Diabetologische Notfälle: Hypo- und Hyperglykämie
Bericht:
Claudia Benetti, Medizinjournalistin
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Insulin oder Sulfonylharnstoffe sind die zweit- und vierthäufigste Ursache für eine Medikamenten-assoziierte Notfallhospitalisation.1 Anhand von zwei Fallbeispielen erklärte Prof. Dr. med. Roger Lehmann, Zürich, am FOMF Allgemeine Innere Medizin Update Refresher, wie man bei einem hypoglykämischen Koma und bei einer schweren Hyperglykämie vorgeht und wie man bei Letzterer eine nichtketotische Hyperglykämie von einer diabetischen Ketoazidose unterscheidet.
Keypoints
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Jede bewusstlose Person mit Diabetes hat bis zum Beweis des Gegenteils eine Hypoglykämie.
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Die Hypoglykämie wird bei erhaltenem Bewusstsein mit einem Süssgetränk, Traubenzucker oder Glukose-Gel korrigiert. Bei Bewusstlosigkeit wird mit einem Nasenspray Glukagon verabreicht.
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Zeichen einer nichtketotischen Hyperglykämie sind ein sehr hoher Blutzucker (>55mmol/l), normale Werte für pH und Bikarbonat, eine hohe Plasmaosmolalität, keine oder geringe Ketonkörper und häufig neurologische Symptome.
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Zeichen einer diabetischen Ketoazidose sind verminderte Werte für pH und Bikarbonat, erhöhte Ketonkörper und ein hoher Blutzucker (<44mmol/l).
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Die Behandlung der diabetischen Ketoazidose besteht in der i.v. Gabe von Insulin, Flüssigkeit und Kalium (bei Werten <6,0mmol/l).
Fallbeispiel 1 – Hypoglykämie
Ein etwa 45-jähriger Mann liegt bewusstlos am Boden in einem Shoppingcenter. Wonach suchen Sie? Was sind die wahrscheinlichste Diagnose und Therapie? Ist die Diagnose Diabetes-assoziiert oder nicht? Gibt es hinweisende Symptome oder Zeichen?
Anhaltspunkte für eine Diabetes-assoziierte Ursache der Bewusstlosigkeit liefern der rote Diabetesausweis, Zucker in der Tasche, ein Insulinpen, eine Insulinpumpe oder ein Blutzuckermessgerät. «Finden Sie einen solchen Hinweis, ist das hypoglykämische Koma in dieser Situation die wahrscheinlichste Diabetes-assoziierte Ursache für die Bewusstlosigkeit», erklärte Lehmann.
Differenzialdiagnostisch kommen neben dem hypoglykämischen Koma grundsätzlich auch eine diabetische Ketoazidose oder eine nichtketotische Hyperglykämie infrage. Bei der diabetischen Ketoazidose entwickeln sich die klassischen Symptome wie Polyurie, Nykturie, Schwäche, verschwommenes Sehen, Kussmaulatmung, Übelkeit, Erbrechen und Beinkrämpfe über Stunden bis Tage. «Diese Patient:innen fühlen sich krank und gehen nicht mehr in ein Shoppingcenter, weshalb diese Diagnose in der geschilderten Situation unwahrscheinlich ist», so der Referent.
Von einer Hypoglykämie spricht man bei einem Blutzucker ≤3,9mmol/l (Grad 1: <3,9 und ≥3,1mmol/l; Grad 2: <3,0mmol/l). Eine schwere oder sogenannte Grad-3-Hypoglykämie liegt unabhängig vom Blutzuckerwert vor, wenn sich der/die Betroffene nicht mehr selber behandeln kann (Abb. 1).2,3
Hypoglykämien kommen bei Diabetes Typ 1 (DT1) etwa 3-mal so oft vor wie bei Diabetes Typ 2 (DT2).4 Besonders gefährdet sind Patient:innen, die mit Insulin oder Sulfonylharnstoffen behandelt werden, und solche, die schon einmal eine schwere Hypoglykämie gehabt haben. Ein erhöhtes Risiko haben auch ältere Menschen und Patient:innen mit einem langjährigen Diabetes oder einer eingeschränkten Nierenfunktion. Bei Menschen ohne Diabetes ist eine Hypoglykämie sehr selten. Die häufigste Ursache ist in diesem Fall ein Insulinom.
«Die häufigsten Gründe für das Auftreten einer schweren Hypoglykämie sind die Missachtung der typischen Symptome und die fehlende Kohlenhydratzufuhr, das Fehlen von Hypoglykämiesymptomen oder eine zu hohe Dosis des Mahlzeiten- oder Korrekturinsulins», sagte Lehmann. Weitere Gründe sind die falsche Einschätzung der aufgenommenen Kohlenhydratmenge oder eine erhöhte körperliche Aktivität ohne Anpassung der Insulindosis und Erhöhung der Kohlenhydratzufuhr.
