© timolina - stock.adobe.com

Mini-Serie Diabetesmanagement

Freude am Essen – auch mit Diabetes

Menschen mit Diabetes müssen wissen, wie viele Kohlenhydrate sie essen. In der Allgemeinpraxis ist es deshalb sinnvoll, interprofessionell mit einer Ernährungsberaterin oder einem Ernährungsberater zusammenzuarbeiten. Worauf von Diabetes Betroffenein der Ernährung besonders achten müssen, erläuterte Melanie Sprenger, Leiterin der Ernährungsberatung/-therapie am Universitätsspital Zürich, am FOMF Diabetes Update Refresher.

Auch mit Diabetes mellitus sollten Genuss und Freude am Essen im Vordergrund stehen», sagte Melanie Sprenger. Die Betroffenen sollten sich bei der Lebensmittelwahl möglichst wenig einschränken müssen, und die Essenszeiten sollten an ihren individuellen Tagesrhythmus angepasst sein. «Denn die Therapie sollte sich dem Patienten anpassen und nicht umgekehrt», betonte sie. Ziel der Ernährungsberatung ist es laut der amerikanischen Diabetesvereinigung ADA, gesunde Ernährungsgewohnheiten bei den Betroffenen langfristig und individuell zu fördern (Tab.1).

Tab. 1: Ernährungsziele gemäss ADA 2022 (adaptiert nach Diabetes Care 2022; 45 [Suppl. 1]: S39-45)

Geeignet sind eine Low-Carb-Ernährung sowie eine mediterrane, vegetarische oder vegane Ernährungsform. Die Mahlzeiten sollten gut über den Tag verteilt sein und aus viel Gemüse und Vollkornprodukten sowie wenig verarbeiteten Lebensmitteln oder Süssigkeiten bestehen. Die aufgenommene Kohlenhydratmenge sollte reduziert werden. «Bei zusätzlichen Krankheiten, wie etwa Essstörungen und Krebs, sollte ihre Aufnahme aber auch nicht zu stark gesenkt werden», so Sprenger.

Wichtig ist eine gute Qualität der aufgenommenen Fette. Salz, Alkohol und Süssstoffe sollten nur in moderaten Mengen konsumiert werden. Empfehlenswert sind drei oder auch zwei Hauptmahlzeiten, die jeweils aus drei Komponenten bestehen. «Wird eine Gewichtsabnahme angestrebt, sollte die Mahlzeit auf dem Teller zur Hälfte aus Gemüse und Salat und zu je einem Viertel aus protein- und stärkehaltigen Lebensmitteln bestehen», erklärte die Fachfrau das Tellermodell. Ein «Viertel-Teller» entspreche dabei etwa der Grösse einer Faust oder eines Handtellers. Auf Süssgetränke, Fruchtsäfte und Zwischenmahlzeiten (Snacking) sollte verzichtet werden. Zur Prävention von Diabetes mellitus bei Übergewicht/Adipositas wird eine Gewichtsreduktion um 7% des Ausgangsgewichts in Kombination mit wöchentlich 150 Minuten körperlicher Aktivität (z.B. schnelles Gehen) empfohlen.

Die Indikationen für eine Ernährungsberatung sind in Tabelle 2 aufgeführt. Die Beratung bei Diabetes mellitus wird von der Grundversicherung bezahlt, wenn sie von einer vom SVDE (Schweizerischer Verband der Ernährungsberater/innen) anerkannten Fachperson durchgeführt und mit einem anerkannten Verordnungsformular (beispielsweise von der SVDE) verschrieben wird.

Tab. 2

Bei den Kohlenhydraten ist die Gesamtmenge entscheidend

«Eine Schulung zu den Kohlenhydraten braucht es für jeden Diabetes-Typ», sagte Sprenger. Denn die Betroffenen müssten unbedingt wissen, in welchen Nahrungsmitteln wie viele Kohlenhydrate enthalten seien und wie schnell Ein-, Zwei- und Mehrfachzucker ins Blut überträten. «Entscheidend bei den Kohlenhydraten ist immer die zugeführte Gesamtmenge», sagte die Spezialistin. Denn der Blutzuckerwert sage nichts darüber aus, woher der Zucker komme: ob aus einem Apfel, einem Stück Schokolade oder der Pasta.

