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Ist es Zeit für eine neue Diabetesklassifikation?
Jatros
30
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30.03.2017
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<p class="article-intro">Eine spannende Publikation in „Diabetes Care“ 2016 hat die aktuelle Klassifikation zur Diskussion gestellt und die Frage aufgeworfen, ob Diabetes nicht anders definiert werden sollte. Natürlich stellt sich die Frage, wozu? Was hat das mit dem Patienten in der Praxis zu tun? Mehr, als es auf den ersten Blick scheint.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Es gibt Diabetiker, die phänotypisch der aktuellen Klassifikation zufolge Merkmale mehrerer Diabetestypen haben.</li> <li>Durch Berücksichtigung von Betazellfunktion, Autoimmunität und Insulinresistenz könnte man die Pathogenese von Diabetes und die Prognose exakter zuordnen.</li> <li>Neue Diabetesdefinitionen könnten individualisierte Therapiemodelle ermöglichen.</li> </ul> </div> <p>Die Klassifikation einer Krankheit trägt dazu bei, das Verständnis für deren Ätiologie, deren Pathophysiologie, den Krankheitsverlauf, die Krankheitsfolgen und nicht zuletzt auch für die Therapie klarzulegen.<br />„Idealerweise lässt sich eine Krankheit durch kategorische Eigenschaften genau definieren“, erklärt Univ.-Prof. Dr. Thomas Wascher, 1. Medizinische Abteilung, Hanusch-Krankenhaus, Wien. Die Klassifikationen der Diabetestypen wurden in den aktuellen Diabetesleitlinien der ÖDG publiziert (Tab. 1). Betrachtet man diese Klassifikationen im Hinblick auf den klinischen Alltag näher, ergeben sich bei LADA und „double diabetes“ spannende Fragestellungen. „Unser aktuelles diabetisches Axiom lautet: Ohne dysfunktionelle Betazelle bzw. ohne dysfunktionelle Insulinsekretion gibt es keinen Diabetes. Daher wäre es legitim, bei der Definition von Diabetes über die Rolle der Betazelle nachzudenken“, so Wascher, „es gilt das hyperbolische Gesetz der Normoglykämie.“ Wie Abbildung 1 zeigt, liegen Menschen mit normaler Glukosetoleranz (NGT) in einem Diagramm bezüglich Insulinsensitivität und Betafunktion auf einer Hyperbelfunktion, Menschen mit verminderter Glukosetoleranz (IGT) etwas unter der Hyperbel; bei Typ-2-Diabetikern ist jedoch kein solcher Zusammenhang erkennbar.<sup>1</sup> Der Typ-2-Diabetiker ist aber nicht insulinresistenter als die Menschen, die den beiden anderen Klassen zugerechnet werden, sondern produziert erheblich weniger Insulin als diese.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Diabetes_1701_Weblinks_s11.jpg" alt="" width="686" height="989" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Diabetes_1701_Weblinks_s12.jpg" alt="" width="2187" height="852" /></p> <h2>Genetik des Diabetes in Richtung Reklassifikation</h2> <p>Reviewstudien, die das Genom von Diabetikern untersucht haben, kommen zu dem Schluss, dass viele Gendefekte bei Diabetikern mit der Insulinsekretion, der Betazellfunktion und der Inselzellfunktion assoziiert sind, jedoch relativ wenige Gendefekte bei Diabetikern mit Genen assoziiert sind, die mit Insulinresistenz zu tun haben. „Genetisch bestimmend für einen Typ-2-Diabetes ist also in erster Linie der Einfluss unserer Gene auf die Insulinsekretion“, bringt es Wascher auf den Punkt. Mit der aktuellen Diabetesklassifikation schreiben wir bestimmten Diabetikertypen auch konkrete Eigenschaften zu. So wird z.B. der klassische Typ-1-Diabetiker folgendermaßen gesehen: Er ist nicht adipös, eher jünger bei der Manifestation, weist als wichtigen Punkt eine Autoimmunität auf, aber kein metabolisches Syndrom und hat dabei eine nur geringe Insulinproduktion. Beim Typ-2-Diabetiker ist es quasi umgekehrt, wobei hier die Störung der Insulinwirkung mit zunächst meist relativem Insulinmangel der charakteristische Faktor ist. Ein LADA-Patient bewegt sich zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes. Was bedeutet dies für eine eventuelle Neudefinition des Diabetes? „Im Hinterkopf müssen wir dabei behalten, was für uns am Anfang stand: Die Klassifikation ist wichtig, damit wir eine bestimmte Erkrankung charakterisieren können, und sie ist wichtig für unsere Therapie“, ruft Wascher in Erinnerung.</p> <h2>Passt LADA in die Klassifikation des Typ-1-Diabetes?</h2> <p>„Epidemiologisch ist der Typ-1-Diabetes eine Erkrankung im Kindes- und jungen Erwachsenenalter, wobei der Gipfel der Manifestation zwischen dem 6. und dem 15. Lebensjahr liegt. Aber auch bei den etwa 40-Jährigen treten pro 100 000 Patientenjahre etwa zehn Manifestationen auf. Diese Rate bleibt bis zum sechsten Lebensjahrzehnt konstant“, erklärt Wascher den Verlauf der Manifestation des Typ-1-Diabetes.