetologin aufgefallen, dass die Psyche bei vielen Patienten eine wesentlich größere Rolle spielt, als uns bewusst war. Speziell bei Personen mit Diabetes, bei denen die vereinbarten Ziele über längere Zeiträume aufgrund einer mangelhaften Therapieadhärenz nicht zu erreichen waren, ist mir relativ schnell klar geworden, dass sich dahinter häufig nicht Schwierigkeiten im Verständnis oder Wissen, sondern ein psychisches Problem verbergen kann. Die Patienten hatten ja die Diabetesschulungen durchlaufen und es wurde auch versucht, die Betroffenen im Sinne des Empowerments zu unterstützen. Es hat sich gezeigt, dass bei vielen dieser Patienten eine psychische Überforderung im Hintergrund wirkte, sodass sie sich den Herausforderungen der Erkrankung nicht mehr stellen konnten. Die Patienten haben sich dann zurückgezogen und sich nicht mehr um die Krankheit gekümmert.</p> <p><em><strong>Also weniger ein Nichtwollen als vielmehr ein Nichtkönnen? </strong></em><br /><em><strong>H. Abrahamian:</strong></em> Ja, das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Ich habe gesehen, dass die Diabeteseinstellung wesentlich besser funktionierte, wenn man hinter die Fassade der Nichtadhärenz schaut. Dann wurden diese Überforderungen transparent und konnten konkret adressiert werden. Daher habe ich psychische Probleme der Patienten zunehmend in den Fokus genommen und eine Ausbildung sowohl in psychosomatischer Medizin als auch in Verhaltenstherapie absolviert.</p> <p><em><strong>Welches sind die im Bereich der Diabetologie wichtigsten psychischen Herausforderungen? </strong></em><br /><em><strong>H. Abrahamian:</strong></em> Bezogen auf die Häufigkeit sind dies sicherlich der Diabetes- Disstress, der bei rund 40 % der Betroffenen auftritt, die Depression bzw. depressive Episoden, die rund ein Viertel der Patienten betreffen, und Angststörungen. Wir gehen davon aus, dass bei rund 20 % der Menschen mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes im Laufe des Lebens eine generalisierte Angststörung zu finden ist. Einen weiteren wichtigen Aspekt stellen die kognitiven Defizite dar.</p> <p><em><strong>Entstehen diese Probleme durch Diabetes oder fördern sie die Entstehung von Diabetes? </strong></em><br /><em><strong>H. Abrahamian:</strong> </em>Meistens geht es in beide Richtungen. Am besten erforscht ist sicherlich der Zusammenhang zwischen Depression und Diabetes. Diese Beziehung ist klar bidirektional. Das heißt, Menschen mit Diabetes entwickeln häufiger eine Depression als Nichtdiabetiker und depressive Personen haben ein erhöhtes Risiko, Diabetes zu manifestieren. Eine ängstliche Persönlichkeit wiederum erleichtert das Angehen einer psychischen Überforderung, wenn Belastungen auftreten. Eine generalisierte Angststörung ist darüber hinaus ein Prädiktor für Injektionsangst und Angst vor Hypoglykämien. Gerade Letztere können sehr einschneidend sein. Es kann Stunden bis Tage dauern, bis sich die Betroffenen nach einer Hypoglykämie psychisch einigermaßen erholt haben. Andere Diabetesspezifische Ängste beziehen sich auf die Krankheitsprogression, auf Komplikationen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall oder darauf, die therapeutischen Vorgaben nicht zu erreichen. Das Auslassen von Insulininjektionen oder das Vergessen von Mahlzeiten im Rahmen von Gedächtnisstörungen kann sich gerade bei Personen mit Diabetes sehr dramatisch auswirken. Psychische Belastungen und Störungen können jedenfalls die Fähigkeit der Betroffenen, ihre Erkrankung adäquat zu managen, deutlich beeinträchtigen und das Risiko sowohl für mikro- und makrovaskuläre Komplikationen als auch für die Sterblichkeit erhöhen.</p> <p><em><strong>Sie haben den Begriff „Diabetes-Disstress“ erwähnt. Worum handelt es sich dabei konkret? </strong></em><br /><em><strong>H. Abrahamian:</strong> </em>Diabetes ist keine einfach zu bewältigende Erkrankung. Medikamenteneinnahme bzw. deren Applikation, Dosisanpassungen, Blutzuckerkontrollen, Ernährungsvorgaben und Empfehlungen bezüglich körperlicher Aktivität sind langfristig im Auge zu behalten und umzusetzen und stellen dauerhaft hohe Anforderungen an die Betroffenen.