
Sicherheitsprofil von GLP-1-Rezeptor-Agonisten: was Internist:innen wissen sollten
Autoren:
PD Dr. med. Georgios Schoretsanitis1,2
Dr. med. Ulrich Egermann3
PD Dr. med. Dr. phil. Stefan Weiler4,5
1 The Zucker Hillside Hospital, Department of Psychiatry, Northwell Health, Glen Oaks, und Department of Psychiatry, Zucker School of Medicine at Northwell/Hofstra
Hempstead, Glen Oaks, NY, USA
2 Department Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Universität Zürich
3 Kompetenzzentrum für Innere Medizin und Stoffwechsel, Winterthur
4 Institut für Hausarztmedizin, Universitätsspital und Universität Zürich
5 Pharmakoepidemiologie, Institut für Pharmazeutische Wissenschaften, Department Chemie und angewandte Biowissenschaften
ETH Zürich
Korrespondenz:
PD Dr. med. Dr. phil. Stefan Weiler
E-Mail: stefan.weiler@uzh.ch
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In den letzten Jahren hat die rasante Verbreitung von Glucagon-like peptide-1(GLP-1)-Rezeptor-Agonisten wie Semaglutid und Liraglutid die Behandlung von Adipositas revolutioniert. Ursprünglich für Typ-2-Diabetes entwickelt, werden sie aufgrund ihrer gewichtsreduzierenden Wirkung zunehmend als Lifestyle-Medikamente genutzt. Doch neue Untersuchungen und Warnungen werfen nun Fragen zu möglichen Nebenwirkungen wie suizidalen Gedanken auf, was eine umfassende Überprüfung durch globale Gesundheitsbehörden ausgelöst hat.
Keypoints
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Semaglutid und Liraglutid, ursprünglich zur Behandlung von Typ-2-Diabetes eingeführt, werden oft wegen ihrer gewichtsreduzierenden Eigenschaften verschrieben.
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Eine aktuelle Studie aus JAMA Network Open weist auf ein überproportional erhöhtes Risiko für suizidale Gedanken bei der Anwendung von Semaglutid hin. Diese Assoziation blieb signifikant, auch im Vergleich zu anderen Medikamenten wie Dapagliflozin und Metformin.
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Das Risiko für suizidale Gedanken war besonders ausgeprägt bei Personen, die gleichzeitig Antidepressiva oder Benzodiazepine einnahmen.
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Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen Semaglutid und suizidalen Gedanken dringend weiter untersucht werden sollte.
GLP-1-Rezeptor-Agonisten
GLP-1-Rezeptor-Agonisten (GLP-1-RA), wie Semaglutid und Liraglutid, wurden ursprünglich als Zweit- oder Drittlinientherapie bei Diabetes eingeführt, wenn Metformin oder andere Antidiabetika unzureichend wirkten. Während ihrer Entwicklung zeigte sich ihr Potenzial als Appetitzügler, was später bestätigt wurde. Verschiedene GLP-1-RA sind derzeit im Bereich der Adipositastherapie in Verwendung (Tab.1). Als realistisches Ziel der Gewichtsreduktionen durch Verhaltensinterventionen nimmt man etwa 5% des Ausgangsgewichts an. Im Rahmen des Adipositasmanagements kommen verschiedene nichtpharmakologische Ansätze zum Einsatz, die individuell kombiniert werden können. Dazu gehören die Optimierung von Schlaf, Stressbewältigung und Zeitmanagement sowie ernährungsbezogene Massnahmen. Regelmässige körperliche Aktivität spielt eine zentrale Rolle, unterstützt durch psychologische Betreuung, die Verhaltensänderungen fördert und die langfristige Adhärenz stärkt. Für manche Patient:innen mit schwerer Adipositas kommt die bariatrische Chirurgie als effektive Option infrage. Diese multimodalen Strategien ermöglichen eine umfassende und nachhaltige Behandlung gemäss den Richtlinien. Jedoch sind die GLP-1-RA immer häufiger als Anti-Adipositas-Medikamente in Verwendung.1–4 Semaglutid (Ozempic® und Rybelsus® für Diabetes mellitus Typ 2, Wegovy® für Gewichtsreduktion) erhielt kürzlich die Zulassung zur Gewichtsabnahme bei Adipositas (BMI >30kg/m2) oder Übergewicht (BMI >27kg/m2) plus kardiovaskuläre Risikofaktoren, was einen deutlichen Anstieg der Verschreibungen zur Folge hatte. Parallel förderten soziale Netzwerke die Nachfrage. Trotz guter Verträglichkeit in randomisierten klinischen Studien und dokumentierter positiver Effekte auf verschiedene Parameter, wie Nierenerkrankungen oder Tumorleiden, wirft der exponentielle Anstieg der Anwendung Sicherheitsfragen in Bezug auf seltene Nebenwirkungen auf – auch in Bezug auf die Volksgesundheit.
