
©
Getty Images
Insulintherapie – einfache Konzepte für die Praxis
Jatros
Autor:
Prim. Priv.-Doz. Dr. Harald Stingl
Abteilung für Innere Medizin<br> Landesklinikum Melk<br> E-Mail: harald.stingl@meduniwien.ac.at
30
Min. Lesezeit
04.05.2017
Weiterempfehlen
<p class="article-intro">In der Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2 steht zu Recht die Reduktion der Insulinresistenz durch Lebensstilmaßnahmen und Medikamente im Vordergrund. Diabetes ist aber auch eine (zu Beginn nur „relative“) Insulinmangelerkrankung, kommt es doch zu erhöhten Blutzuckerwerten bei ungenügender Insulinsekretion. Im langjährigen Verlauf der Erkrankung ist daher aufgrund des zunehmenden Insulinmangels bei sehr vielen Patienten schließlich eine Insulintherapie notwendig, wenn die körpereigene Sekretion nicht mehr ausreicht.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Der Beginn einer Insulintherapie sollte nicht unnötig verzögert werden.</li> <li>Bereits bei Beginn einer Insulintherapie kann gemeinsam mit dem Patienten das für ihn optimale Therapieschema (BOT, MOT) ausgewählt werden.</li> <li>In den meisten Fällen ist eine Intensivierung der Therapie (>1x tgl. Insulin, prandialer Anteil) nötig. Auch bei Intensivierung der Therapie spielt das Patientenbild eine wesentliche Rolle.</li> <li>Auch eine schrittweise Intensivierung führt zum Ziel und ermöglicht dem Patienten eine kontinuierliche Erweiterung der Therapie, ohne ihn zu überfordern.</li> </ul> </div> <h2>Wenn orale Antidiabetika nicht ausreichen</h2> <p>Leider ist aus vielen Krankheitsverläufen ersichtlich, dass trotz monate- oder jahrelang zu hoher HbA<sub>1c</sub>-Werte bei bereits ausgereizter oraler Mehrfachtherapie keine Insulintherapie begonnen wird. Zu groß sind die Bedenken sowohl bei Patienten („Abhängigkeit vom Spritzen“, „Spritzen bis zum Tod“) als auch bei Ärzten (Schulungsaufwand, Hypoglykämiegefahr). Es ist daher wichtig, durch einfache, praktikable Konzepte Ängste abzubauen. Gerade die Kombination aus einer einfach gehaltenen Insulintherapie und oralen Antidiabetika kann die Glykämie ohne großen Aufwand deutlich verbessern.<br /> Nach den Leitlinien der Österreichischen Diabetes Gesellschaft besteht eine Indikation zur Insulintherapie bei Typ- 2-Diabetes, wenn durch Lebensstilmaßnahmen und orale Antidiabetika (bzw. GLP-1-Rezeptoragonisten) das individuelle Therapieziel nicht erreicht werden kann.<sup>1</sup> Als Faustregel kann somit gelten, dass eine Insulintherapie immer dann indiziert ist, wenn die angestrebte Blutzuckerkontrolle unter den oben genannten Voraussetzungen nicht erreicht werden kann, jedenfalls aber ab einem HbA1c von >8 % . Gleiches gilt für wiederholte Anstiege der Nüchternglukose auf >180mg/dl. Als Zielwerte sollten unter einer Insulintherapie eine Nüchternglukose von <130mg/dl (ideal: <110mg/dl) und postprandial <180mg/dl erreicht werden, wobei diese Zielwerte je nach individueller Situation anzupassen sind (Komorbiditäten, Hypoglykämieneigung, Alter).</p> <h2>Einfacher Einstieg: BOT oder MOT</h2> <p><strong>Basalinsulin-unterstützte orale Therapie (BOT)</strong><br /> Die Basalinsulin-unterstützte orale Therapie (BOT) gilt als einfachste und bereits vielfach erprobte Möglichkeit zur initialen Insulinisierung bei Typ-2-Diabetikern. Üblicherweise wird als Insulin ein NPH-Insulin verschrieben, da die verfügbaren lang wirksamen Insulinanaloga (trotz durchaus guter Wirksamkeit) laut österreichischem Regeltext erst bei dokumentierten, wiederholten nächtlichen Hypoglykämien refundiert werden. In der BOT zielt die Insulintherapie vorwiegend auf die Normalisierung des Nüchternblutzuckers ab, während die Kontrolle des prandialen Blutzuckers durch die vorhandene Betazellreserve (unterstützt durch orale antidiabetische Medikation) erfolgt.