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Adipositastherapie

Psychologische Aspekte der multimodalen Adipositastherapie

Laut dem Institut für Höhere Studien leiden in Österreich etwa 1,2Millionen Menschen (2022) unter einer Adipositaserkrankung, mit steigender Prävalenz in zunehmendem Alter. Psychologische Aspekte spielen ätiologisch und in der multimodalen Behandlung der Adipositas eine wichtige Rolle.

KeyPoints

  • Multimodale Adipositastherapieprogramme beinhalten an Betroffene und deren Situation angepasste verhaltenstherapeutisch ausgerichtete Maßnahmen.

  • Dabei soll nach motivationaler Zielklärung eine systematische Verhaltensänderung herbeigeführt werden.

  • Zielesind die Sensibilisierung für ein andauerndes bewusstes Essverhalten sowie ein individuelles Nachsorgekonzept zur langfristigen Gewichtsstabilisierung.

Adipositas ist eine chronische Erkrankung mit einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität und einer höheren Prävalenz an komorbiden psychischen Störungen.1

Psychoätiologie der Adipositas

An der Entstehung von Übergewicht sind u.a. Sozialisationsbedingungen, individuelle Lernerfahrungen, Auftreten akuter oder chronischer Belastungen sowie dysfunktionale Stressverarbeitungsmuster beteiligt. Bei einer Subgruppe adipöser Menschen ist eine vorwiegend psychische Genese zu finden, bei ihnen dient die Nahrungsaufnahme neben der Sättigung einer Regulation von Affekten.2 Dabei spielen die Koppelung von negativen emotionalen Zuständen und der Nahrungsaufnahme („Eltern trösten ihre Kinder durch das Angebot von Süßigkeiten“) sowie habitualisierte Handlungen im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme zum Zweck der Spannungsabfuhr und des temporären Aufschubs dysphorischer Gefühle eine wesentliche Rolle.

Multimodale Adipositastherapie

Aufgrund der multifaktoriellen Ätiologie der Adipositas vor dem Hintergrund eines biopsychosozialen Krankheitsmodells ist die Grundlage einer Adipositastherapie ein multimodaler Therapieansatz mit einer Kombination aus Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie sowie einer komorbiditätsorientierten unterstützenden medizinischen Begleitung. An spezialisierten Zentren werden multimodale Programme mit einer Phase der Gewichtsreduktion und auch die langfristige Stabilisierung des Körpergewichts für übergewichtige Menschen angeboten. Bisher evaluierte Programme, die Patienten langfristig begleiten, zeigen inbesondere bei Implementierung einer entsprechenden Gewichtsstabilisierungsphase einen höheren Gewichtserhalt im Vergleich zu Kontrollgruppen ohne eine multimodale Weiterbetreuung.3 Ein wesentlicher Bestandteil einesProgramms zur Gewichtsreduktion ist eine an die Betroffenen und ihre Situation angepasste verhaltenstherapeutisch-verhaltensmodifizierende Intervention.

Verhaltenstherapie bei Adipositas im multimodalen Therapieansatz

Ziele verhaltenstherapeutischer Interventionen in der Adipositastherapie sind systematische Änderungen des Verhaltens, das zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Adipositas beiträgt. Im Vorfeld der Planung einer verhaltenstherapeutischen Therapie sollten individuelle Bereiche der Betroffenen eruiert werden. Dazu zählen die Vorgeschichte (Gewichtsentwicklung, frühere Erfahrungen mit Abnehmversuchen, Stigmatisierungserfahrungen, Selbstwert etc.), die Motivationslage, soziale Bedingungen (Partnerschaft und Familie, Freunde, Arbeitsplatz, Freizeitgestaltung etc.) sowie die Rolle und Funktion der Nahrungsaufnahme (z.B. Entspannung, Belohnung etc.) der Betroffenen. Dabei gilt es, einige Aspekte auf Ebene der Motivation des Betroffenen für die Gewichtsabnahme zu klären:

  • Gründe für eine Gewichtsabnahme

  • Bereitschaft für andauernde Verhaltensänderung

  • Reflexion bisheriger Gewichtsreduktionsversuche

  • Besprechung eines subjektiven Erklärungsmodells für die Entstehung des Übergewichts