Therapeutisches Fenster nicht verpassen
Bei der Hypoglykämie treten in der ersten Phase autonome Symptome wie kalter Schweiss, Zittern, Hitzegefühl, Herzklopfen, schneller Puls, Blässe auf. Häufige unspezifische Zeichen sind Hunger, Schwäche, Schwindel oder Angst. «Es ist wichtig, dass bei den ersten Anzeichen einer Hypoglykämie sofort Glukose eingenommen und nicht zugewartet wird», betonte Lehmann. Sinkt der Blutzucker weiter, kommen neuroglykopene Symptome wie Denk-, Konzentrations-, Sprach- und Sehstörungen (v.a. Doppelbilder), Verwirrung, Desorientierung, Verhaltensstörungen (z.B. Aggressivität), fokale neurologische Ausfälle, Lethargie, Koma und Konvulsionen hinzu (Abb. 2)
Abb. 2: Glykämische Schwellenwerte (adaptiert nach R. Lehmann)
Sinkt der Blutzuckerspiegel, wird ab Werten von 4mmol/l die Insulinsekretion gestoppt. Gleichzeitig werden in der Leber die Glykogenolyse und die Glukoneogenese angekurbelt. Es ist wichtig, zu wissen, dass dieser gegenregulatorische Mechanismus nach dem Konsum von Alkohol eingeschränkt ist.
«Bei Blutzuckerwerten zwischen 3,9mmol/l und 2,6mmol/l besteht ein therapeutisches Fenster, in dem die autonomen Symptome auftreten und sich die Betroffenen durch Einnahme von Glukose noch selbst behandeln können. Dies geht am besten mit einem Süssgetränk, aber auch die Einnahme von 4–6 Stück Traubenzucker oder eines Glukose-Gels ist möglich», erklärte der Referent. Bei einer schweren Hypoglykämie mit Bewusstlosigkeit ist dies nicht mehr möglich. In diesem Fall wurde früher Glukagon i.m. gespritzt. Heute kann es viel einfacher mit einem Nasenspray (Baqsimi®) verabreicht werden. Alternativ ist die i.v. Gabe von Glukose möglich. «Wichtig ist, dass die Betroffenen, sobald sie wieder bei Bewusstsein sind, etwas essen, um den Blutzuckerspiegel nachhaltig zu erhöhen», betonte er.
Fallbeispiel 2 – Hyperglykämie
Ein 50-jähriger Versicherungskaufmann mit Diabetes mellitus seit einem Jahr wird seit der Diagnosestellung mit Metformin (einmal täglich 1000mg) behandelt. Nachkontrollen beim Hausarzt fanden keine statt. Anlässlich einer Notfallkonsultation misst der Hausarzt einen Blutzucker von 49mmol/l. Er entscheidet sich, den Patienten zu hospitalisieren, und rät ihm, bis dahin keine Kohlenhydrate mehr zu konsumieren. Was ist die wahrscheinlichste Diagnose?
«Allein mit diesen Informationen ist die wahrscheinlichste Diagnose bei diesem Mann mit einem DT2, der mit einer niedrigen Dosis Metformin behandelt wird, eine nichtketotische hyperosmolare Entgleisung», erklärte Lehmann. Eine Ketoazidose ist unwahrscheinlich, da der Patient keinen DT1 und keine schwere Erkrankung wie eine Sepsis hat. Eine Laktatazidose ist auch eher unwahrscheinlich, weil er Metformin nimmt, eher jung ist und keine schwere akute Erkrankung wie einen Herzinfarkt oder eine schwere COPD hat.
Aus der vertieften Anamnese auf der Notfallstation ergab sich, dass der Patient vor einem Jahr Sehstörungen beim Autofahren hatte und der Hausarzt darauf einen Gelegenheitsblutzucker von 8,6mmol/l gemessen und dann eine Therapie mit Metformin eingeleitet hat. Weiter berichtete der Patient, er habe vor zwei Monaten wieder Sehstörungen gehabt und seit zwei Wochen habe er vermehrt Durst. Auf die Frage, wie er den Durst gestillt habe, antwortete er, er habe Lust auf Süsses gehabt und 3 Liter Coca-Cola getrunken.
«Durch den Konsum von 3 Litern Coca-Cola hat der Patient rund 300g Zucker zu sich genommen, was unweigerlich zu einem rapiden Anstieg des Blutzuckers geführt hat», so Lehmann. «Sobald die Kohlenhydratzufuhr gestoppt wird, sinkt der Blutzucker wieder.»
Tatsächlich betrug der Blutzucker im Spital nur noch 18,1mmol/l. Das HbA
1c
war mit 13% aber sehr hoch. Des Weiteren fielen im Labor ein erhöhtes HDL-C, was bei DT2 eher untypisch ist, und erhöhte Triglyzeride auf. Letzteres kann ein Hinweis auf einen Insulinmangel sein. Die GFR war normal, eine Mikroalbuminurie bestand nicht. Die Laborergebnisse passten somit vorerst zur Vermutung einer nichtketotischen Hyperglykämie.