Tab. 1: GLP-1-Rezeptor-Agonisten zur Gewichtsreduktion zusammen mit diätetischen Massnahmen und sportlicher Aktivität
Psychiatrische Sicherheitsbedenken
Aktuelle Sicherheitsbedenken zu GLP-1-RA betreffen ein mögliches erhöhtes Risiko für depressive Symptome und Suizidalität. Patient:innen mit Adipositas haben ein erhöhtes Risiko für depressive Störungen, während Depression die Wahrscheinlichkeit von Adipositas erhöht.5 Diese bidirektionale Beziehung zwischen Adipositas und Depression erschwert die Risikoabschätzung, und Patient:innen mit psychiatrischer Vorgeschichte wurden in Studien oft ausgeschlossen. In Phase-II- oder Phase-III-Studien mit GLP-1-RA wurde ein gewisses Ungleichgewicht bei depressiven Symptomen festgestellt, ohne jedoch statistische Signifikanz zu erreichen. Eine grosse Kohortenstudie anhand von Real-World-Daten fand kein erhöhtes Suizidalitätsrisiko unter Semaglutid-Nutzer:innen.6 Die Autor:innen empfahlen aber trotzdem, bei psychiatrisch vorbelasteten Patient:innen Vorsicht walten zu lassen. Belege für das Risiko für Suizidgedanken stammen vorwiegend aus Pharmakovigilanz-Daten, welche jedoch auch widersprüchliche Ergebnisse liefern: Einige Analysen zeigen ein Signal für suizidale Gedanken, andere nicht. Eine US-amerikanische Studie, die die Pharmakovigilanz-Datenbank der US-amerikanischen Behörde FDA nutzte, deutet darauf hin, dass bei Verwendung von Semaglutid und Liraglutid häufiger suizidale Gedanken und suizidale Depression gemeldet wurden als erwartet.7 Eine andere Studie fand keine Verbindung zwischen Suizidalität und GLP-1-RA.8 Jedoch wurde auch gleichzeitig empfohlen, bei der Verwendung von GLP-1-RA sicherheitshalber auf den psychiatrischen Zustand von Patient:innen mit einer Vorgeschichte von Neuropsychopharmaka zu achten. Methodische Variabilitäten und selektive Berichterstattung könnten diese Diskrepanzen zwischen den Studien erklären.
In einer kürzlich in JAMA Network Open veröffentlichten Studie analysierten Schoretsanitis et al. zum ersten Mal die globalen Datenbanken der Weltgesundheitsorganisation (WHO), indem verschiedene Methoden angewendet und zahlreiche Sensitivitätsanalysen durchführt wurden.9 Die Datenbank sammelt gemeldete Nebenwirkungen aus 140 Ländern und bietet so eine Grundlage zur Abschätzung seltener, aber ernsthafter Risiken im Zusammenhang mit bestimmten Medikamenten. Die Studie dokumentierte, dass von mehr als 30500 Patient:innen, die Semaglutid einnahmen, 107 Patient:innen von suizidalen Gedanken berichteten. Im Vergleich dazu gab es 162 ähnliche Berichte bei über 52000 Anwender:innen von Liraglutid.
