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Diabetes mellitus praxisnah
Jatros
30
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13.11.2018
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<p class="article-intro">Nach Angaben der Österreichischen Diabetes Gesellschaft (ÖDG) sind in Österreich etwa 600 000 Menschen an Diabetes erkrankt. Bis zu 90 % von ihnen sind Typ-2-Diabetiker, rund 30 000 leiden an Typ-1-Diabetes, davon etwa 3000 Kinder und Jugendliche.<sup>1</sup> Nicht nur Diabetologen, sondern auch Pädiater und Allgemeinmediziner haben daher häufig mit dieser Krankheit zu tun. Aus diesem Grund drehte sich beim Kongress des Ordensklinikums Linz alles um verschiedene Facetten des Diabetes mellitus.</p>
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<p class="article-content"><h2>Die Qual der Wahl – welches Medikament für welchen Patienten?</h2> <p>Für die Diabetestherapie stehen inzwischen zahlreiche Medikamente zur Verfügung. Welches Medikament für welchen Patienten das richtige ist, war Thema des Vortrages von Dr. Edith Hartmann, Oberärztin am Ordensklinikum Barmherzige Schwestern Elisabethinen Linz. Sie stellte die neue Klassifikation beim Typ-2-Diabetes vor, die anhand der sechs Variablen Glutamat-Decarboxylase-Antikörper, Alter zum Diagnosezeitpunkt, Body-Mass-Index (BMI), HbA<sub>1c</sub>, Betazellfunktion und Insulinresistenz fünf Diabetesklassen definiert.<sup>2</sup> Nach dieser Einteilung ist die häufigste Form ein milder altersbedingter Diabetes (MARD), gefolgt von einem milden, auf Adipositas beruhenden Diabetes (MOD), von dem adipöse, jüngere Menschen betroffen sind. Etwas seltener, aber mit mehr Folgekomplikationen einhergehend, sind die Formen mit schwerer Insulinresistenz (SIRD) sowie mit moderater Insulinresistenz und reduzierter Insulinproduktion (SIDD). Untersuchungen hätten gezeigt, dass bei SIRD gehäuft Retinopathien auftreten, während bei SIRD-Patienten die Nephropathie vorherrscht, erklärte Hartmann. Die fünfte Gruppe umfasst Patienten mit schwerem autoimmunbedingtem Diabetes, der aber anders als der Typ- 1-Diabetes erst im Erwachsenenalter beginnt (SAID).<sup>2</sup> Diese Klassifikation kann als Basis für die Therapiewahl genutzt werden.</p> <h2>Hürden der Therapie bei Typ-2-Diabetikern</h2> <p>Hartmann betonte, dass die Betreuung von Diabetespatienten häufig sehr zeitaufwendig ist. Gerade bei Typ-2-Diabetikern sei der Leidensdruck meist gering und es bedürfe einer umfassenden Aufklärung und Schulung, damit sie die Notwendigkeit der Therapie einsehen. Die Leitlinien, die derzeit überarbeitet werden, ließen oft viel Spielraum und seien deshalb nicht immer hilfreich. Da die neuen Leitlinien sich stärker an den US-amerikanischen Guidelines ausrichten werden, erläuterte Hartmann deren Therapieschema. Die Grundlage der Therapie bei Typ-2-Diabetes ist die Veränderung des Lebensstils hin zu einer ausgewogenen Ernährung, regelmäßiger Bewegung und Gewichtsverlust. Zugleich sollte ein Zielwert für den HbA<sub>1c</sub> gesetzt werden – bei den meisten Patienten ist ein Wert von maximal 7 % ausreichend.<sup>3</sup> Liegt der HbA<sub>1c</sub> unter 7,5 % raten die US-Leitlinien zu einer Monotherapie mit Metformin; bei Werten darüber sollte mit einer dualen oder Tripeltherapie begonnen werden. Bei Patienten mit einem HbA<sub>1c</sub> ≥10 % und Symptomen sollte eine Insulintherapie erwogen werden.<sup>3</sup> Metformin ist auch bei Diabetikern mit eingeschränkter Nierenfunktion (GFR <60 ml/min) Mittel der Wahl. Die EMA hat es inzwischen in reduzierter Dosis (maximal 1000mg aufgeteilt auf zwei Dosen) bis zu einer GFR von 30 ml/min zugelassen. Die Nierenfunktion sollte dabei alle drei Monate kontrolliert werden.