<br /> Die Vorteile der BOT liegen im einfachen Einstieg und im geringen Schulungsaufwand. Für die Anpassung der Insulindosis reicht im Wesentlichen eine morgendliche Blutzuckermessung aus, außerdem besteht keine Notwendigkeit zur Berechnung von Broteinheiten. Bei ausreichender Dosierung bewirkt die Erhöhung der basalen Insulinkonzentrationen eine Verminderung der endogenen Glukoseproduktion und Reduktion der freien Fettsäuren. Die verbesserte Glykämie steigert (gemeinsam mit anderen Faktoren wie z.B. der reduzierten Lipotoxizität) die Insulinsensitivität, was die Betazelle entlastet. Dies bewirkt wiederum eine verbesserte postprandiale Insulinregulation.<br /> Reicht eine BOT nicht mehr aus, wird sie durch die Zugabe von Bolusinjektionen zu einer oder zu zwei Mahlzeiten intensiviert. Als Abkürzung hat sich hier in den letzten Jahren „BOTplus“ etabliert. Eine weitere Intensivierung würde dann einer Basis-Bolus-Therapie (BBT, jede Mahlzeit mit Bolusinsulin) und danach schließlich einer funktionellen Insulintherapie (FIT) entsprechen.<br /><br /> <strong>Mischinsulin-unterstützte orale Therapie (MOT)</strong><br /> Die Mischinsulin-unterstützte orale Therapie (MOT) folgt dem gleichen Prinzip eines Beginnes mit einer einmal täglichen Insulininjektion, hier allerdings als Mischinsulin vor dem Abendessen, wobei üblicherweise ein 25- bis 30-prozentiger Mischanteil des schnell wirksamen Insulins verwendet wird. Dieser „Therapieeinstieg“ erscheint besonders bei Patienten sinnvoll, bei denen zu erwarten ist, dass sie nach der initialen Insulinisierung eine Intensivierung der Therapie (z.B. zweimal tgl. Insulin) benötigen. Im Sinne eines durchgängigen Therapiekonzeptes kann der Patient in diesem Fall den gleichen Insulintyp und Insulinpen weiterverwenden, nur die Zahl der täglichen Insulininjektionen steigt schrittweise. Eine Intensivierung erfolgt dann durch die Zugabe dieses Mischinsulins zu einer weiteren Mahlzeit (meist morgens) bis hin zur dreizeitigen Mischinsulintherapie, unter Umständen mit zwei verschiedenen Mischungsverhältnissen. In der 1-2-3-Studie erreichten mit diesem Zugang (Beginn BIAsp 30 1x tgl.; nach 16 Wochen bei Nichterreichen des Therapiezieles 2x tgl., nach weiteren 16 Wochen bei Nichterreichen des Therapiezieles 3x tgl.) immerhin insgesamt 77 % der Patienten ein HbA<sub>1c</sub> <7,0 % .<sup>2</sup><br /><br /> <strong>Niederschwelliger Therapiezugang bei BOT und MOT</strong> In beiden Fällen (BOT, MOT) ist der Therapiezugang durch die nur einmal tägliche Injektion niederschwellig, auch die Zahl der benötigten Blutzuckermessungen kann hier noch klein gehalten werden, da im Wesentlichen der Nüchternblutzucker als Grundlage für die Dosisfindung ausreicht. In diversen Studien wie jener von Garber et al<sup>3</sup> zeigt sich kein eindeutiger Vorteil der beiden Therapiezugänge hinsichtlich der HbA<sub>1c</sub>-Senkung (Abb. 1).<br /> Als Startdosis werden in beiden Fällen 0,1E/kg Körpergewicht empfohlen (meist 6–10 Einheiten Insulin). Je nach Expertise des Arztes kann diese Dosis variiert werden (z.B. nur 4–6 Einheiten bei Angst vor Hypoglykämie oder 12–14 Einheiten bei Übergewicht und ausgeprägter Insulinresistenz). Die Erfahrung zeigt, dass Ängste auf Seiten der Patienten am besten abgebaut werden können, wenn man eine kleinere Startdosis wählt und eine schrittweise Titration nach einem einfachen Algorithmus wählt.