DD nichtketotische Hyperglykämie vs. diabetische Ketoazidose
Die auslösenden Ursachen sind bei der nichtketotischen Hyperglykämie ähnlich wie bei der diabetischen Ketoazidose, wobei zusätzlich immer der Konsum von grossen Mengen zuckerhaltiger Getränke hinzukommt. Häufig haben die Betroffenen neurologische Symptome wie Krampfanfälle, transiente Hemiparesen oder hemisensorische Ausfälle, Aphasie, homonyme Hemianopsie und einen positiven Babinski-Reflex. Oft wird deshalb fälschlicherweise die Diagnose eines zerebrovaskulären Insults gestellt. Der/die typische Patient:in ist über 60 Jahre alt, ein Diabetes ist nicht bekannt oder mild, und oft sind Bauchschmerzen vorhanden. Im Labor findet man im Allgemeinen einen sehr hohen Blutzucker (häufig >55mmol/l), eine hohe Plasmaosmolalität (>320–380mOsmol), normale Werte für pH und Bikarbonat und keine oder geringe Ketonkörper. Im Unterschied dazu sind bei der diabetischen Ketoazidose der pH (<7,2) und das Bikarbonat (<16mmol/l) vermindert, die Ketonkörper erhöht (>5mmol/l; mit einem Verhältnis von Beta-Hydroxybuttersäure zu Acetoacetat von 3:1), und der Blutzucker beträgt im Allgemeinen <44mmol/l.
Die Messung von Acetoacetat und Beta-Hydroxybuttersäure im Blut ist keine Routineuntersuchung. Heute stehen zur Quantifizierung der Azidose jedoch verschiedene Geräte zur Verfügung, welche die Ketonkörper im Blut messen (Freestyle Libre Keton, Ketosure POC und Swiss Point of Care GK Dual Ketone). Alternativ kann mit der Formel (Na++K+)–(Cl–+HCO3–) die Anionenlücke bestimmt werden. Werte zwischen 10 und 15mmol/l sind normal. Bei der diabetischen Ketoazidose beträgt die Anionenlücke 24–35mmol/l.
Beim Patienten im Fallbeispiel zeigte die venöse Blutgasanalyse einen pH von 6,9 und verminderte Werte für Natrium, Kaliumchlorid und Bikarbonat und eine Anionenlücke von 25. Im Gegensatz zur ursprünglichen Vermutung einer nichtketotischen Hyperglykämie hat der Patient somit eine klassische diabetische Ketoazidose. Die anamnestische Information eines DT2 und der hohe Konsum eines Süssgetränks haben hier auf die falsche Fährte geführt.
Um die korrekte Diabetesdiagnose zu stellen, wurden nun weitere anamnestische Informationen eingeholt. Es zeigte sich, dass die Familienanamnese für Diabetes mellitus negativ war, der Patient in den letzten drei Monaten ungewollt 4–5kg Gewicht verloren hatte und seit zwei Wochen an einer Balanitis litt.
«Diese Erkenntnisse sprechen dafür, dass der Mann mit grösster Wahrscheinlichkeit einen Diabetes Typ 1 hat. Bei 90% der Patient:innen mit DT1 ist die Familienanamnese negativ. Auch das hohe HbA1c und der ungewollte Gewichtsverlust sind typisch für einen DT1. Zudem spricht die Candida-Balanitis für eine erhöhte Glukoseausscheidung im Urin», erklärte Lehmann.
Gesichert wurde die Diagnose eines DT1 schliesslich durch den Nachweis von positiven Anti-GAD-, Anti-IA2- und Anti-ZnT8-Antikörpern und einer C-Peptid-Glukose-Ratio von 5,5, die einen absoluten Insulinmangel beweist.
Behandlung der diabetischen Ketoazidose
Die Therapie der diabetischen Ketoazidose besteht in der i.v. Gabe von Insulin (0,1E/kg/h über einen Perfusor) und der Infusion von Flüssigkeit (NaCl 0,9% 1l/h in der 1. Stunde, danach 0,5l/h). Sinkt der Blutzucker <15mmol/l, muss zusätzlich Glukose 10% infundiert werden. Ausserdem muss bei Kaliumwerten <6,0mmol/l über die Infusion Kalium supplementiert werden (10–20–30mmol/h).
Quelle:
FOMF Allgemeine Innere Medizin Update Refresher, 12. bis 16. Mai 2025, Zürich
Literatur:
1 Buchnitz DS et al.: Emergency hospitalizations for adverse drug events in older Americans. N Engl J Med 2011; 365: 2002-12 2 International Hypoglycemia Study Group: Glucose concentrations of less than 3.0mmol/L (54mg/dL) should be reported in clinical trials: a joint position statement of the American Diabetes Association and the European Association for the Study of Diabetes. Diabetes Care 2017; 40: 155-7 3 American Diabetes Association Professional Practice Committee: 6. Glycemic Goals and Hypoglycemia: Standards of medical care in diabetes—2025. Diabetes Care 2025; 48(Suppl 1): S128-45 4 Donnelly LA et al.: Frequency and predictors of hypoglycaemia in type 1 and insulin-treated type 2 diabetes: a population-based study. Diabet Med 2005; 22: 749-55
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