
Der Einfluss von Umwelt und Genen auf den Body-Mass-Index
Bericht:
Dr. Corina Ringsell
Redaktorin
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PD Dr. med. Stefan Bilz, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie, Osteologie und Stoffwechselerkrankungen, Kantonsspital St. Gallen, HOCH Health Ostschweiz, beleuchtete in einem Vortrag, welche Rolle die Genetik und Umweltfaktoren beim Entstehen der Adipositas spielen.
Adipositas ist ein weltweites Problem mit steigender Tendenz, wobei die Schweiz mit etwa 10% adipöser Menschen in der erwachsenen Bevölkerung noch im unteren Bereich liegt.1 Am grössten ist die Prävalenz bei Männern im Alter zwischen 55 und 64 Jahren.2 Das könne nicht nur genetisch bedingt sein, auch Umweltfaktoren spielten hier eine Rolle, sagte Bilz.
Faktoren, die beim Entstehen von Adipositas eine Rolle spielen
Adipositas entsteht durch ein komplexes Zusammenspiel von unterschiedlichen biologischen/genetischen und Umwelt-/sozialen Faktoren.3 Gute Daten zu der Stärke der jeweiligen Einflüsse lieferten sogenannte Zwillingsstudien, bei denen Zwillinge in unterschiedlichen Milieus leben, erklärte Bilz und zeigte eine gepoolte Analyse von 45 Zwillingskohorten. Untersucht wurde der Einfluss der Genetik und der Umwelt auf den Body-Mass-Index (BMI) im Verlauf der Kindheit bis zum jungen Erwachsenenalter.4 Diese zeige, dass die Genetik eine wesentliche Rolle spielt, so Bilz. Eine aktuelle Übersichtsstudie geht davon aus, dass die Vererbbarkeit von Adipositas bei 40 bis 70% liegt.5
Die Frage sei, was genau vererbt werde, sagte Bilz und erklärte, dass der Hypothalamus in der Pathophysiologie der Adipositas eine zentrale Rolle spielt, da er Hunger, Sättigung und den Stoffwechsel insgesamt reguliert.
Im Hypothalamus sind die Neuronen für den Leptin-Melanocortin-Signalweg lokalisiert, der eine Schlüsselposition bei der Appetitkontrolle hat.5 Mutationen der meisten Gene des Melanocortin-Signalwegs, unter anderem LEPR, POMC, PCSK1, MC4R, führen zu Hyperphagie und starker Adipositas. Dabei sind MC4R-Mutationen mit 2–5% bei Kindern und 1% bei Erwachsenen die häufigsten monogenetischen Defekte, die zu Hyperphagie und Adipositas führen.5 Daneben gebe es eine Reihe weiterer Faktoren und Gene, die diesen Signalweg beeinflussen und das Krankheitsbild einer syndromalen Adipositas verursachen,6 erklärte Bilz. Dazu zählen beispielsweise das Prader-Willi-Syndrom, das Bardet-Biedl-Syndrom oder das Alström-Syndrom.5,6
Monogenetische und syndromale Adipositasformen können bei bis zu 13% der adipösen Kinder diagnostiziert werden.7 Die korrekte Diagnose zu stellen sei für die Kinder und deren Familien von grösster Bedeutung, da sie oft als undiszipliniert stigmatisiert würden, betonte Bilz. Ausserdem gebe es inzwischen spezifische Medikamente für diese Krankheiten.7
Genetische Testung auf vererbbare Adipositas
Die Leitlinie der Endocrine Society rät zu einer genetischen Testung bei allen Kindern, die vor dem 5. Lebensjahr eine extreme Adipositas entwickeln und weitere Merkmale von genetischen Adipositassyndromen zeigen, etwa Hyperphagie.8
Ist eine genetische Testung auch bei Erwachsenen nötig? Eine Studie aus den Niederlanden konnte zeigen, dass eine genetisch bedingte Adipositas nicht immer im Kindesalter beginnt. In seltenen Fällen kann der Krankheitsbeginn in der Pubertät oder auch im Erwachsenenalter liegen.9 Er plädiere aber nicht dafür, alle Patient:innen, die in die Adipositassprechstunde kommen, auf Genmutationen zu testen, sagte Bilz, aber bei sehr frühem Krankheitsbeginn sei es wichtig, daran zu denken.
