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Hypoglykämie und ihr Stellenwert in der modernen Diabetestherapie
Jatros
Autor:
Dr. Gregor Holak
5. Medizinische Abteilung mit Endokrinologie, Rheumatologie und Akutgeriatrie, Wilhelminenspital Wien<br> E-Mail: gregor.holak@wienkav.at
30
Min. Lesezeit
07.07.2016
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<p class="article-intro">Eine Unterzuckerung stellt vor allem beim Typ-1-Diabetiker nach wie vor das relevanteste Begleitrisiko der insulingestützten Therapie dar. Zur Vorbeugung genügt es nicht, den HbA<sub>1c</sub> oder gewohnte Hyposymptome im Auge zu behalten. Ein optimales Management beinhaltet in diesem Zusammenhang das Definieren eines HbA<sub>1c</sub>-Ziels basierend auf Alter, Komorbiditäten und Therapieoptionen, die umfassende Schulung des Patienten sowie gegebenenfalls der nächsten Angehörigen und eine fortwährende „Hellhörigkeit“ für unerwartete Blutzuckerverläufe und ungewohnte Ereignisse (Unfälle, Stürze, Synkopen etc.). </p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>Von einer Hypoglykämie spricht man meist ab einem Blutzucker von <70mg/dl.</li> <li>Hypos treten unter insulinotropen Substanzen (Glinide, Sulfonylharnstoffe) sowie ­jeder Form der insulinunterstützten Therapie auf. Ihre Inzidenz ist dank moderner Therapieformen beim Typ-2-Diabetiker stark gesunken.</li> <li>Ein Hypo beinhaltet nicht nur Akutsymptome, sondern birgt auch das Risiko diverser Langzeitschäden (kardial, zerebral).</li> <li>Die Hyposensibilität kann schon nach wenigen Ereignissen absinken, das Problem ­betrifft vor allem langjährige Typ-1-Diabetiker.</li> </ul> </div> <h2>Internationaler Konsens über Hypoglykämie fehlt</h2> <p>Obgleich das Phänomen Hypoglykämie hinsichtlich Auslöser und Symptomen de facto jedem Mediziner vertraut ist, gelangt man an überraschende Hindernisse, wenn man sich der Definition nähert. Es findet sich kein international akkordierter Konsens, da bezüglich der Grenzwerte Uneinigkeit herrscht („cut-off“ symptomorientiert oder anhand eines fixen Glukosewertes definieren?). Zudem treten die Beschwerden individuell verschieden auf. Überwiegend hat sich beim Diabetiker das Unterschreiten von 70mg/dl (3,89mmol/l) als Grenzwert für die Hypoglykämie durchgesetzt. Unter diesem Wert kommt es im Allgemeinen zur Gegenregulation im Organismus und – allerdings von Patient zu Patient unterschiedlich – auch zu den bekannten Symptomen. Die der Zuckersteigerung dienende Gegenregulation läuft konzertiert ab und inkludiert die Ausschüttung von Glukagon, später kommen Adrenalin sowie Cortisol und Wachstumshormon hinzu (Tab. 1). <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Diabetes_1603_Weblinks_Seite18_1.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Das „Hypogefühl“</h2> <p>Das sogenannte „Hypogefühl“, das sich aus der Kombination von autonomen (durch Katecholaminausschüttung bedingte) und neuroglykopenischen (durch den zentralen Glukoseabfall) Ursachen zusammensetzt, ist jedoch keineswegs an den Blutzuckerwert gebunden. Bereits nach zwei knapp aufeinanderfolgenden, tiefen Hypoglykä­mien kommt es zu deutlichen Verzögerungen sowohl der Gegenregulationsmechanismen, aber insbesondere auch der dem Patienten zumeist vertrauten Beschwerden, die als Alarmsignal dementsprechend fehlen. Dieses Phänomen erklärt sich aus einer dem Hypo folgenden, reflektorischen Vermehrung der zerebralen Energietransportsysteme für Glukose und Laktat (GLUT1, Monocarboxylat), die das Hirn bei bereits gefährlich fallenden Glukosespiegeln im Organismus weiterhin mit ausreichend Energiesubstraten versorgen können. Dieser potenziell reversible Mechanismus bedingt, dass langjährige Diabetiker die Hyposensibilität gänzlich verlieren können, was nur durch zeit- und arbeitsaufwendiges Training wiedererlernt werden kann.