Diese Meldungen führten zu einem Hinweis («disproportionality signal») auf ein möglicherweise erhöhtes Risiko für suizidale Gedanken bei der Einnahme von Semaglutid im Vergleich zu anderen Medikamenten dieser Klasse und zu sämtlichen Medikamenten in der Datenbank. Insgesamt war das Risiko für Suizidgedanken bei Semaglutid-Anwender:innen etwa 45% höher als bei der Kontrollgruppe. Das Signal wurde im Zusammenhang mit Semaglutid, jedoch nicht mit Liraglutid gefunden. Insbesondere Patient:innen, die gleichzeitig Antidepressiva einnehmen, scheinen besonders gefährdet zu sein: Ein auffälliger Befund der Studie war dabei das 4-fach erhöhte Risiko von Patient:innen, die Semaglutid zusammen mit Antidepressiva oder Anxiolytika einnahmen. Dies lässt vermuten, dass besonders Patient:innen mit einer bestehenden psychischen Vorerkrankung empfindlich auf die stimmungsverändernden Effekte von Semaglutid reagieren könnten. Wurde die Gruppe der Patient:innen, die gleichzeitig Antidepressiva einnahmen, aus der Analyse ausgeschlossen, verschwand der Zusammenhang zwischen Semaglutid und Suizidgedanken.
In einer weiteren Studie basierend auf den Daten der WHO VigiBase ergab sich ein gemischtes Muster in Bezug auf Suizidalität und GLP-1-RA: Während einige Agonisten mit vermehrten Berichten über suizidale Gedanken und Verhalten assoziiert waren, zeigten andere eine signifikant reduzierte Berichterstattung über Suizidversuche und vollendete Suizide.10 Für Semaglutid und Liraglutid war in Übereinstimmung mit Schoretsanitis et al. ein erhöhtes Risiko für Aspekte der Suizidalität festgestellt worden.
Eine grosse Kohortenstudie analysierte ebenfalls den Zusammenhang zwischen der Einnahme von GLP-1-RA (Liraglutid und Semaglutid) und dem Risiko für psychiatrische Erkrankungen wie Depression, Angst und Suizidverhalten bei Patient:innen mit Adipositas.11 Patient:innen unter GLP-1-RA zeigten ein um 195% erhöhtes Risiko für schwere Depressionen, ein um 108% erhöhtes Risiko für Angststörungen und ein um 106% erhöhtes Risiko für suizidales Verhalten.
Diese Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit spezifischer Studien in diesem Patient:innenkollektiv. Obwohl sie sehr selten sind, rufen Fälle von Patient:innen, die unter suizidalen Gedanken litten und nach dem Absetzen des GLP-1-RA eine Verbesserung, nach der Wiedereinführung jedoch wieder eine Verschlechterung erfuhren, zu Vorsicht auf.
Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) und die FDA haben als Reaktion auf die Meldungen über suizidale Gedanken in Zusammenhang mit GLP-1-RA im Jahr 2023 eingehende Untersuchungen eingeleitet. Die EMA kam in ihrer Überprüfung zu dem Schluss, dass die bisherige Evidenz keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Semaglutid und einem erhöhten Suizidrisiko belegt. Ähnlich äusserte sich die FDA: Auch wenn die Behörde derzeit keine schlüssigen Beweise für ein erhöhtes Risiko durch GLP-1-RA vorlegen konnte, konnte sie ein geringes Risiko nicht vollständig ausschliessen, da die Anzahl der gemeldeten Fälle zu gering für belastbare Statistiken war. Die Behörden setzen ihre Untersuchungen fort und arbeiten untereinander eng zusammen, um mögliche Risiken zu evaluieren. In einer Stellungnahme betonte die FDA, dass die Ergebnisse dieser Überprüfungen eine wichtige Rolle in der zukünftigen Regulierung der verschreibungspflichtigen Medikamente spielen könnten. Eine genaue Klärung des Zusammenhangs zwischen GLP-1-RA und suizidalen Gedanken ist jedoch aufgrund der komplexen Wechselwirkungen und der individuellen Reaktionen der Patient:innen eine grosse Herausforderung.