<br /> „Diabetes-Disstress“ ist ein Begriff, der übersetzt so viel wie „psychische bzw. emotionale Belastung durch Diabetes mellitus“ bedeutet und der je nach Ausprägung die emotionale und kognitive Bewältigung dieser Stoffwechselerkrankung durch die individuelle Persönlichkeit bewertet. Er beinhaltet Sorgen, Bedenken und Ängste, die mit einer chronischen, fordernden und progredienten Erkrankung wie Diabetes assoziiert sind. Patienten mit hohem Disstress kommen also schlechter mit den Anforderungen dieser Erkrankung zurecht.<br /> Genauer hinschauen sollte man vor allem bei jenen Patienten, bei denen man den Eindruck gewinnt, dass sie ihre Krankheit verstehen und sie durchaus in ihr Leben integrieren könnten, die aber dennoch ihre Therapieziele nicht erreichen. Hier ist die mangelnde Adhärenz nicht ein Widerstand gegen den Arzt oder die Therapie per se, sondern ein Symptom als Ausdruck der Überforderung – ein Hilfeschrei, den wir nicht überhören sollten. Wir wissen ja auch aus Studien, dass die kognitive und emotionale Belastungsgrenze der Betroffenen oft überschritten wird, wenn der Hintergrundstress schon hoch ist, z.B. wenn Arbeitslosigkeit in der Familie herrscht und dann die Diagnose eines Diabetes dazukommt.</p> <p><em><strong>Gibt es standardisierte Werkzeuge zur Erfassung von Diabetes-Disstress?</strong></em><br /><em><strong> H. Abrahamian:</strong></em> International gibt es zahlreiche verschiedene Scores zur Erfassung des Diabetes-Disstress. Als Beispiele seien hier der Diabetes Distress Screener 2 (DDS2), die Diabetes Distress Scale 17 (DDS17) und die Problem Areas in Diabetes (PAID) Scale erwähnt. Man kann solche internationalen Scores verwenden. Ich denke aber, dass es nötig wäre, einen eigenen deutschsprachigen Score zu entwickeln und zu evaluieren, der sowohl depressive Symptome, Ängste und Diabetes-Disstress als auch kognitive Beeinträchtigungen erfasst. Derzeit liegt das Hauptaugenmerk aber sicher auf einer tiefgehenden Exploration der Patientin oder des Patienten.</p> <p><em><strong>Braucht es eine Verbesserung der Schnittstellen für die Betreuung dieser Patienten?</strong></em><br /><em><strong> H. Abrahamian:</strong></em> Es bedarf eher einer Senkung der Hemmschwelle, die Schnittstellen zu nutzen. So scheuen sich beispielsweise viele Patienten, aber auch Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeuten hinzuzuziehen. Psychotherapie kann aber gerade bei Erkrankungen, welche die Betroffenen oft an die Grenze ihrer Belastbarkeit bringen, eine sehr große Stütze sein. Ein multidisziplinärer Zugang verbessert in diesen Fällen einerseits das Wohlbefinden der Betroffenen und kann andererseits das Diabetesmanagement deutlich erleichtern. Auch die Diabetesberatung könnte hinsichtlich psychosozialer Aspekte mehr Bedeutung erlangen. Oft geht es ja nur um ein gut geführtes Entlastungsgespräch und dafür ist keine mehrjährige Ausbildung notwendig. Viele Diabetesberater können das sehr gut.</p> <p><em><strong>Im Dezember 2018 wurde der „Ausschuss für Psychosoziale Aspekte bei Diabetes mellitus“ der Österreichischen Diabetes Gesellschaft (ÖDG) rekonstituiert. Was sind dessen konkrete Ziele?</strong></em><br /><em><strong> H. Abrahamian:</strong></em> Uns von der Österreichischen Diabetes Gesellschaft ist es ein Anliegen, die Bedeutung der psychischen und sozialen Situation der Betroffenen für den Verlauf und die Bewältigung dieser chronischen und fordernden Erkrankung in größerem Ausmaß ins Bewusstsein zu bringen. Neben dieser Awareness-Bildung geht es uns aber auch ganz konkret um die Ausbildung in diesem Bereich und natürlich auch um die Schaffung entsprechender Ressourcen (Tab. 1).<br /> Persönlich würde ich mir eine erhöhte Achtsamkeit bezüglich des Vorliegens psychosozialer Belastungen bei Patienten mit Diabetes wünschen, wie sie mittlerweile ja in den internationalen und auch in den ÖDG-Leitlinien verankert ist. Andererseits wäre es mir ein großes Anliegen, dass die Betroffenen bei Vorliegen psychosozialer Belastungen auch darüber sprechen und die notwendige Unterstützung erhalten.</p> <p><em><strong>Vielen Dank für das Gespräch!</strong></em></p> <p><em><strong><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Diabetes_1901_Weblinks_jatros_dia_1901_s51_tab1_abrahamian.jpg" alt="" width="650" height="393" /></strong></em></p></p>
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