<sup>4</sup> Die Zugabe eines weiteren Medikaments hängt ab von individuellen Bedingungen, zum Beispiel kardiovaskulären Vorerkrankungen, häufigen Hypoglykämien oder der Notwendigkeit der Gewichtsreduktion. Hartmann zeigte eine Entscheidungshilfe für die tägliche Praxis (Tab. 1).<sup>5</sup> Die Wahl der Medikamente sei dagegen schwieriger, da hier die Datenlage schwächer sei, so Hartmann. Laut US-Leitlinien sollte die Auswahl anhand der Wirkungen und Nebenwirkungen der Substanzen und der individuellen Bedürfnisse des Patienten erfolgen.<sup>3</sup><br /> Wird eine Insulintherapie bei Typ-2- Diabetes erwogen, handelt es sich meist um eine Basalinsulin-unterstützte orale Therapie (BOT). Die Gabe des Basalinsulins kann mit zehn Einheiten (10 IU) Basalinsulin täglich begonnen werden. Wird der Blutglukosezielwert damit nicht erreicht, wird die Dosis um zwei bis vier Einheiten ein- bis zweimal wöchentlich angepasst. Eine Intensivierung dieses Regimes zu einer Basis-Bolus-Therapie (BBT) bzw. intensivierten konventionellen Insulintherapie (ICT) mit einem lang- und einem kurzwirksamen Insulin ist möglich.<sup>3</sup> Bei Patienten mit Typ-2-Diabetes, die aufgrund ihrer Lebensumstände, Fähigkeiten und Fertigkeiten mit einer BBT überfordert sind, sollte die Insulintherapie statt mit einer BOT mit einer Mischinsulin- unterstützten oralen Therapie (MOT) begonnen werden. Voraussetzungen dafür sind ein sehr regelmäßiger Tagesablauf, gleichbleibende Mahlzeitenmengen und gleiche körperliche Aktivität. Die Kohlenhydratmengen der Mahlzeiten (einschließlich Zwischenmahlzeiten) und die Insulindosen müssen sorgfältig aufeinander abgestimmt sein. Zur Intensivierung kann Mischinsulin zweimal täglich gespritzt werden (konventionelle Insulintherapie = CT). Allerdings ist das Risiko für eine Hypoglykämie bei der CT höher als bei anderen Arten der Insulintherapie, da nicht nur der kurzwirksame, sondern auch der langwirksame Insulinanteil höher dosiert wird. Kritisch ist dies besonders, wenn Mahlzeiten ausfallen.<sup>3</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Diabetes_1805_Weblinks_jatros_dia_1805_s35_tab1.jpg" alt="" width="2151" height="634" /></p> <h2>Therapie bei Patienten mit Niereninsuffizienz und im Alter</h2> <p>Hartmann wies darauf hin, dass bei Patienten mit einer eingeschränkten Nierenfunktion das Hypoglykämierisiko zunimmt. Ursachen sind eine Abnahme der endogenen Insulin-Clearance, der Clearance bestimmter oraler Antidiabetika und der renalen Glukoneogenese. Dazu kommen häufig eine Mangelernährung und Inappetenz. Dies müsse bei der Einstellung der Medikamente berücksichtigt werden, sagte die Ärztin.<br /> Für die Therapie im Alter verwies sie auf die aktuell erschienenen Leitlinien der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG).<sup>6</sup> Geriatrische Diabetespatienten sind häufig multimorbide, wobei für die Therapieplanung das Alter weniger eine Rolle spielt als der funktionelle Status. Die DDG-Leitlinie hat drei Gruppen definiert. Die erste umfasst funktionell unabhängige Patienten mit wenigen Komorbiditäten, nur geringer kognitiver Beeinträchtigung und guten Kompensationsmöglichkeiten. Funktionell leicht abhängige Diabetiker (Gruppe 2) sind multimorbide, haben funktionelle und kognitive Einschränkungen und leiden an geriatrischen Syndromen. In der dritten Gruppe finden sich Diabetiker mit extremen Einschränkungen, die funktionell stark abhängig sind und deren Lebenserwartung aufgrund ihrer Krankheiten verkürzt ist.