Schlussfolgerungen für Spezialist:innen und Allgemeinmediziner:innen
Für Internist:innen und andere Fachärzt:innen ergeben sich aus den Studienergebnissen und behördlichen Warnungen einige wichtige klinische Implikationen. Da GLP-1-RA mittlerweile weit verbreitet sind und viele Patient:innen mit Typ-2-Diabetes und Adipositas diese Medikamente regelmässig einnehmen, ist eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung erforderlich. Depressive Symptome oder Suizidalität sind selten, aber extrem schwerwiegend und müssen so weit wie möglich verhindert und behandelt werden. Bis präzisere Daten verfügbar sind, sollten GLP-1-RA und Appetitzügler im Allgemeinen bei Patient:innen mit einer Vorgeschichte von affektiven Störungen oder Suizidversuchen mit grosser Vorsicht verschrieben werden, insbesondere bei gleichzeitiger Einnahme von Antidepressiva oder Anxiolytika. Für diese Patient:innengruppe kann eine regelmässige Überwachung der psychischen Gesundheit mit Einbezug von Fachpersonen aus dem psychiatrischen bzw. psychologischen Bereich angebracht sein, um mögliche Veränderungen des Gemütszustands frühzeitig zu erkennen und gegebenenfalls eine Anpassung der Therapie in Erwägung zu ziehen. Bei Patient:innen mit neu auftretenden depressiven Symptomen ohne offensichtliche andere Auslöser sollte das sofortige Absetzen der GLP-1-RA in Betracht gezogen werden.
Ein offenes Gespräch zu diesen genannten potenziellen psychiatrischen Risiken mit den Patient:innen ist ebenfalls ratsam, um ihnen die möglichen Risiken der Medikation verständlich zu machen und sie zur Selbstbeobachtung anzuregen. Eine frühzeitige Erkennung von Stimmungsschwankungen oder depressiven Episoden kann entscheidend zur Prävention schwerwiegender Nebenwirkungen beitragen. Die Patient:innen sollten ermutigt werden, sich bei Auftreten von psychischen Symptomen frühzeitig an ihre behandelnde Ärztin oder ihren behandelnden Arzt zu wenden.
Insgesamt bleiben die GLP-1-RA ein wertvoller Bestandteil der Behandlung von Typ-2-Diabetes und Adipositas. Wie jedes wirksame Arzneimittel weisen auch diese Substanzen ein gewisses Nebenwirkungsprofil auf. Solange keine endgültigen Beweise für einen kausalen Zusammenhang zwischen GLP-1RA und suizidalen Gedanken vorliegen, bleibt die individuelle Risikoabwägung eine Schlüsselkompetenz der behandelnden Ärztinnen und Ärzte.
Literatur:
1 Pi-Sunyer X et al.: N Engl J Med 2015; 373: 11-22 2 Wilding JPH et al.: N Engl J Med 2021; 384: 989-1002 3 Lincoff AM et al.: N Engl J Med 2023; 89: 2221-32 4 Jastreboff AM et al.: N Engl J Med 2022; 387: 205-16 5 Luppino FS et al.: Arch Gen Psychiatry 2010; 67: 220-9 6Wang W et al: Nat Med 2024; 30: 168-76 7 McIntyre RS et al.: Expert Opin Drug Saf 2024; 23: 47-55 8 Zhou J et al.: BMC Med 2024; 22: 65 9Schoretsanitis G et al.: JAMA Netw Open 2024; 7: e2423385 10 McIntyre RS et al.: J Affect Disord 2025: 369: 922-7 11 Kornelius E et al.: Sci Rep 2024; 14: 24433