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Diabetestherapie 2019: Hat das HbA1c ausgedient?
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16.05.2019
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<p class="article-intro">Das HbA<sub>1c</sub> ist seit Jahrzehnten der Standardparameter dafür, ob beim Patienten die glykämische Kontrolle gegeben ist. Mit verbesserten Technologien zur Blutzuckermessung bietet sich jedoch zunehmend ein anderer Parameter als Alternative oder Ergänzung an. Neben dem HbA<sub>1c</sub> dürfte für Patienten, die ein System zur kontinuierlichen Glukosemessung verwenden, die Zeit, die der Patient im Zielbereich verbringt, die «time in range», an Bedeutung gewinnen. Im Rahmen des ATTD-Kongresses in Berlin wurde deshalb ein Expertenkonsensus zur «time in range» vorbereitet.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>HbA<sub>1c</sub> ist kein perfekter Parameter für die glykämische Kontrolle eines Diabetespatienten.</li> <li>Es wird an einem Konsensus gearbeitet, die Zeit im Zielbereich («time in range», TIR) als wichtigen Parameter einzuführen.</li> <li>Die Zeit im Zielbereich korreliert mit wichtigen Endpunkten wie Entwicklung und Progression einer Retinopathie und Auftreten von Mikroalbuminurien.</li> <li>Eine Expertengruppe empfiehlt, dass die Patienten zumindest 70 % der Zeit innerhalb der TIR 70–180 bleiben sollen, was einem HbA<sub>1c</sub> von 7,0 entspricht, wobei die Zeit unter 70 mg/dl 4 % und die Zeit unter 54 mg/dl 1 % nicht übersteigen sollte.</li> <li>Die am besten gesicherten und ausführlichsten Zielwerte gibt es bereits für Diabetes während der Schwangerschaft.</li> </ul> </div> <p>Die Geschichte des HbA<sub>1c</sub> beginnt im Jahr 1968 mit einer Publikation des 2012 verstorbenen iranischen Arztes Dr. Samuel Rahbar über auffälliges Hämoglobin in den Erythrozyten von Diabetikern.<sup>1</sup> Rahbar forschte später in den USA weiter und konnte schliesslich eine Assoziation von HbA<sub>1c</sub>-Spiegel und Blutzuckerwerten beschreiben. «Damit ist HbA<sub>1c</sub> seit rund 35 Jahren der wichtigste Biomarker sowohl in der klinischen Diabetesforschung als auch im klinischen Alltag. Seit den 1980er-Jahren wurden alle Ärzte in der Interpretation von HbA<sub>1c</sub> geschult. Und auch für die meisten Patienten ist HbA<sub>1c</sub> die Messlatte für ihre Diabeteskontrolle», sagt Prof. Dr. Irl Hirsch von der University of Washington School of Medicine in Seattle, USA. Allerdings habe man auch bereits von Anfang an gewusst, dass die Ausrichtung am HbA<sub>1c</sub> Limitationen hat.<br /> Im Zeitalter der kontinuierlichen Glukosemessung werden diese Schwachstellen nun besser verstanden. Sie liegen einerseits in der Aussagekraft von HbA<sub>1c</sub>-Werten, andererseits aber auch in den vielen patientenspezifischen Faktoren, die das HbA<sub>1c</sub> unabhängig von der Glukose beeinflussen können.</p> <p>Bereits mit den ersten Systemen zur kontinuierlichen Glukosemessung konnte gezeigt werden, dass man die HbA<sub>1c</sub>-Werte zweier Personen nur schlecht miteinander vergleichen kann und dass ein und derselbe HbA<sub>1c</sub>-Wert für sehr unterschiedliche durchschnittliche Glukosewerte stehen kann.<sup>2</sup> Hirsch nennt als mögliche Ursachen dieser Unschärfen häufige Komorbiditäten des Diabetes mellitus wie Anämie, Nierenerkrankungen oder nichtalkoholische Fettlebererkrankung (NASH). So liege die Wahrscheinlichkeit, dass der HbA<sub>1c</sub>-Wert gut mit dem Blutzuckerwert korreliert, bei Patienten mit deutlich eingeschränkter Nierenfunktion nur bei rund 50 %. Hinzu kommt, dass das Phänomen der HbA<sub>1c</sub>-Diskordanz noch wenig verstanden wird. Aus diesem Grund sei es, so Hirsch, sinnvoller, jene Zeit zu betrachten, in der die Blutzuckerwerte in einem bestimmten Zielbereich liegen.</p> <h2>Korreliert «time in range» mit klinischen Endpunkten?