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Advanced Technologies & Treatments for Diabetes (ATTD) 20.–23. Februar 2019, Berlin

Diabetestherapie 2019: Hat das HbA1c ausgedient?

<p class="article-intro">Das HbA<sub>1c</sub> ist seit Jahrzehnten der Standardparameter dafür, ob beim Patienten die glykämische Kontrolle gegeben ist. Mit verbesserten Technologien zur Blutzuckermessung bietet sich jedoch zunehmend ein anderer Parameter als Alternative oder Ergänzung an. Neben dem HbA<sub>1c</sub> dürfte für Patienten, die ein System zur kontinuierlichen Glukosemessung verwenden, die Zeit, die der Patient im Zielbereich verbringt, die «time in range», an Bedeutung gewinnen. Im Rahmen des ATTD-Kongresses in Berlin wurde deshalb ein Expertenkonsensus zur «time in range» vorbereitet.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>HbA<sub>1c</sub> ist kein perfekter Parameter f&uuml;r die glyk&auml;mische Kontrolle eines Diabetespatienten.</li> <li>Es wird an einem Konsensus gearbeitet, die Zeit im Zielbereich (&laquo;time in range&raquo;, TIR) als wichtigen Parameter einzuf&uuml;hren.</li> <li>Die Zeit im Zielbereich korreliert mit wichtigen Endpunkten wie Entwicklung und Progression einer Retinopathie und Auftreten von Mikroalbuminurien.</li> <li>Eine Expertengruppe empfiehlt, dass die Patienten zumindest 70 % der Zeit innerhalb der TIR 70&ndash;180 bleiben sollen, was einem HbA<sub>1c</sub> von 7,0 entspricht, wobei die Zeit unter 70 mg/dl 4 % und die Zeit unter 54 mg/dl 1 % nicht &uuml;bersteigen sollte.</li> <li>Die am besten gesicherten und ausf&uuml;hrlichsten Zielwerte gibt es bereits f&uuml;r Diabetes w&auml;hrend der Schwangerschaft.</li> </ul> </div> <p>Die Geschichte des HbA<sub>1c</sub> beginnt im Jahr 1968 mit einer Publikation des 2012 verstorbenen iranischen Arztes Dr. Samuel Rahbar &uuml;ber auff&auml;lliges H&auml;moglobin in den Erythrozyten von Diabetikern.<sup>1</sup> Rahbar forschte sp&auml;ter in den USA weiter und konnte schliesslich eine Assoziation von HbA<sub>1c</sub>-Spiegel und Blutzuckerwerten beschreiben. &laquo;Damit ist HbA<sub>1c</sub> seit rund 35 Jahren der wichtigste Biomarker sowohl in der klinischen Diabetesforschung als auch im klinischen Alltag. Seit den 1980er-Jahren wurden alle &Auml;rzte in der Interpretation von HbA<sub>1c</sub> geschult. Und auch f&uuml;r die meisten Patienten ist HbA<sub>1c</sub> die Messlatte f&uuml;r ihre Diabeteskontrolle&raquo;, sagt Prof. Dr. Irl Hirsch von der University of Washington School of Medicine in Seattle, USA. Allerdings habe man auch bereits von Anfang an gewusst, dass die Ausrichtung am HbA<sub>1c</sub> Limitationen hat.<br /> Im Zeitalter der kontinuierlichen Glukosemessung werden diese Schwachstellen nun besser verstanden. Sie liegen einerseits in der Aussagekraft von HbA<sub>1c</sub>-Werten, andererseits aber auch in den vielen patientenspezifischen Faktoren, die das HbA<sub>1c</sub> unabh&auml;ngig von der Glukose beeinflussen k&ouml;nnen.</p> <p>Bereits mit den ersten Systemen zur kontinuierlichen Glukosemessung konnte gezeigt werden, dass man die HbA<sub>1c</sub>-Werte zweier Personen nur schlecht miteinander vergleichen kann und dass ein und derselbe HbA<sub>1c</sub>-Wert f&uuml;r sehr unterschiedliche durchschnittliche Glukosewerte stehen kann.