Personen mit einem Diabetes Typ 2 (DM2) ohne Insulintherapie sollten auf Zwischenmahlzeiten verzichten, insbesondere wenn eine Gewichtsreduktion angestrebt wird. «Denn das verbessert auch den Fettabbau», so Sprenger. Die Mahlzeiten sollten ausserdem so kombiniert werden, dass die Kohlenhydrate langsam ins Blut übergehen. «Der Zucker aus einem Apfel geht schneller ins Blut über als der aus einem Stück Schokolade, das auch Fett enthält», erläuterte sie.

Setzt sich die Hauptmahlzeit nach dem Tellermodell (½ Gemüse und Salat, ¼ Proteine, ¼ Kohlenhydrate) zusammen, werden etwa 30–40g Kohlenhydrate aufgenommen. Zusammen mit einem Dessert – etwas Süssem oder einer Frucht – entspreche dies einer normalen Mahlzeit mit 50–60g Kohlenhydraten, sodass immer gleich viel Insulin benötigt werde, erklärte die Fachfrau.

Besonderheiten beim Gestationsdiabetes

Bei einem Schwangerschaftsdiabetes gelten grosso modo die gleichen Ernährungsregeln wie für Nichtschwangere mit DM2. Wegen des Morgenpeaks der Schwangerschaftshormone sollten die werdenden Mütter aber nicht zu viel frühstücken. Dafür können sie, anders als Nichtschwangere mit DM2, eher einen kohlenhydratarmen Zwischenimbiss mit zwei Stunden Abstand zur Hauptmahlzeit zu sich nehmen. Auch ein Spätimbiss ist möglich. «Die Menge der Kohlenhydrate sollten Schwangere mit Diabetes nicht zu stark senken, da dies für das Kind gefährlich sein kann», so Sprenger. Dafür sollten Schwangere auf die Proteinzufuhr achten.

Insulintherapie nach dem Basis-Bolus-Schema

Bei einer Basis-Bolus-Therapie muss die pro Mahlzeit aufgenommene Kohlenhydratmenge fix sein. Andernfalls müssen Betroffene die Insulinmenge auf Basis der zu sich genommenen Kohlenhydratmenge korrekt bestimmen können. Auch mit einem Basis-Bolus-System können die Mahlzeiten mit Augenmass, nach dem Tellermodell, zusammengestellt werden. Beachtet werden muss jedoch der Spritz-Ess-Abstand. Bei einer funktionellen Insulintherapie oder einer Pumpentherapie müssen die so Behandelten ausserdem den Kohlenhydratfaktor kennen. Eine Insulinpumpe mit Closed-Loop-System kann kleinere Blutzuckerschwankungen durch 10–20g Kohlenhydrate (beispielsweise aufgrund kleiner Berechnungsfehler oder eines kleinen Stücks Schokolade zwischendurch) mit einem Mikrobolus automatisch ausgleichen.

Auch die Fett- und Eiweissaufnahme benötigt Insulin. Denn Fette und Proteine sind Substrate der Glukoneogenese. Wie viel Insulin benötigt wird, kann mit der Fett-Protein-Einheit (FPE) berechnet werden. Das ist allerdings kompliziert. Meist genügt das Abschätzen der Insulinmenge gemäss der Faustregel «1IE Insulin pro 20g Protein oder Fett». «Beachtet werden muss allerdings, dass Fette und Proteine den Blutzucker verzögert ansteigen lassen und daher das Insulin für die berechneten FPE nicht zusammen mit dem für die Kohlenhydrate gegeben werden darf, sondern verzögert gegeben werden muss», so die Expertin.

Diabetesfachfrau leistet Detektivarbeit

Neben der Ernährungsberatung unterstützt auch die Inanspruchnahme einer Diabetesfachperson Menschen mit einem Diabetes, im Alltag mit der Krankheit zurechtzukommen. Denn diese instruiert, berät, begleitet, motiviert und leistet mitunter sogar Detektivarbeit, wie Ruth Hirschmann, Leitung der Diabetesberatung am Universitätsspital Zürich, an einigen Fallbeispielen demonstrierte.

Fall 1: Blutzuckerwerte plötzlich zu hoch

Herr G. (47 Jahre, DM1 seit 2009, Basis-Bolus-Insulintherapie) meldet sich ausserterminlich, weil seine Blutzuckerwerte plötzlich deutlich zu hoch sind und sich auch mit Korrekturinsulin nicht verbessern. Ein Injektionsfehler, ein Infekt und eine Glukokortikoidtherapie sind als Ursache ausgeschlossen.