</h2> <p>Das Problem sei nun, so Hirsch, dass «time in range» (TIR) bislang nicht in grossen Studien mit den klinischen Endpunkten korreliert wurde und daher von der diabetologischen Community nur langsam und zum Teil widerwillig akzeptiert werde. Das habe sich nun mit einer kürzlich veröffentlichten Publikation verändert, die anhand der Daten aus dem Diabetes Control and Complications Trial (DCCT) die Assoziation von TIR (70–180 mg/dl) mit der Progression von Retinopathie und dem Auftreten von Mikroalbuminurie untersuchte.<sup>3</sup> Ziel der Studie war die Validierung von TIR als Outcome-Parameter in klinischen Studien. Dabei standen aus der DCCT-Studie nicht einmal CGM-Daten zur Verfügung, sondern es wurden Blutzuckerprofile anhand von 7-Punkte-Messungen (nüchtern und 90 Minuten postprandial) herangezogen. Die Studie zeigte eine durchschnittliche TIR der 1440 Teilnehmer von 41 % ± 16 %. In der Auswertung zeigte sich, dass die TIR hochsignifikant (p < 0,001) mit den mikrovaskulären Endpunkten korreliert. Mit jeder Abnahme der TIR um 10 % stieg das Risiko für die Progression einer Retinopathie um 64 % (95 % CI: 51 %–78 %) und für das Auftreten von Mikroalbuminurien um 40 % (95 % CI: 25 %–56 %). Nach Ansicht der Autoren eignet sich TIR damit als Endpunktparameter für klinische Studien. Dies müsste umso mehr zutreffen, wenn statt der 7-Punkte- Messung eine kontinuierliche Glukosemessung herangezogen wird. Aktuell publizierte Daten zeigen, dass die Erkenntnisse auch für die Entwicklung einer Retinopathie bei Typ-2-Diabetes gilt.<sup>4</sup> Basierend auf diesen Ergebnissen führten Hirsch und seine Gruppe im Dezember 2018 eine Umfrage unter 100 Personen im Gesundheitswesen durch, mit den Fragen: «Sind unsere Patienten bereit für eine Veränderung?» (von HbA<sub>1c</sub> zu TIR), «Sind Endokrinologen bereit für eine Veränderung?» und «Sind Nichtendokrinologen bereit für eine Veränderung? » Interessanterweise ergab die Umfrage, dass am ehesten den Patienten die Umstellung zugetraut wurde, denn etwas mehr als die Hälfte der Befragten trauten den Patienten die Umstellung zu. Als ähnlich innovationsfreudig wurden Endokrinologen eingeschätzt. Anders dagegen bei den Nichtendokrinologen – hier fiel die Befragung zur Umstellung von HbA<sub>1c</sub> auf TIR negativ aus. Viele der Befragten kommentierten ihre Antworten auch. Bemerkenswert fand Hirsch den Kommentar «Eher werden die USA Fussballweltmeister ».</p> <h2>Neuer ATTD-Konsensus zur «time in range» in Vorbereitung</h2> <p>Um den aktuellen Wissensstand zum Thema TIR in konkrete Empfehlungen zu giessen, traf sich im Rahmen des ATTD-Kongresses in Berlin eine internationale Expertenrunde, um einen Konsensus zum Thema TIR vorzubereiten. Prof. Dr. Tadej Battelino von der Universität Ljubljana gab in Berlin einen ersten Ausblick auf das in Vorbereitung befindliche Dokument. Die Experten arbeiteten dafür eine Reihe von Fragen ab.</p> <p><strong>Was sind verlässliche Daten, um TIR zu beurteilen?</strong><br /> Hier verwies Battelino auf Studiendaten, die zeigen, dass die Variabilität der Daten aus der CGM-Messung nach sieben Tagen abnimmt. Dies würde bedeuten, dass eine Woche CGM genügt, um ein aussagekräftiges Blutzuckerprofil zu erhalten. Um auch seltenere Ereignisse erfassen zu können, habe man sich jedoch entschieden, 14-Tage-CGM-Daten, von denen mindestens 70 % der Daten verfügbar sein müssen, zur verlässlichen Bewertung einzufordern. Alternativ kann auch ein vollständiger Datensatz von zehn Tagen CGM herangezogen werden.</p> <p><strong>Welcher Parameter ist am besten geeignet, um die Glukosevariabilität zu erfassen?</strong><br /> Hier orientierten sich die Experten an Daten, die nahelegen, dass sowohl die Glukosevariabilität (GV) als auch der «low blood glucose index» (LBGI) aussagekräftiger sind, wenn man sie gemeinsam benützt. Ausserdem sind diese beiden Parameter gut mit der Zeit unter 70 mg/dl bzw. der Zeit unter 54 mg/dl assoziiert. Daher wurde beschlossen, keine Empfehlung hinsichtlich der Glukosevariabilität zu geben und auf die Empfehlungen zu den Zeiten unter 70 mg/dl und unter 54 mg/dl aus dem ATTD-CGM-Konsensus von 2017 zu verweisen.