<sup>2</sup> Hirsch nennt als m&ouml;gliche Ursachen dieser Unsch&auml;rfen h&auml;ufige Komorbidit&auml;ten des Diabetes mellitus wie An&auml;mie, Nierenerkrankungen oder nichtalkoholische Fettlebererkrankung (NASH). So liege die Wahrscheinlichkeit, dass der HbA<sub>1c</sub>-Wert gut mit dem Blutzuckerwert korreliert, bei Patienten mit deutlich eingeschr&auml;nkter Nierenfunktion nur bei rund 50 %. Hinzu kommt, dass das Ph&auml;nomen der HbA<sub>1c</sub>-Diskordanz noch wenig verstanden wird. Aus diesem Grund sei es, so Hirsch, sinnvoller, jene Zeit zu betrachten, in der die Blutzuckerwerte in einem bestimmten Zielbereich liegen.</p> <h2>Korreliert &laquo;time in range&raquo; mit klinischen Endpunkten?</h2> <p>Das Problem sei nun, so Hirsch, dass &laquo;time in range&raquo; (TIR) bislang nicht in grossen Studien mit den klinischen Endpunkten korreliert wurde und daher von der diabetologischen Community nur langsam und zum Teil widerwillig akzeptiert werde. Das habe sich nun mit einer k&uuml;rzlich ver&ouml;ffentlichten Publikation ver&auml;ndert, die anhand der Daten aus dem Diabetes Control and Complications Trial (DCCT) die Assoziation von TIR (70&ndash;180 mg/dl) mit der Progression von Retinopathie und dem Auftreten von Mikroalbuminurie untersuchte.<sup>3</sup> Ziel der Studie war die Validierung von TIR als Outcome-Parameter in klinischen Studien. Dabei standen aus der DCCT-Studie nicht einmal CGM-Daten zur Verf&uuml;gung, sondern es wurden Blutzuckerprofile anhand von 7-Punkte-Messungen (n&uuml;chtern und 90 Minuten postprandial) herangezogen. Die Studie zeigte eine durchschnittliche TIR der 1440 Teilnehmer von 41 % &plusmn; 16 %. In der Auswertung zeigte sich, dass die TIR hochsignifikant (p &lt; 0,001) mit den mikrovaskul&auml;ren Endpunkten korreliert. Mit jeder Abnahme der TIR um 10 % stieg das Risiko f&uuml;r die Progression einer Retinopathie um 64 % (95 % CI: 51 %&ndash;78 %) und f&uuml;r das Auftreten von Mikroalbuminurien um 40 % (95 % CI: 25 %&ndash;56 %). Nach Ansicht der Autoren eignet sich TIR damit als Endpunktparameter f&uuml;r klinische Studien. Dies m&uuml;sste umso mehr zutreffen, wenn statt der 7-Punkte- Messung eine kontinuierliche Glukosemessung herangezogen wird. Aktuell publizierte Daten zeigen, dass die Erkenntnisse auch f&uuml;r die Entwicklung einer Retinopathie bei Typ-2-Diabetes gilt.<sup>4</sup> Basierend auf diesen Ergebnissen f&uuml;hrten Hirsch und seine Gruppe im Dezember 2018 eine Umfrage unter 100 Personen im Gesundheitswesen durch, mit den Fragen: &laquo;Sind unsere Patienten bereit f&uuml;r eine Ver&auml;nderung?&raquo; (von HbA<sub>1c</sub> zu TIR), &laquo;Sind Endokrinologen bereit f&uuml;r eine Ver&auml;nderung?&raquo; und &laquo;Sind Nichtendokrinologen bereit f&uuml;r eine Ver&auml;nderung? &raquo; Interessanterweise ergab die Umfrage, dass am ehesten den Patienten die Umstellung zugetraut wurde, denn etwas mehr als die H&auml;lfte der Befragten trauten den Patienten die Umstellung zu. Als &auml;hnlich innovationsfreudig wurden Endokrinologen eingesch&auml;tzt. Anders dagegen bei den Nichtendokrinologen &ndash; hier fiel die Befragung zur Umstellung von HbA<sub>1c</sub> auf TIR negativ aus. Viele der Befragten kommentierten ihre Antworten auch. Bemerkenswert fand Hirsch den Kommentar &laquo;Eher werden die USA Fussballweltmeister &raquo;.