<sup>2</sup> Bei diesen Patienten ist ein schwerer Insulinsekretionsdefekt nachweisbar, der eine unmittelbare Insulintherapie notwendig macht. Parallel dazu steigt natürlich auch die Zahl von Typ-2-Diabetikern. In einer Studie von Laugensen et al wurden Patientenpopulationen untersucht, die als solche Typ-2-Diabetiker klassifiziert worden waren. Bei diesen Patienten sollten definitionsgemäß keine Antikörper gegen Betazellen vorhanden sein. Herausgefunden wurde aber, dass der Anteil von Patienten mit Antikörpern in den untersuchten Populationen zwischen 5 und 15 % liegt.<sup>3</sup><br />Wie die Insulinsekretion bei Menschen mit Typ-1-Diabetes, solchen mit Typ-2-Diabetes und bei Menschen mit LADA aussieht, wurde in Studien, die durch das LADA-Konsortium publiziert wurden, analysiert. Es zeigte sich, dass bei der Manifestation des Typ-1-Diabetes die C-Peptid-Werte sehr niedrig sind und im Verlauf weiter sinken. Nach 10 Jahren ist der C-Peptid-Wert null. Typ-2-Diabetiker starten bei Manifestation mit einer höheren Sekretionsleistung, wobei diese über die Jahre hinweg ebenfalls abnimmt, aber bei Weitem nicht null ist. Patienten mit einer LADA-Klassifikation liegen beim C-Peptid-Wert zwischen dem von Typ-1-Diabetikern und dem von Typ-2-Diabetikern. Auffallend ist, dass die Bandbreite für die durch den C-Peptid-Wert charakterisierte Sekretionsleistung der Betazelle bei LADA-Diabetikern sehr groß ist.<br />„Phänotypisch ist klar, wann ein LADA-Patient eine Insulintherapie benötigt und wann nicht. Betrachtet man LADA-Diabetiker ohne Insulintherapie, so haben diese eine Insulinproduktion wie Typ-2-Diabetiker ohne Insulintherapie“, zieht Wascher den Vergleich. Eine spannende Arbeit von Juhl et al aus dem LADA-Konsortium legt nahe, dass der LADA-Diabetes nichts mit T1D zu tun hat, sondern dass der LADA-Diabetes eine spezielle Form des T2D sein könnte.<sup>4</sup> Das Resultat einer gewichtsgematchten Analyse der Patienten war, dass die Sekretionsleistung der LADA-Diabetiker vergleichbar mit der der Typ-2-Diabetiker war. Zum Schluss stellt sich also die Frage, ob LADA mit der aktuellen Klassifikation wirklich gut beschrieben ist und ob die darauf basierende Strategie für den Patienten auch richtig ist.</p> <h2>„Double diabetes“</h2> <p>Aufgrund des westlichen Lebensstils weisen Typ-1-Diabetiker mit zunehmendem Lebensalter immer häufiger auch Eigenschaften von Typ-2-Diabetikern auf. Dies führt auch zu einer Veränderung des kardiovaskulären Risikos von Typ-1-Diabetikern. Ob sich viel oder wenig koronarer Kalk entwickelt, hängt von der Glukosekontrolle ab. Darüber hinaus spielen auch Facetten des metabolischen Syndroms (Hypertonie, Hypercholesterinämie, Waist-to-Hip-Ratio) eine Rolle. Zu dieser Thematik wurde eine Studie an 31 000 deutschen Typ-1-Diabetikern durchgeführt: Es stellte sich heraus, dass bei 25 % der Teilnehmer ein metabolisches Syndrom vorliegt.<sup>5</sup> Bei diesen Teilnehmern wurden deutlich mehr Komplikationen gefunden als bei Typ-1-Diabetikern ohne metabolisches Syndrom. Typisch sind: KHK, Insult, diabetischer Fuß, Retinopathie, aber auch eine Nephropathie. „Es besteht die Gefahr, dass wir diese Risiken übersehen, wenn wir den Diabetes so sehen, wie wir es derzeit tun“, warnte Wascher.</p> <h2>Diabetesklassifikation – eine Dreiecksbeziehung</h2> <p>„Wenn man davon ausgeht, dass ein Sekretionsdefekt im Zentrum jeder Diabetesform steht, könnten wir Diabetes anhand eines Dreiecks klassifizieren“, schlägt Wascher vor. Wie die Abbildung 2 zeigt, könnten die künftigen Klassifikationskriterien folgende sein: Autoimmunität, T-Zell-Aktivierung, hohe oder niedrige Insulinsensitivität sowie der C-Peptid-Wert zum Manifestationszeitpunkt. Diese und noch zusätzliche andere Parameter können beschreiben, wann der Patient eine Insulintherapie benötigt und zugleich wie groß sein Risiko für Komplikationen ist.</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: 44. ÖDG-Jahrestagung, 17.–19. November 2016, Salzburg
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Stummvoll M et al: Diabetologia 2004; 47: 770-81 <strong>2</strong> Diaz-Valencia PA et al: BMC Public Health 2015; 15: 255 <strong>3</strong> Laugesen E et al: Diabet Med 2015; 32(7): 843-52 <strong>4</strong> Juhl CB et al: Diabet Med 2014; 31(8): 941-5 <strong>5</strong> Merger SR et al: Diabetes Res Clin Pract 2016; 119: 48-56 <strong>6</strong> Schwartz SS et al: Diabetes Care 2016; 39(2): 179-86</p>
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