</p> <p><strong>Welche TIR-Ziele können für das Management des Typ-1-Diabetes empfohlen werden?</strong><br /> Battelino unterstreicht, dass TIR-Ziele zusätzlich zu den generellen Zielen im Management des Typ-1-Diabetes betrachtet werden müssen. Das Glukosemanagement soll optimiert werden, und dabei sollten Hypoglykämien vermieden und nicht zuletzt auch die Lebensqualität verbessert werden. Für die Frage nach der Rolle der TIR stehen seit Kurzem Daten aus einer Analyse mehrerer grosser Studien zur Verfügung, die die Beziehung zwischen TIR 70–180 mg/dl (TIR 70–180) und HbA<sub>1c</sub> untersuchte. Obwohl die Korrelation relativ schwach war, entsprach eine TIR von 70 % einem HbA<sub>1c</sub> in der Grössenordnung von 7 %.<sup>5</sup> Wählte man die strengere TIR 70– 140, so ergab sich ein HbA<sub>1c</sub> um die 6 %, wenn Patienten zu 70 % im Zielbereich blieben. Eine Veränderung der TIR um 10 % entsprach einer Veränderung des HbA<sub>1c</sub> um rund einen halben Prozentpunkt. In einer weiteren aktuellen Arbeit wurde diese Korrelation bestätigt.<sup>6</sup> Daher empfiehlt die Expertengruppe, dass die Patienten mindestens 70 % der Zeit innerhalb der TIR 70–180 bleiben sollen. Man wisse, so Battelino, dass dieses Ziel nicht für alle Patienten sofort erreichbar sein wird, und empfiehlt eine langsame Annäherung. Die Zeit unter 70 mg/dl sollte 4 % und die Zeit unter 54 mg/dl 1 % nicht übersteigen. Für gebrechliche Patienten werden weniger strenge Ziele gefordert.</p> <p><strong>Welche TIR-Ziele können für das Management des Typ-2-Diabetes empfohlen werden?</strong><br /> Für den Typ-2-Diabetes wurden die gleichen TIR-Ziele festgelegt wie für den Typ-1-Diabetes. Battelino weist darauf hin, dass es gerade für den Typ-2-Diabetes eine überraschend gute Datenlage gibt, die alles in allem das gleiche Bild ergibt: 70 % der Zeit in TIR 70–180 entspricht einem HbA<sub>1c</sub> um die 7 %.<sup>6</sup> Mit mehr oder strengerer TIR sinkt das HbA<sub>1c</sub>. Die Empfehlung gilt für alle Therapien des Typ-2-Diabetes und nicht nur für die Insulintherapie. Battelino: «Je mehr TIR, desto besser. Kann das Ziel mit einer Therapie nicht erreicht werden, so sollte man die Therapie ändern und nicht das Ziel.»</p> <p><strong>Welche TIR-Ziele können für das Management von Diabetes während der Schwangerschaft empfohlen werden?</strong><br /> Zu dieser Fragestellung gibt es aktuell die beste Evidenz – und zwar aus der 2017 publizierten, randomisierten, multizentrischen CONCEPTT-Studie.<sup>7</sup> Basierend auf diesen Daten wird für schwangere Typ-1-Diabetikerinnen ein Ziel von mindestens 70 % TIR 70–140 empfohlen. Die Zeit unter 63 mg/dl Glukose sollte unter 4 % bleiben und die Zeit über 140 mg/dl unter 25 %. Bei Typ-2- oder Gestationsdiabetes werden 85–90 % TIR 70–140 empfohlen. Die Zeit unter 63 mg/dl Glukose sollte unter 4 % bleiben und die Zeit über 140 mg/dl unter 10 %. Battelino: «Wir denken, dass TIR für viele Patienten intuitiv besser verständlich ist als HbA<sub>1c</sub>. Damit sollte die Belastung durch die Erkrankung geringer werden. Darüber hinaus hat TIR auch den Vorteil, dass Patienten sofort sehen, ob sie sich mit ihrer Therapie im Zielbereich bewegen, und nicht auf das nächste HbA<sub>1c</sub> warten müssen.»</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: «Time in Ranges (TIRS)», Parallel Session im Rahmen des
ATTD 2019 (Advanced Technologies & Treatments for Diabetes),
21. Februar 2019, Berlin
</p>
<p class="article-footer">
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<p><strong>1</strong> Rahbar S: Clin Chim Acta 1968; 22: 296-8 <strong>2</strong> Nathan DM et al.: Diabetes Care 2008; 31: 1473-8 <strong>3</strong> Beck RW et al.: Diabetes Care 2019; 42: 400-5 <strong>4</strong> Lu J et al.: Diabetes Care 2018; 41: 2370-6 <strong>5</strong> Beck RW et al.: J Diabetes Sci Technol 2019. [Epub ahead of print] <strong>6</strong> Vigersky RA, McMahon C: Diabetes Technol Ther 2019; 21: 81-5 <strong>7</strong> Feig DS et al.: Lancet 2017; 390: 2347-59</p>
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