</p> <h2>Neuer ATTD-Konsensus zur &laquo;time in range&raquo; in Vorbereitung</h2> <p>Um den aktuellen Wissensstand zum Thema TIR in konkrete Empfehlungen zu giessen, traf sich im Rahmen des ATTD-Kongresses in Berlin eine internationale Expertenrunde, um einen Konsensus zum Thema TIR vorzubereiten. Prof. Dr. Tadej Battelino von der Universit&auml;t Ljubljana gab in Berlin einen ersten Ausblick auf das in Vorbereitung befindliche Dokument. Die Experten arbeiteten daf&uuml;r eine Reihe von Fragen ab.</p> <p><strong>Was sind verl&auml;ssliche Daten, um TIR zu beurteilen?</strong><br /> Hier verwies Battelino auf Studiendaten, die zeigen, dass die Variabilit&auml;t der Daten aus der CGM-Messung nach sieben Tagen abnimmt. Dies w&uuml;rde bedeuten, dass eine Woche CGM gen&uuml;gt, um ein aussagekr&auml;ftiges Blutzuckerprofil zu erhalten. Um auch seltenere Ereignisse erfassen zu k&ouml;nnen, habe man sich jedoch entschieden, 14-Tage-CGM-Daten, von denen mindestens 70 % der Daten verf&uuml;gbar sein m&uuml;ssen, zur verl&auml;sslichen Bewertung einzufordern. Alternativ kann auch ein vollst&auml;ndiger Datensatz von zehn Tagen CGM herangezogen werden.</p> <p><strong>Welcher Parameter ist am besten geeignet, um die Glukosevariabilit&auml;t zu erfassen?</strong><br /> Hier orientierten sich die Experten an Daten, die nahelegen, dass sowohl die Glukosevariabilit&auml;t (GV) als auch der &laquo;low blood glucose index&raquo; (LBGI) aussagekr&auml;ftiger sind, wenn man sie gemeinsam ben&uuml;tzt. Ausserdem sind diese beiden Parameter gut mit der Zeit unter 70 mg/dl bzw. der Zeit unter 54 mg/dl assoziiert. Daher wurde beschlossen, keine Empfehlung hinsichtlich der Glukosevariabilit&auml;t zu geben und auf die Empfehlungen zu den Zeiten unter 70 mg/dl und unter 54 mg/dl aus dem ATTD-CGM-Konsensus von 2017 zu verweisen.</p> <p><strong>Welche TIR-Ziele k&ouml;nnen f&uuml;r das Management des Typ-1-Diabetes empfohlen werden?</strong><br /> Battelino unterstreicht, dass TIR-Ziele zus&auml;tzlich zu den generellen Zielen im Management des Typ-1-Diabetes betrachtet werden m&uuml;ssen. Das Glukosemanagement soll optimiert werden, und dabei sollten Hypoglyk&auml;mien vermieden und nicht zuletzt auch die Lebensqualit&auml;t verbessert werden. F&uuml;r die Frage nach der Rolle der TIR stehen seit Kurzem Daten aus einer Analyse mehrerer grosser Studien zur Verf&uuml;gung, die die Beziehung zwischen TIR 70&ndash;180 mg/dl (TIR 70&ndash;180) und HbA<sub>1c</sub> untersuchte. Obwohl die Korrelation relativ schwach war, entsprach eine TIR von 70 % einem HbA<sub>1c</sub> in der Gr&ouml;ssenordnung von 7 %.<sup>5</sup> W&auml;hlte man die strengere TIR 70&ndash; 140, so ergab sich ein HbA<sub>1c</sub> um die 6 %, wenn Patienten zu 70 % im Zielbereich blieben. Eine Ver&auml;nderung der TIR um 10 % entsprach einer Ver&auml;nderung des HbA<sub>1c</sub> um rund einen halben Prozentpunkt. In einer weiteren aktuellen Arbeit wurde diese Korrelation best&auml;tigt.