<sup>6</sup><br /> Die Therapieziele beim geriatrischen Diabetiker sind vor allem der Erhalt der Lebensqualität und das Vermeiden von Hypoglykämien. Daher sind Gespräche mit dem Patienten wichtig, in denen er erklärt, welche Aspekte von Lebensqualität ihm wichtig sind. Daran sollte sich dann die Therapie orientieren. Dies bedeutet, dass beispielsweise der HbA<sub>1c</sub>-Wert oft keine so große Rolle mehr spielt wie bei jüngeren Diabetikern. Die Leitlinie empfiehlt, das HbA<sub>1c</sub>-Ziel an die vermutete Lebenserwartung (<15 Jahren bzw. >15 Jahre) des Patienten anzupassen.<sup>6</sup><br /> Auch für ältere Typ-2-Diabetiker ist Metformin das Medikament der ersten Wahl. Es kann die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität senken, ist auch bei einer eingeschränkten Nierenfunktion zugelassen und hat ein geringes Hypoglykämierisiko. Nachteilig ist, dass es gastrointestinale Beschwerden auslösen kann und deshalb bei Patienten, die aufgrund anderer Krankheiten bereits an einer Mangelernährung leiden, diese noch verstärkt. Obwohl Metformin weniger nierenschädigend wirkt als manch andere orale Antidiabetika, sollte die Nierenfunktion alle drei bis sechs Monate kontrolliert werden. Außerdem ist es ratsam, die Metformin- Gabe zu unterbrechen, wenn potenziell nierenschädigende Maßnahmen geplant sind, etwa eine Röntgenkontrastuntersuchung oder eine Vollnarkose.<sup>6</sup><br /> DPP-4-Inhibitoren sind ebenfalls für ältere Diabetiker geeignet. Ihre Vorteile sind eine bequeme Einnahmefrequenz, geringe Hypoglykämiegefahr, Gewichtsneutralität und die Sicherheit bei Niereninsuffizienz. In Einzelfällen raten die Leitlinien auch zu GLP-1-Analoga, da sie ein geringes Hypoglykämierisiko haben und zur Gewichtsabnahme führen, falls dies gewünscht ist. Nachteile sind, dass die Medikamente injiziert werden und zu Übelkeit und Erbrechen führen können. SGLT2-Hemmer können ebenfalls eingesetzt werden, da sie keine Hypoglykämien verursachen. Für Empagliflozin sind zudem ein günstiger Einfluss auf die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität sowie eine nephroprotektive Wirkung nachgewiesen. Nachteile sind eine größere Anfälligkeit für genitale Pilzinfektionen, Polyurie und Exsikkose.<sup>6</sup><br /> Führen orale Antidiabetika nicht mehr zum Ziel oder sind sie aufgrund von Komorbiditäten kontraindiziert, kann auch beim geriatrischen Diabetiker eine Insulintherapie begonnen werden. Die Therapieform hängt ab von den kognitiven und feinmotorischen Fähigkeiten des Patienten, der Unterstützung durch sein soziales Umfeld sowie dem Therapieziel.</p> <h2>MODY – selten, aber nicht irrelevant</h2> <p>Der sogenannte Maturity Onset Diabetes of the Young (MODY) macht zwar lediglich 2 % der Diabetesfälle aus. Dr. Matthias Heinzl vom Konventhospital der Barmherzigen Brüder Linz zeigte aber anhand eines Fallbeispiels, dass der MODY in der Praxis sehr wohl wichtig sein kann.<br /> Bei einem 18-jährigen Mann ohne Vorerkrankungen und mit einem BMI von 25,7 wurde im Rahmen der Stellung ein Diabetes diagnostiziert. Er zeigte zu diesem Zeitpunkt unspezifische Symptome wie Zittern der Hände und trockene Haut. Er wurde als Typ-2-Diabetiker eingestuft. Laboruntersuchungen ergaben einen HbA<sub>1c</sub> von 7,4, C-Peptid im Normbereich und keine Autoantikörper gegen Betazellen. Der Mann wies auch keine Glukosurie auf. Der niedergelassene Internist, der ihn betreute, riet zu Abwarten, Diät und Kontrolle in drei Monaten. Allerdings ergab die Familienanamnese, dass „alle in der Familie Zucker“ hätten. Daraufhin wurde ein detaillierter Stammbaum erstellt. Dabei zeigte sich, dass tatsächlich in jeder Generation, angefangen von den Urgroßeltern des Patienten, Familienmitglieder an Diabetes erkrankt waren. Insgesamt waren mehr als die Hälfte der Personen im Stammbaum betroffen, unabhängig vom Geschlecht. Bei allen brach die Krankheit zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr aus. Bis auf einen Erkrankten waren alle Personen normalgewichtig. Dies deutet auf einen Diabetes mit autosomal dominantem Erbgang und Verdacht auf MODY.