Therapie der genetisch bedingten Adipositas
Inzwischen ist ein Medikament mit dem Wirkstoff Setmelanotid, ein Melanocortin-Analogon, in Europa von der EMA, aber noch nicht in der Schweiz zugelassen. In Studien konnte gezeigt werden, dass die Substanz bei Patient:innen mit schwer zu behandelnder/refraktärer Adipositas zu einem Gewichtsverlust führen kann.10,11 In einer Phase-II-Pilotstudie wurde der Wirkstoff bei erworbener hypothalamischer Adipositas eingesetzt und erzielte Gewichtsabnahmen bis zu 45%.12
Polygene Adipositas
Genomweite Assoziationsstudien («genome-wide association studies», GWAS) identifizierten mehr als 1100 Genloci, die mit der Variabilität des BMI assoziiert sind. Sie erklären aber insgesamt nur etwa 6% der BMI-Variationen.5Die Gene werden vorwiegend im neuronalen Gewebe exprimiert, vor allem im Mittelhirn und der Substantia nigra.13,14 Dies zeige, dass die Adipositas nicht nur eine metabolische, sondern vor allem eine neuronale Störung ist, betonte Bilz. Abbildung 1 zeigt die Unterschiede zwischen einer monogenetischen und einer polygenetischen Adipositas.5
Abb. 1: Hauptunterschiede zwischen monogenetischer und polygenetischer Adipositas (modifiziert nach Loos et al. 2022)5
Die wichtigsten Treiber einer Adipositas auf polygenetischer Basis seien Umweltfaktoren wie mangelnde Bewegung, zu viel und falsche Nahrung sowie eine Störung des zirkadianen Rhythmus, etwa durch Lichtimmissionen, so Bilz. Er verwies auf eine italienische Arbeit, in der eine «gewichtsfreundliche» ideale Stadt konstruiert wurde. Einige Aspekte waren autofreie Zonen, mehr Raum für Fussgänger- und Radfahrer:innen, Möglichkeiten für Sport und Bewegungsaktivitäten in der nahen Umgebung, guter öffentlicher Nahverkehr, weniger Fast-Food-Restaurants und hochverarbeitete Lebensmittel, mehr Angebote gesunder Speisen, weniger Lichtexposition in der Nacht (Abb.2). Die Angebote sollten leicht erreichbar und niederschwellig sein sowie grossflächig beworben werden, um weite Teile der Bevölkerung zu erreichen, fordern die Autor:innen der Studie. Sie gehen davon aus, dass schon geringe Veränderungen eine grosse Wirkung entfalten können, wenn sie von vielen Menschen umgesetzt werden.15 Dieser Ansicht schloss sich auch Bilz an.
Quelle:
Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED), 14. bis 15. November 2024, Bern
Literatur:
1 World Obesity Atlas 2024. https://data.worldobesity.org/publications/WOF-Obesity-Atlas-v7.pdf ; Zugriff: 12.2.2025 2 Swiss Health Survey 2022: Overweight and obesity. www.bfs.admin.ch/bfs/en/home/statistics/health/determinants.gnpdetail.2024-0164.html ; Zugriff 12.2.2025 3 Blüher M: Nat Rev Endocrinol 2019; 15: 288-98 4 Silventoinen K et al.: Am J Clin Nutr 2016; 104: 371-9 5 Loos RJF, Yeo GSH: Nat Rev Genet 2022; 23: 120-33 6 Siddiqui J et al.: Pediatr Clin North Am 2024; 71: 897-917 7 Mainieri F et al.: Eur J Pediatr 2023; 182: 4781-93 8 Styne DM et al.: J Clin Endocrinol Metab 2017; 102: 709-57 9 Welling MS et al.: Obesity 2024; 32: 1257-67 10 Clément K et al.: Lancet Diabetes Endocrinol 2020; 8: 960-70 11 Haqq AM et al.: Lancet Diabetes Endocrinol 2022; 10: 859-68 12 Roth CL et al.: Lancet Diabetes Endocrinol 2024; 12: 380-9 13 Finucane HK et al.: Nat Genet 2018; 50: 621-9 14 Saeed S et al.: Mol Psychiatry 2025; 30: 651-8 15 Verde L et al.: Diabetes Metab Res Rev 2024; 40: e3748
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