<sup>6</sup> Daher empfiehlt die Expertengruppe, dass die Patienten mindestens 70 % der Zeit innerhalb der TIR 70&ndash;180 bleiben sollen. Man wisse, so Battelino, dass dieses Ziel nicht f&uuml;r alle Patienten sofort erreichbar sein wird, und empfiehlt eine langsame Ann&auml;herung. Die Zeit unter 70 mg/dl sollte 4 % und die Zeit unter 54 mg/dl 1 % nicht &uuml;bersteigen. F&uuml;r gebrechliche Patienten werden weniger strenge Ziele gefordert.</p> <p><strong>Welche TIR-Ziele k&ouml;nnen f&uuml;r das Management des Typ-2-Diabetes empfohlen werden?</strong><br /> F&uuml;r den Typ-2-Diabetes wurden die gleichen TIR-Ziele festgelegt wie f&uuml;r den Typ-1-Diabetes. Battelino weist darauf hin, dass es gerade f&uuml;r den Typ-2-Diabetes eine &uuml;berraschend gute Datenlage gibt, die alles in allem das gleiche Bild ergibt: 70 % der Zeit in TIR 70&ndash;180 entspricht einem HbA<sub>1c</sub> um die 7 %.<sup>6</sup> Mit mehr oder strengerer TIR sinkt das HbA<sub>1c</sub>. Die Empfehlung gilt f&uuml;r alle Therapien des Typ-2-Diabetes und nicht nur f&uuml;r die Insulintherapie. Battelino: &laquo;Je mehr TIR, desto besser. Kann das Ziel mit einer Therapie nicht erreicht werden, so sollte man die Therapie &auml;ndern und nicht das Ziel.&raquo;</p> <p><strong>Welche TIR-Ziele k&ouml;nnen f&uuml;r das Management von Diabetes w&auml;hrend der Schwangerschaft empfohlen werden?</strong><br /> Zu dieser Fragestellung gibt es aktuell die beste Evidenz &ndash; und zwar aus der 2017 publizierten, randomisierten, multizentrischen CONCEPTT-Studie.<sup>7</sup> Basierend auf diesen Daten wird f&uuml;r schwangere Typ-1-Diabetikerinnen ein Ziel von mindestens 70 % TIR 70&ndash;140 empfohlen. Die Zeit unter 63 mg/dl Glukose sollte unter 4 % bleiben und die Zeit &uuml;ber 140 mg/dl unter 25 %. Bei Typ-2- oder Gestationsdiabetes werden 85&ndash;90 % TIR 70&ndash;140 empfohlen. Die Zeit unter 63 mg/dl Glukose sollte unter 4 % bleiben und die Zeit &uuml;ber 140 mg/dl unter 10 %. Battelino: &laquo;Wir denken, dass TIR f&uuml;r viele Patienten intuitiv besser verst&auml;ndlich ist als HbA<sub>1c</sub>. Damit sollte die Belastung durch die Erkrankung geringer werden. Dar&uuml;ber hinaus hat TIR auch den Vorteil, dass Patienten sofort sehen, ob sie sich mit ihrer Therapie im Zielbereich bewegen, und nicht auf das n&auml;chste HbA<sub>1c</sub> warten m&uuml;ssen.&raquo;</p></p> <p class="article-quelle">Quelle: «Time in Ranges (TIRS)», Parallel Session im Rahmen des ATTD 2019 (Advanced Technologies & Treatments for Diabetes), 21. Februar 2019, Berlin </p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Rahbar S: Clin Chim Acta 1968; 22: 296-8 <strong>2</strong> Nathan DM et al.: Diabetes Care 2008; 31: 1473-8 <strong>3</strong> Beck RW et al.: Diabetes Care 2019; 42: 400-5 <strong>4</strong> Lu J et al.: Diabetes Care 2018; 41: 2370-6 <strong>5</strong> Beck RW et al.: J Diabetes Sci Technol 2019. [Epub ahead of print] <strong>6</strong> Vigersky RA, McMahon C: Diabetes Technol Ther 2019; 21: 81-5 <strong>7</strong> Feig DS et al.: Lancet 2017; 390: 2347-59</p> </div> </p>
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