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Diabetes_1702_Weblinks_s16_abb1.jpg" alt="" width="1421" height="747" /><br /><br /> <strong>Bed-Time- vs. Dinner-Time-Insulin</strong><br /> Der optimale Injektionszeitpunkt bei der BOT ist (bedingt durch die Pharmakokinetik des NPH-Insulins) die Zeit zwischen 20.00 und 24.00 Uhr. Meist wird im Gespräch mit dem Patienten „22.00 Uhr“ oder „vor dem Schlafengehen“ vereinbart („Bed-Time-Insulin“). Welche Patienten für eine BOT in Frage kommen, lässt sich durch das Kochrezept in Tabelle 1 einfach herausfinden.<br /> Geeignet für eine MOT sind Patienten, die nach 18.00 Uhr ein kohlenhydrathaltiges Abendessen zu sich nehmen, was in Österreich meist die Regel ist; als Arzt sollte man aber die Ernährungsgewohnheiten nachfragen. Die geeigneten Patienten für eine MOT findet man durch Anwendung des Kochrezeptes 2 heraus (Tab. 2). Es ist wichtig, in der Einschulung auch darauf hinzuweisen, dass in diesem Falle das Abendessen nicht ausgelassen werden darf. Der Injektionszeitpunkt ist – bedingt durch den rasch wirksamen Anteil – direkt vor dem Abendessen („Dinner-Time-Mischinsulin“), da in den meisten Fällen Insulinanaloga verwendet werden (kein Spritz-Ess-Abstand).<br /> Es ist hilfreich, bereits zu Beginn der Insulintherapie das individuelle Patientenbild zu berücksichtigen, um auf diese Weise auch in der späteren Intensivierung ein durchgängiges Therapiekonzept zu erreichen (Abb. 2). So können Essenszeiten, Lebensstil (Tagesablauf), Motivation oder Fähigkeiten des Patienten helfen, die Therapie an den Patienten anzupassen und nicht umgekehrt (Abb. 3)!<br /> Die bisher verordneten oralen Antidiabetika werden prinzipiell unverändert weitergegeben. Vorsicht ist jedoch geboten bei Sulfonylharnstoffen – hier kann bei hohen Dosen eine Reduktion notwendig sein. Falls Patienten auch abends ein Sulfonylharnstoffpräparat einnehmen, sollte dieses abgesetzt werden, um nicht unnötig eine Hypoglykämie zu provozieren, die den Patienten verunsichert.<br /> Bedingt durch die niedrig gehaltene Startdosis, muss eine engmaschige, regelmäßige Dosisanpassung erfolgen. Nur wenige Patienten erreichen die vereinbarten Zielwerte gleich mit der Erstdosis. „Treat to target“-Konzepte wurden ursprünglich für die Titration von Basalinsulin im Rahmen der BOT entwickelt. In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass dieses Prinzip auch erfolgreich bei Mischinsulintherapie angewendet werden kann.<sup>3, 4</sup><br /> Eine Dosisanpassung etwa einmal pro Woche hat sich bewährt. Diese kann einerseits durch häufige Arzt-Patienten-Kontakte stattfinden oder durch eine mit dem Patienten vereinbarte Selbsttitration: Das Konzept basiert darauf, dass der Patient die Insulintherapie nach ärztlicher Vorgabe eigenverantwortlich anhand eines vorgegebenen Algorithmus anpasst, der die Blutzuckerwerte der letzten Tage berücksichtigt. Die in den Studien verwendeten (manchmal komplizierten) Algorithmen können selbstverständlich nach individuellen Bedürfnissen vereinfacht werden (Tab. 3). Um die Gefahr von Hypoglykämien niedrig zu halten, wird hier in kleinen Schritten (2 Einheiten) titriert. Zusätzlich hat eine Blutglukose von <70mg/ dl eine sofortige Reduktion der Insulindosis um –4 Einheiten zur Folge.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Diabetes_1702_Weblinks_s16_tab1.jpg" alt="" width="686" height="981" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Diabetes_1702_Weblinks_s16_tab2.jpg" alt="" width="686" height="981" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Diabetes_1702_Weblinks_s16_abb2.jpg" alt="" width="1454" height="997" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Diabetes_1702_Weblinks_s16_abb3.jpg" alt="" width="1454" height="982" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Diabetes_1702_Weblinks_s16_tab3.jpg" alt="" width="686" height="741" /></p> <h2>Intensivierung der Insulintherapie: 2x tgl.