
Inkretinanaloga vs. bariatrische Chirurgie
Bericht:
Reno Barth
Medizinjournalist
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Gegenstand einer Pro- und Kontradebatte im Rahmen des letztjährigen EASD-Kongresses war die Frage nach der Therapie für die beste Gewichtsreduktion. Während leichte Verfügbarkeit und gute Verträglichkeit für das konservative Vorgehen mit Inkretinanaloga sprechen, heben Chirurg:innen die grösseren Effektstärken der bariatrischen Chirurgie sowie deren gute Langzeitdaten hervor.
Keypoints
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Adipositas wird zunehmend als behandlungsbedürftige Erkrankung anerkannt.
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2035 sollen in den USA an die 20 Millionen Menschen unter der Behandlung mit GLP-1-Rezeptor-Agonisten stehen.
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Diese Prognose räumt der bariatrischen Chirurgie in der Behandlung von Adipositas eine eher untergeordnete Rolle ein.
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Im Vergleich zur medikamentösen Therapie gegen Adipositas bestehen jedoch für die bariatrische Chirurgie als wesentlich ältere Disziplin gute Langzeitdaten.
Die Behandlung von Übergewicht und Adipositas kann als Wunderwaffe gegen metabolische Erkrankungen bezeichnet werden. «Sofern es gelingt, Übergewicht wirksam zu behandeln, behandelt man damit auch die Plasmalipide, den Blutzucker, den Blutdruck und vieles mehr», so Prof. Louis Aronne, Weill Cornell Medical College, New York, USA. Bereits bei einem Gewichtsverlust von 2–5% sind relevante metabolische Vorteile nachweisbar und mit zunehmender Gewichtsreduktion werden die Vorteile stetig noch ausgeprägter. Werden 15% Körpergewicht abgenommen, so kann dies zu einer Remission eines bereits bestehenden Diabetes mellitus Typ 2 führen und die kardiovaskuläre Mortalität sinkt.1,2
«Wir stehen vor einer entscheidenden Wende in der Art und Weise, wie wir metabolische Erkrankungen behandeln», betont der Experte. Nach Aronnes Ansicht sind medikamentöse Therapien heute der beste Weg, um eine ausreichende Reduktion des Körpergewichts zu erreichen. «Wir führten unsere ersten Studien zur medikamentösen Gewichtsreduktion vor mehr als 20 Jahren durch und viele unserer damaligen Konzepte haben sich als korrekt erwiesen. Allerdings waren wir noch nicht so weit wie heute. Die Therapien hatten zu viele Nebenwirkungen und wurden daher zögerlich eingesetzt. Und so entwickelte sich die bariatrische Chirurgie zur überlegenen Methode bei damaligem Kenntnisstand. Mittlerweile haben sich die Dinge jedoch geändert», so Aronne.
SELECT-Studie: kardiovaskuläre Ereignisse um 20% reduziert
So wurde in der SELECT-Studie mit mehr als 17600 übergewichtigen oder adipösen Teilnehmenden unter Semaglutid innerhalb von vier Jahren eine Gewichtsreduktion von 8,5% erzielt, was in einer Reduktion schwerer kardiovaskulärer Ereignisse (MACE) um 20% resultierte. Darüber hinaus ging die Gesamtmortalität zurück, Blutdruck und Triglyzeride verringerten sich ebenso wie der Blutzucker. Das Risiko, Diabetes zu entwickeln, nahm ab sowie die Risiken von Verschlechterung einer Herz- oder Niereninsuffizienz.3
Der Gewichtsverlust fiel mit 8,5% in dieser Studie relativ gering aus, weil das Protokoll keine zusätzlichen Lebensstilmassnahmen vorschrieb. Aus der Sicht adipöser Patienten stelle sich daher die Frage, ob sie mithilfe einer nebenwirkungsarmen medikamentösen Therapie, die nachweislich Komplikationen reduziert, abnehmen wollen oder bevorzugen zu warten, bis sie einen Diabetes, Hypertonie und eine Herzerkrankung entwickeln, um dann die bariatrische Chirurgie in Anspruch zu nehmen. Hinzu komme in aller Regel der Patientenwunsch nach Gewichtsverlust. Die bereits jetzt guten Optionen würden in den kommenden Jahren noch besser werden, so Aronne, da sich zusätzlich zu den bereits zugelassenen Inkretinanaloga zahlreiche gewichtsreduzierende Substanzen in fortgeschrittener klinischer Entwicklung befinden.4 Mit einigen dieser Substanzen wurde in Studien eine Gewichtsreduktion von 20 oder mehr Prozent beobachtet.5
Gleichzeitig werde Adipositas zunehmend als behandlungsbedürftige Erkrankung anerkannt. Für die Zukunft könne man – vergleichbar mit der Entwicklung des Hypertoniemanagements – mit der Absenkung von relevanten Grenzwerten rechnen.6 Schätzungen zufolge werden in den USA im Jahr 2035 rund 20 Millionen Menschen unter Behandlung mit GLP-1-Rezeptor-Agonisten (GLP-1-RA) stehen (Abb.1).7 «Die bariatrische Chirurgie wird dann nur noch eine sehr untergeordnete Rolle spielen und vor allem bei Unverträglichkeit oder Versagen der medikamentösen Therapien zum Einsatz kommen», so der Experte.