In der Praxis inspizieren der Patient und die Diabetesfachfrau zwei Pens, die der Patient in die Sprechstunde mitgebracht hat. Sie versuchen, eine kleine Menge Insulin von 5–6IE abzugeben. An der Nadelspitze kommt kaum Insulin heraus, weshalb sie den Pen auseinandernehmen. Sie entdecken an der Penfill-Ampulle einen kleinen Haarriss im Glasgehäuse, aus dem Insulin herausläuft. Die defekte Ampulle entpuppt sich schliesslich als Grund für den plötzlichen Blutzuckeranstieg. Der Patient erinnert sich, dass er den Pen ein paar Tage vor dem ersten zu hohen Messwert tatsächlich einmal fallen gelassen hat. Um einen Pen-Defekt auszuschliessen, sollte immer zunächst eine Durchflussprobe erfolgen, bevor Insulin gespritzt wird. «Die Patientinnen und Patienten sollten vor jeder Injektion 1–2IE Insulin über die Nadel abgeben. Sind zwei bis drei Tröpfchen an der Nadelspitze zu sehen, funktioniert der Pen korrekt», sagte Hirschmann.

Fall 2: Grosse Variabilität

Herr W. (44 Jahre, DM1 seit 2003, Basis-Bolus-Insulintherapie, benutzt einen Pen mit einer 8mm langen Nadel) zeigt bei einem Kontrolltermin die Auswertung seiner Blutzuckerwerte, die eine grosse Variabilität mit sehr niedrigen und sehr hohen Werten und einem guten Durchschnittswert (HbA1c 6,5%) aufweisen. Eine Häufung von Spitzenwerten zu bestimmten Tageszeiten ist nicht zu erkennen. Der Patient hat ein gutes Kohlenhydratwissen und bewegt sich genügend.

Herr W. führt täglich zwei bis drei Blutzuckertests durch. Um eine gute Blutzuckereinstellung zu gewährleisten, braucht es jedoch mindestes vier Tests pro Tag. Herr W. sagt, ihn nervten die häufigen Unterzuckerungen vom Grad 1, und gesteht, er habe Mühe, den Blutzucker zu messen. Die Abklärung ergibt: Der Patient spritzt immer an der gleichen Stelle Insulin und benutzt jede Pen-Nadel zwei bis drei Tage lang. Das Spritzen von Insulin an immer der gleichen Stelle ist bei Herrn W. auch die wichtigste Ursache für die grossen Blutzuckerschwankungen. Dem Patienten wird deshalb empfohlen, das schnell wirksame Insulin in den Bauch, das lang wirksame ins Bein zu spritzen und die Einstichstelle jeweils mit 1–2cm Abstand zur vorherigen zu wählen. Jede Nadel solle er künftig nur noch einmal benutzen. Die Nadellänge, die laut Daten keinen Einfluss auf die Insulinresorption hat, wird von 8mm auf 4mm umgestellt. Weil die Blutzuckermessung für ihn ein Problem darstellt, erhält er ein Sensorsystem zur kontinuierlichen Blutzuckermessung und später eine sensorunterstützte Insulinpumpentherapie, mit der er gut zurechtkommt.

Fall 3: Das Insulin verwechselt

Herr I. (50 Jahre, DM1 seit 2009, Basis-Bolus-Insulintherapie, HbA1c 5,7%) ist sehr sportlich und spritzt sich drei verschiedene Insuline: die beiden Basalinsuline Degludec (22IE am Morgen) und Detemir (2–5IE am Abend, in Abhängigkeit von der sportlichen Aktivität) sowie je nach Kohlenhydratfaktor zu den Mahlzeiten das schnell wirksame Insulin aspart.

In den Ferien verwechselt Herr I. das Insulin und spritzt sich statt 20IE Insulin aspart zum Abendessen 20IE Detemir. Nach telefonischer Rücksprache mit der Diabetesfachfrau kann er die Situation selbst gut managen, indem er die Glukosewerte engmaschig überwacht. Zu Beginn muss er wegen eines postprandialen Blutzuckeranstiegs noch etwas schnell wirksames Insulin spritzen, später und auch in der Nacht korrigiert er die Blutzuckerwerte noch dreimal mittels Zufuhr von Kohlenhydraten ohne Insulin.

FOMF Diabetes Update Refresher, 3. bis 5. November 2022, Zürich

Back to top