</h2> <p>Während ein Teil der Patienten oft über lange Zeit mit einer einmal täglichen Insulininjektion gut zurechtkommt (BOT, MOT) und die Zielwerte erreicht, ist bei anderen Patienten eine Intensivierung der Insulintherapie im Sinne einer mehrmals täglichen Injektion notwendig. Dies ist der Fall, wenn durch höhere Blutzuckerwerte untertags keine zufriedenstellende Einstellung bzw. kein Erreichen der HbA<sub>1c</sub>- Ziele möglich ist. Wie beim Beginn der Insulinisierung sollte auch bei der Intensivierung das individuelle Patientenbild bedacht werden (Abb. 4).<br /> Wie kann nun – aufbauend auf der BOT oder der MOT – eine zweite Insulindosis berechnet werden? Die Kochrezepte zur Intensivierung BOTplus (Tab. 4) bzw. der Intensivierung der MOT durch zweimalige Mischinsulingabe (Tab. 5) entsprechen einem einfachen und praktikablen Zugang:<br /> Eine Metformintherapie – wenn keine Kontraindikationen vorliegen – ist wünschenswert und sollte jedenfalls beibehalten werden. Bei allen anderen Antidiabetika muss (sofern sie in Kombination mit Insulin zugelassen sind) der Nutzen der Fortführung der Therapie im Einzelfall entschieden werden. Schließlich kann durch eine Reduktion der täglich vorgeschriebenen Tablettenzahl auch die Compliance erhöht werden.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Diabetes_1702_Weblinks_s16_abb4.jpg" alt="" width="1454" height="982" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Diabetes_1702_Weblinks_s16_tab4_5.jpg" alt="" width="1419" height="959" /></p> <h2>Limitationen für „einfache“ Insulintherapien</h2> <p>Alle beschriebenen Szenarien mit Mahlzeiten-bezogener Insulinapplikation entsprechen einer konventionellen (bzw. konventionell intensivierten) Insulintherapie, die einen konstanten Tagesablauf mit regelmäßiger Mahlzeitenverteilung und -größe als Grundlage hat. Dagegen stellen Patienten mit stark schwankenden Essensmengen oder -zeiten (z.B. aufgrund von Berufstätigkeit, Schichtarbeit, Sport) eine deutlich größere Herausforderung dar und können meist nicht ausreichend mit Mischinsulin versorgt werden. Patienten, die lediglich das Abendessen weglassen („Dinner-Cancelling“), können in einigen Fällen noch durch eine Kombination von Mischinsulin morgens und NPHInsulin vor dem Schlafengehen einfach und gut betreut werden.<br /> In anderen Fällen ist jedoch eine Umstellung auf eine intensivierte Therapie mit Basis- und Bolusinsulin mit deutlich höherem Schulungsaufwand in spezialisierten Ordinationen oder Ambulanzen erforderlich.</p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Österreichische Diabetes Gesellschaft: Diabetes mellitus – Leitlinien für die Praxis. Wien Klin Wochenschr 2016; 128(Suppl 2): S37-S215 <strong>2</strong> Garber AJ et al: Attainment of glycaemic goals in type 2 diabetes with once-, twice-, or thrice-daily dosing with biphasic insulin aspart 70/30 (the 1-2-3 study). Diabetes Obes Metabol 2006; 8(1): 58-66 <strong>3</strong> Garber AJ: Insulin intensification strategies in type 2 diabetes: when one injection is no longer sufficient. Diabetes Obes Metab 2009; 11(Suppl 5): 14-8 <strong>4</strong> Raskin P: Initiating insulin therapy in type 2 diabetes: a comparison of biphasic and basal insulin analogs. Diabetes Care 2005; 28(2): 260-5 <strong>5</strong> Brito M et al: Intensifying existing premix therapy (BIAsp 30) with BIAsp 50 and BIAsp 70: a consensus statement. Indian J Endocrinol Metab 2011; 15(3): 152-60</p>
</div>
</p>