</p> <p>Auf der anderen Seite erleben Diabetiker mit chronischer Hyperglykämie auch bei deutlich höheren Werten als den genannten 70mg/dl das beschriebene Hypogefühl, man spricht von einer Pseudohypoglykämie. Diese Betroffenen können nur langsam an eine aggressivere Einstellung herangeführt werden. Somit unterscheidet man beim Diabetiker zusammenfassend zwischen gemessenen Hypoglykämien ohne bzw. mit Symptomen, einem Hypogefühl bei normoglykämischen Werten und dem „schweren“ Hypo, der sich unabhängig vom Glukosespiegel durch die Notwendigkeit einer Fremdhilfe (Gabe von Orangensaft, Glukoseinfusion, Glukagonspritze etc.) definiert. Typische Hypo­ursachen sind in Tabelle 2 aufgelistet.</p> <p>Beim Stoffwechselgesunden spricht man erst bei weitaus tieferen Werten von Hypoglykämien. Als Richtwerte gelten hierbei <40mg/dl bzw. <50mg/dl plus Begleitsymptomen, wobei die Diagnose erst als bewiesen gilt, wenn nach Blutzuckerausgleich die Beschwerden prompt verschwinden (Whipple-Trias).</p> <h2>Handhabung von Hypoglykämien</h2> <p>Eine Unterzuckerung lässt sich, so der Patient noch im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten ist, durch eine sofortige Aufnahme kurz wirksamer Kohlehydrate (z.B. Traubenzucker, Fruchtsäfte, Cola, Fanta etc., Gummibärchen bzw. Glukosegel) sowie die anschließende Einnahme komplexer Kohlehydrate (z.B. Müsliriegel) üblicherweise problemlos kupieren. Zusätzlich sollten Dia­betiker darin geschult werden, eine Ursachenanalyse durchzuführen und mit dem behandelnden Arzt künftige Vermeidungsstrategien zu besprechen.</p> <p>Für Angehörige haben sich Glukagon­spritzen im Notfall durchgesetzt, deren Handhabung leicht zu erlernen ist. Von zentraler Wichtigkeit ist, die Anwender darüber zu informieren, dass bis zum Einsetzen der Wirkung der Injektion einerseits einige Minuten vergehen, andererseits der glukosesteigernde Effekt bei mangelnden Reserven im Organismus des Betroffenen und einer gehemmten Glukoneogenese (z.B. nach Alkoholabusus) ausbleiben kann. Da der notfallmäßige Einsatz eines parenteral zu applizierenden Präparates bei unerfahrenen Anwendern eine Barriere darstellen kann, laufen derzeit Studien mit intranasalem Glukagon. Bei grundsätzlich etwas besserer Verträglichkeit und zugänglicherer Anwendung als mittels nadelgestützter Alternative erscheint eine Markteinführung in näherer Zukunft denkbar.</p> <p>Die Inzidenz von Hypoglykämien bei österreichischen Diabetikern wurde in einer europäischen Studie von 2014 anhand von Fragebögen miterfasst und ist in Tabelle 3 gekürzt dargestellt. <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Diabetes_1603_Weblinks_Seite18_2.jpg" alt="" width="" height="" /> <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Diabetes_1603_Weblinks_Seite18_3.