<br /> Der MODY wird durch Mutationen in einzelnen Genen verursacht. Bislang sind 14 Subtypen identifiziert. Beim MODY finden sich weder Antikörper gegen Betazellen noch eine Insulinresistenz. Der junge Mann unterzog sich einem Gentest, der eine heterozygote Keimbahnmutation im Gen HNF1A (MODY 3) ergab. Dieser ist in Europa der häufigste Typ und dadurch gekennzeichnet, dass er meist vor dem 25. Lebensjahr ausbricht und die Patienten in der Regel kein Übergewicht haben. Beim MODY 3 kommt es zu einer progredienten Dysfunktion der Betazellen, die initial gut auf Sulfonylharnstoffe anspricht. Im weiteren Verlauf benötigen die Patienten jedoch oft Insulin. Aufgrund einer gesenkten Glukose-Nierenschwelle kommt es zur Glukosurie, außerdem zu makro- und mikrovaskulären Veränderungen ähnlich wie bei beim Typ-1- und -2-Diabetes. Unterschiede zu diesen Diabetesformen zeigt Tabelle 2.<sup>7</sup> Bei Betrachtung des Familienstammbaums des Patienten bestätigte sich: Nahezu jeder der älteren betroffenen Angehörigen hatte typische Diabeteskomplikationen, unter anderem Nephropathien, kardiovaskuläre Krankheiten, Schlaganfälle und Amputationen, erlitten. Der Patient wurde an die Diabetesambulanz des Konventhospitals Barmherzige Brüder Linz überwiesen und dort auf den Sulfonylharnstoff Glimepirid eingestellt. Außerdem wurden weitere Familienmitglieder zur genetischen Testung und Beratung eingeladen. Dabei wurden weitere Genträger und Erkrankte identifiziert, die ebenfalls mit Sulfonylharnstoffen behandelt wurden. Wichtig war auch der Hinweis darauf, dass bei Kindern in der Familie ab dem 10. Lebensjahr auf den Blutzucker geachtet werden sollte.<br /> Die Therapie mit Sulfonylharnstoffen schlug bei dem jungen Patienten sehr gut an. Er hatte dennoch selbst bei guter Einstellung stets eine Glukosurie. Auch die älteren Familienmitglieder profitierten von der Therapieumstellung, vor allem hinsichtlich ihrer Lebensqualität. Der Effekt war allerdings mit zunehmendem Alter weniger ausgeprägt.<br /> Heinzls Fazit lautete, dass jeder Arzt, der einen jungen, normalgewichtigen Diabetespatienten betreut, auch an einen MODY denken sollte. Er riet zu einer Überweisung der Betroffenen an ein spezialisiertes Zentrum, wo weitere Untersuchungen und eine genetische Testung eingeleitet werden können. Die Therapie mit Sulfonylharnstoffen sei bei diesen Patienten sehr erfolgversprechend, schloss er.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Diabetes_1805_Weblinks_jatros_dia_1805_s36_tab2.jpg" alt="" width="350" height="266" /></p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: 15. Linzer Kongress für Allgemeinmedizin, Thema „Diabetes
mellitus“, 22. September 2018, Linz
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<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> www.facediabetes.at/zahlen-und-fakten.html <strong>2</strong> Ahlqvist E et al.: Lancet Diabetes Endocrinol 2018; 6: 361-9 <strong>3</strong> Riddle MC et al.: Diabetes Care 2018; 41(Suppl 1) <strong>4</strong> www. ema.europa.eu/medicines/human/referrals/metforminmetformin- containing-medicines. EMA/868987/2016 <strong>5</strong> Tschöpe D et al.: Cardiovasc Diabetol 2 013; 12: 62 <strong>6</strong> Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) 2018: S2k-Leitlinie Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Alter. AWMF-Registernummer 057-017 <strong>7</strong> Meissner T et al.: Maturity-onset diabetes of the young (MODY). Eine wichtige Differenzialdiagnose des früh manifestierenden Diabetes mellitus. Diabetologe 2010; 6: 219-30</p>
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