Abb. 1: Inkretinanaloga: steigende Zahl von Patienten und Substanzen (Schätzungen für die USA; nach Evaluate Pharma; BMO Capital Markets)7
Mortalität halbiert: gute Langzeitdaten für die bariatrische Chirurgie
Dem hält Prof. Francesco Rubino, King’s College London, Grossbritannien, entgegen, dass eine sehr divergierende Qualität der Wirksamkeitsevidenz medikamentöser und chirurgischer Gewichtsreduktionstherapien besteht. Während für die zugelassenen GLP-1-RA Daten über Monate, maximal wenige Jahre vorhanden sind, sind die Wirksamkeit und die Sicherheit der bariatrischen Chirurgie über Jahrzehnte dokumentiert. Zudem sind die Effektstärken grösser. So zeigen Studiendaten beispielsweise 10 Jahre nach Magenbypass im Vergleich zum Ausgangswert eine Gewichtsreduktion von 29%. Sogar eine Diabetesremission konnte noch 10 Jahre nach Magenbypass bei 37% der Patienten nachgewiesen werden.8
Studiendaten zeigen auch langfristige Auswirkungen bariatrischer Eingriffe auf zahlreiche harte klinische Endpunkte – so bspw. eine Senkung der Gesamtsterblichkeit um 41%. Auch die Inzidenzreduktion von Herzinsuffizienzen (um 62%), Herzerkrankungen (um 31%), Schlaganfällen (um 33%) und Nierenerkrankungen (um 60%) wurde in relevantem Ausmass verzeichnet.9
Solche Ergebnisse spiegeln sich auch in einer Metaanalyse gematchter Kohortenstudien und prospektiver, kontrollierter Studien mit fast 150000 Patienten wider, die in einem Follow-up von bis zu 30 Jahren eine Reduktion der Gesamtsterblichkeit um rund 50% vermerken konnte. Der Effekt war bei Patienten mit präexistierendem Diabetes mellitus mit 60% sogar noch grösser.10
Praxistipp
In der Beratung von adipösen Patienten kann neben dem Primärziel Gewichtsreduktion die motivierende Argumentation, bei adäquater Therapie oder Lebensstiländerung Folgen wie Diabetes, Hypertonie und Herzerkrankungen minimieren zu können, hilfreich sein.Rubino zieht an dieser Stelle einen Vergleich zur Bypasschirurgie. Diese wurde in den 1960er-Jahren als erste Therapie der koronaren Herzkrankheit (KHK) entwickelt. Seither kamen die Statine und andere Medikamente für das konservative Management der KHK auf den Markt und perkutane Katheterinterventionen wurden Routineeingriffe. Dennoch blieb die Bypassoperation ein Standardverfahren in der Behandlung der myokardialen Ischämien mit mehr als 400000 Eingriffen/Jahr allein in den USA. «Es gibt also keine Evidenz, dass das Aufkommen wirksamer konservativer Therapien die Chirurgie zum Verschwinden bringt», so Rubino.
Darüber hinaus gelte es, die unterschiedlichen Ausprägungen der Adipositas zu beachten. Die mit den aktuell verfügbaren GLP-1-RA erzielten Gewichtsreduktionen in der Grössenordnung von 15% seien bei 200kg Körpergewicht nicht ausreichend, um Risiko und Lebensqualität relevant zu beeinflussen.
Quelle:
EASD Annual Meeting, 9. bis 13. September 2024, Madrid
Literatur:
1Lean ME et al.: Primary care-led weight management for remission of type 2 diabetes (DiRECT): an open-label, cluster-randomised trial. Lancet 2018; 391: 541-51 2 Benraouane F, Litwin SE: Reductions in cardiovascular risk after bariatric surgery. Curr Opin Cardiol 2011; 26: 555-61 3 Lincoff AM et al.: Semaglutide and cardiovascular outcomes in obesity without diabetes. N Engl J Med 2023; 389: 2221-32 4 Jastreboff AM, Kushner RF: New frontiers in obesity treatment: GLP-1 and nascent nutrient-stimulated hormone-based therapeutics. Annu Rev Med 2023; 74: 125-39 5 Melson E et al.: What is the pipeline for future medications for obesity? Int J Obes (Lond) 2024: doi: 10.1038/s41366-024-01473-y 6 Umashanker D et al.: Is obesity the new hypertension? Parallels in the evolution of obesity and hypertension as recognized disease states. Curr Atheroscler Rep 2017; 19: 35 7 Evaluate Pharma; BMO Capital Markets: Number of patients on meds is increasing rapidly in US/worldwide. Präsentiert am EASD-Kongress 2024 8 Mingrone P et al.: Metabolic surgery versus conventional medical therapy in patients with type 2 diabetes: 10-year follow-up of an open-label, single-centre, randomised controlled trial. Lancet 2021; 397: 293-304 9 Aminian A et al.: Association of metabolic surgery with major adverse cardiovascular outcomes in patients with type 2 diabetes and obesity. JAMA 2019; 322: 1271-82 10 Syn NL et al.: Association of metabolic-bariatric surgery with long-term survival in adults with and without diabetes: a one-stage meta-analysis of matched cohort and prospective controlled studies with 174772 participants. Lancet 2021; 397: 1830-41
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