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Unterzuckerung beim Typ-2- und beim Typ-1-Diabetiker</h2> <p>Das Problem der Unterzuckerung hat beim Typ-2-Diabetiker in den letzten 20 Jahren insgesamt stark an Bedeutung verloren. Die Einführung der Insulinanaloga mit ihren kürzeren Halbwertszeiten (Korrekturinsulin) bzw. flacheren Wirkspiegeln (Basalinsuline) konnte die Hyponeigung deutlich entschärfen. Den größten Fortschritt verdanken wir allerdings der Flut an Neuentwicklungen bei den oralen Antidiabetika und GLP-1-Analoga, deren gemeinsames Element die vernachlässigbare Hypogefahr darstellt. Egal ob Glitazone, inkretinbasierte Therapien oder SGLT-2-Inhibitoren, alle Medikamente tragen in Monotherapie kein reelles Hyporisiko – auch in Kombination mit Insulin zeigten Studien, dass nicht nur Insulinmengen eingespart, sondern auch die Hypofrequenz reduziert werden kann. Ein Hyporisiko besteht beim Typ-2-Diabetiker unter den Substanzklassen der Sulfonylharnstoffe sowie der Glinide (in Österreich ist lediglich Repaglinid in Verwendung) wie auch bei jeder Form der insulinunterstützten Therapie. Unter einer Therapie mit Sulfonylharnstoffen liegt die Prävalenz etwa bei 0,1/Patientenjahr und steigt auch zu Beginn einer Insulinisierung nur unwesentlich an. Eine Erhöhung des Risikos kann viele Ursachen haben, beispielhaft seien geringes Körpergewicht, fortgeschrittene Leber- oder Nierenerkrankungen, hohes Alter, mangelhafte Therapieadhärenz oder Begleitmedikamente genannt.</p> <p>Beim Typ-1-Diabetiker haben auch das moderne Therapieverständnis, Neuentwicklungen – sei es im Bereich der Insuline, seien es Fortschritte im Bereich der Pumpensysteme – und alle Schulungsprogramme keine befriedigende Eindämmung des Hyporisikos gebracht. Nach wie vor ist ein sukzessives Absenken des HbA<sub>1c</sub> gleichbedeutend mit dem linearen Anstieg der Hyponeigung. Im Schnitt erlebt ein Typ-1-Diabetiker rund einen schweren Hypo (= Fremdhilfe) wenigstens 1x/Jahr und wie oben geschildert kämpfen viele langjährige Diabetikerveteranen mit der nachlassenden Hyposensibilität, was ein erhöhtes Sturz- und Unfallrisiko nach sich zieht. Dafür zeigt sich gerade beim Typ-1-Diabetiker der Vorteil intensiver Schulungsprogramme, die unisono eine Stabilisierung der Blutzuckerprofile und eine signifikante Reduktion der hypoglykämischen Episoden in Studien bewirkt haben. Unter einer intensivierten Insulintherapie sind vor allem morgendliche Hyperglykämien gefürchtet, da ursächlich eine lediglich unzureichende abendliche Insulindosis von einer erfolgten Gegenregulation nach stattgehabtem nächtlichem Hypo oftmals nicht zu unterscheiden ist.</p> <p>Ein Grund dafür mag darin liegen, dass sich Hyposymptome nachts von denen untertags signifikant unterscheiden können und so die Einschätzung des Patienten negativ beeinflussen. Um die lediglich dokumentierten von den tatsächlichen Episoden einer Hypoglykämie zu trennen, kann es daher Sinn machen, den Blutzuckerspiegel mittels kontinuierlicher Glukosemessung zu erfassen, was daher auch in den diversen Spezialambulanzen inzwischen gelebte Praxis ist.</p> <h2>Spät- und potenzielle Folgeschäden weitgehend unklar</h2> <p>Während die akuten Auswirkungen einer Hypoglykämie mittlerweile ausreichend erforscht und beschrieben sind, besteht in der Quantifizierung eventueller Spätschäden noch Unklarheit. Potenzielle Folgeschäden betreffen dabei vor allem Herz und Hirn. Bei Ersterem kommt es durch den hypoinduzierten Anstieg von Katecholaminen zu einem kardialen Stress mit Anstieg von Blutdruck, Herzfrequenz und „cardiac output“. Bis etwa 24h nach einer Unterzuckerung ist außerdem die Herzfrequenzvariabilität gestört. In mehreren großen Studien (ACCORD, ADVANCE, VADT) war eine strenge Blutzuckereinstellung eng mit erhöhtem Hyporisiko verknüpft. Besonders in der ACCORD-Studie wurde die erhöhte Mortalitätsrate in der Therapiegruppe immer wieder mit dem vermehrten Auftreten schwerer Unterzuckerungen assoziiert, auch wenn die Ergebnisse diesbezüglich