  • Beleuchtung möglicher verhaltensveränderungshemmender und -unterstützender Faktoren sowie von zur Verfügung stehenden Ressourcen

  • Perspektive auf mögliche Auswirkungen durch eine Gewichtsabnahme

  • Veränderungen von Lebensbereichen

Insbesondere perspektivische Folgen einer Gewichtsreduktion für Patienten und die Umgebung (Familie, Partnerschaft etc.) und der Verlust vertrauter Verhaltensmuster sollten zur Vermeidung von Widerständen kritisch reflektiert werden. Eine Unterstützung der Therapie durch Familienmitglieder, Freunde etc. steigert die therapeutische Effektivität. Wenn v.a. Partner die Therapie nicht unterstützen, sind häufig Konflikte und/oder Veränderungswiderstände bis hin zum Therapieabbruch die Folge.

Realistische und erfolgversprechende Ziele, die intrinsisch zur Veränderung einer Unzufriedenheit, einer bestehenden Situation oder als Reaktion auf bestimmte Auslöser dienen, steigern die Motivation der Patienten, wenn Erfolge erreicht wurden. In der Klärung konkreter Ziele differieren diese häufig zwischen Patienten und Behandlern. Viele adipöse Patienten haben eine längere Behandlungsvorgeschichte mit Frustrationserlebnissen hinsichtlich einer langfristig stabilen Gewichtsreduktion. Zu Behandlungsbeginn bestehen bei Betroffenen häufig unrealistische gewichtsbezogene Ziele, aber auch Ziele bezogen auf die körperliche und psychische Gesundheit sowie die soziale Entwicklung. Die Definition realistischer Ziele ist für einen erfolgreichen Start und Verlauf einer Adipositastherapie von entscheidender Bedeutung.

Ziele sollten spezifisch, attraktiv, realistisch und terminiert definiert und an individuelle Bedingungen wie Komorbiditäten angepasst werden. Dabei sollten regelmäßige Zielüberprüfungen betont und die Möglichkeit von Zieladaptationen im Behandlungsverlauf angeboten werden. Bei Zielüberprüfungen und -adaptationen stehen individuelle Ressourcen der Patienten immer stärker im Vordergrundals die Gewichtsreduktion. In den unterschiedlichen Phasen der Adipositastherapie (Phase der Gewichtsreduktion, Phase der Umstellung und Stabilisierungsphase) kommen individuell eingesetzte und auf den Kontext bezogene verhaltenstherapeutische Interventionen und Strategien zum Einsatz.4,5

Phase der Gewichtsreduktion

Die Phase der Gewichtsreduktion steigert durch den internal attribuierten Erfolg der Körpergewichtsreduktion (infolge von Kalorien- und Gewichtskontrolle) das Selbstwirksamkeitserleben der Betroffenen. V.a. nach zahlreichen Erfahrungen mit nur kurzfristig erfolgreichen Gewichtsreduktionsversuchen kann ein solches Selbstwirksamkeitserleben die Motivation für eine langfristige Gewichtsstabilisierung stärken. Über Selbstbeobachtungsstrategien, wie das Führen von Tagebüchern, werden in dieser Phase auslösende und aufrechterhaltende Bedingungen erkannt.Durch Identifizierung dysfunktionaler Gedanken, u.a. häufig einer stigmageleiteten Überzeugung, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Adipositas beiträgt, können diese im Sinne einer Modifizierung dysfunktionaler Gedankenmuster durch kognitive Umstrukturierung zugänglich gemacht werden. Patienten berichten in dieser Phase über ihre Erfahrungen mit verdeckter oder offener Stigmatisierung, wie beispielsweise häufig für ihr Übergewicht verantwortlich gemacht und mit negativen Stereotypien der Faulheit und Undiszipliniertheit konfrontiert worden zu sein.2 Dadurch entstandene oder geförderte soziale Schwierigkeiten oder Probleme im Umgang mit Personen zählen häufig zu aufrechterhaltenden Bedingungen für die Adipositas. Das gruppentherapeutische Setting kann bei der Reflexion von Beziehungsinteraktionen Training und Einüben von alternativen Interaktions- und Handlungsstrategien für individuell schwierige Situationen fördern – im Sinne eines sozialen Kompetenztrainings.