kontroversiell diskutiert werden. In einer großen retrospektiven Kohortenanalyse konnte nunmehr ein Zusammenhang kardiovaskulärer Ereignisse mit der erhöhten Gesamtsterblichkeit für Typ-1- wie Typ-2-Diabetes statistisch nachgewiesen werden. Wenigstens genauso besorgniserregend ist, dass das kardiovaskuläre Risiko auch nach einem hypoglykämischen Ereignis für viele Monate erhöht ist und bei vulnerablen Patienten als Risikomarker angesehen werden kann. An Ursachen diskutieren Experten neben dem bereits genannten Katecholaminbolus proinflammatorische Effekte, eine Erhöhung der Thrombophilie sowie eine QT-Verlängerung. Letztere könnte auch für eine gefürchtete letale Komplikation des jungen Typ-1-Diabetikers verantwortlich zeichnen, das sogenannte „dead in bed syndrome“, für das arrhythmogene Ereignisse auf Basis einer vorangegangenen Hypoglykämie ursächlich vermutet werden.</p> <p>Neben kardialen Folgen werden Hypoglykämien seit Langem prodemenzielle Effekte nachgesagt. Die Studienlage dazu ist heterogen, die DCCT-Studie aus den späten 80er- und 90er-Jahren konnte beispielsweise in der Langzeitbeobachtung über 20 Jahre einen solchen Zusammenhang nicht nachweisen. Eine jüngere Arbeit an >3.000 Dia­betikern über 12 Jahre fand hingegen sehr wohl eine Erhöhung des Risikos um etwa das 2-Fache. Ursächlich für die sich widersprechenden Studiendaten dürfte vornehmlich das Alter der Studienpopulation (jüngeres Kollektiv in der DCCT-Langzeitbeobachtung) sein. In jedem Fall konnte die letztgenannte Studie eine gegenseitige Abhängigkeit erkennen (Hypo fördert Demenz, demenzieller Abbau ist Risikofaktor für Hypos). Die Sinnhaftigkeit einer guten Diabeteseinstellung auch im höheren Alter bei gleichzeitig weitestgehender Vermeidung hypotropher Therapien wird durch diese Arbeit nachdrücklich unterstrichen. Einschränkend ist aber zu erwähnen, dass eine Endpunktstudie mit dem Umkehrschluss (gute Diabetes­einstellung verhindert Demenz) bisher nicht existiert.</p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Es lässt sich subsumieren, dass das von Hypoglykämien ausgehende Risiko beim nicht insulinbedürftigen Typ-2-Dia­betiker dank neuer Therapieoptionen weitgehend an Schrecken verloren hat. Demgegenüber geht mit einem Anstieg des Begleitrisikos (Insulinbedürftigkeit, Diabetesdauer, Nierenfunktion, demen­zieller Abbau) eine deutliche Erhöhung des Inzidenzrisikos einher und Schulungsprogramme, die beim Typ-1-Diabetiker Hypofrequenz und Hyposensibilität verbessern können, haben beim Typ-2-Diabetiker bisher keinen nachhaltigen Effekt gezeigt.</p> <p>Der Typ-1-Diabetiker muss auch im 21. Jahrhundert einen Kompromiss aus strikter Diabetes­einstellung und Therapiesicherheit finden, daran wird sich auch in naher Zukunft nichts ändern.</p> </div></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Bode BW et al: Diabetes Care 2005; 28(10): 2361-6 <br /><strong>2</strong> Zammit NN et al: Diabetes Care 2005; 28(12): 2948-61 <br /><strong>3</strong> Cefalu WT et al: Diabetes 2008; 57(5): 1163-5 <br /><strong>4</strong> Gill GV et al: Diabetologia 2009; 52(1): 42-5 <br /><strong>5</strong> Pontiroli AE: Diabetes Sci Technol 2015; 9(1): 38-43 <br /><strong>6</strong> Khunti K et al: Diabetes Care 2015; 38(2): 316-22 <br /><strong>7</strong> Östenson CG, Weitgasser R et al: Diabet Med 2014; 31(1): 92-101 <br /><strong>8</strong> Yaffe K et al: JAMA Intern Med 2013; 173(14): 1300-6 <br /><strong>9</strong> Biessels GJ et al: Lancet Neurol 2006; 5: 64-74</p>
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