Phase der Umstellung

Im Fokus der Umstellungsphase steht das Erlernen neuer Essverhaltensmuster durch flexible Kontrolle. Verhaltenstherapeutische Methoden in dieser Phase sind u.a. die Einübung eines flexibel kontrollierten Essverhaltens sowie die Stimuluskontrolle. Zudem fördert eine Auflösung der vorwiegend kognitiv gesteuerten Essverhaltensmuster die Wahrnehmung von Hunger und Sättigung. In der flexiblen Kontrolle werden neu erlernte Verhaltensmuster nicht wie häufig in vorangegangenen Diäterfahrungen als zeitlich begrenzte Diätstrategien erlebt. Sie sind langfristige stabile Strategien mit Kompensationsmöglichkeiten (Verhaltensspielräume, Genuss vielfältiger Lebensmittel etc.), um die Aufrechterhaltung der Verhaltenskontrolle zu fördern.6 Rigide kontrollierte Diäten fördern durch den Wechsel von Phasen strenger diätbezogener Kontrolle und Phasen unkontrollierten Essverhaltens die Aufrechterhaltung oder Entstehung von Essstörungen, die mit der Adipositas in Verbindung stehen. Adipositasassoziierte Essstörungen sind vor allem das „binge eating“ und das „night eating“. Die „Bingeeating“-Störung (BES)ist durch ein Gefühl des Verlustes der Kontrolle über das Essverhalten durch wiederholte Episoden von Essanfällen sowie eine erhöhte allgemeine Psychopathologie (v.a. Depressivität) gekennzeichnet.7 Sie findet sich bei bis zu 30% von Teilnehmenden von Gewichtsreduktionsprogrammen, wovon zwei Drittel weiblich sind).2 Die Stimuluskontrolle dient dem Erlernen von Strategien im Umgang mit Nahrungsmitteln. So können vorausgehende Reizbedingungen, die das Verhalten beeinflussen, kontrolliert werden und das gewünschte Zielverhalten, wie beispielsweise Einkaufen bei Sättigung, geregelte Essenszeiten, Vermeidung von Medienkonsum und Ablenkungen beim Essen zur Förderung einer bewusst erlebten Esssituation, wird bestärkt.8

Stabilisierungsphase und Rückfallprävention

Die Stabilisierungsphase ist geprägt von dem Ziel, das bereits reduzierte Gewicht stabil zu halten und neue erlernte Verhaltensmuster nach erfolgreicher Verhaltensmodifikation durch gezielte Problemlöse- und Verstärkerstrategien aufrechtzuerhalten. Zudem sollten in dieser Phase Strategien für den Umgang mit wieder ansteigendem Gewicht sowie für einen Rückfall in alte Verhaltensmuster erarbeitet werden. Im Vordergrund der Rückfallprävention stehen eine Sensibilisierung für ein andauerndes bewusstes Essverhalten sowie die Empfehlung geeigneter Maßnahmen zur langfristigen Gewichtsstabilisierung. Dazu bedarf es der Erarbeitung eines individuellen Konzepts und einer multimodalen Nachsorge beispielsweise in Form spezieller Nachsorgeprogramme.

1 Baumeister H, Harter M: Mental disorders in patients with obesity in comparison with healthy probands. Int J Obes 2007; 31(7): 1155-64 2 De Zwaan M et al.: Adipositas. 7. Auflage. München: Urban & Fischer in Elsevier, 2011. 841-50 3 Ross Middleton KM et al.: The impact of extended care on the long-term maintenance of weight loss: a systematic review and meta-analysis. Obes Rev 2012; 13(6): 509-17 4 Shaw K et al.: Psychological interventions for overweight or obesity. Cochrane Database Syst Rev 2005; (2): CD003818 5 Teufel M et al.: Psychotherapy and obesity: strategies, challenges and possibilities. Nervenarzt 2011; 82(9): 1133-9 6 Ellrott T: Psychologie der Ernährung. Aktuel Ernahrungsmed 2012; 37(155): 167 7 American Psychiatric Association (APA): Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. 4. Edition. Washington DC: American Psychiatric Association, 1994 8 Hautzinger M: Stimuluskontrolle. Verhaltenstherapiemanual. 4. Auflage. Berlin, Heidelberg: Springer Verlag, 2000

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