
Beurteilung der Blutzuckereinstellung
Bericht:
Claudia Benetti
Medizinjournalistin
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Die modernen kontinuierlichen Glukose-Messsysteme (CGMS) liefern deutlich mehr Informationen zur Blutzuckereinstellung als die klassische Messung. Wie die Daten korrekt ausgewertet werden, erläuterte Prof. Dr. med. Roger Lehmann, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung, Universitätsspital Zürich, am FOMF Diabetes Update Refresher.
Die wesentlichen Faktoren zur Beurteilung der Einstellung des Blutzuckers (BZ) sind BZ-Selbstmessung, die Bestimmung des HbA1c, die Häufigkeit von Hypoglykämien sowie die Beurteilung von Variabilität und Zeit im Zielbereich («time in range», TIR).
«Die traditionelle Messung im Kapillarblut ist zwar gut, wenn die Patient*innen routinemässig sechs- bis achtmal pro Tag messen, was aber im realen Leben kaum jemand macht», sagte Lehmann. Auch die Messungen in der Nacht stellen eine grosse Hürde dar. Mit der klassischen Messmethode stehen deshalb oft nur vier Tageswerte für die Analyse zur Verfügung.
Die kontinuierliche Messung mit modernen Sensoren (Freestyle Libre, Dexcom, Guardian und Eversense) hingegen liefert ein BZ-Profil mit täglich 800 Messdaten. «Damit lassen sich selbst Spitzenwerte identifizieren, die mit der traditionellen Methode nicht detektiert werden können», betonte der Spezialist.
HbA1c versus Zeit im Zielbereich
Die HbA1c-Bestimmung liefert einen einzelnen Laborwert, der das Mittel der Glukoseexposition der letzten zwei bis drei Monate widerspiegelt. «Mit dem HbA1c kann man Perioden von 3 Monaten miteinander vergleichen, unmittelbare Effekte von Therapieänderungen, die BZ-Variabilität, die TIR, Hypo- und Hyperglykämien können damit aber nicht erfasst werden. Zwei Patient*innen mit dem gleichen HbA1c-Wert können sehr unterschiedliche BZ-Profile haben», so Lehmann.
Im Unterschied zum HbA1c liefern die modernen kontinuierlichen Messsysteme auch die für die BZ-Einstellung wichtigen Informationen zu den Parametern BZ-Variabilität, TIR, Hypo- und Hyperglykämien. Aus den Messungen der letzten drei Monate errechnen die CGMS auch einen geschätzten HbA1c-Wert, der bei 90% der Personen sehr gut mit dem gemessenen HbA1c-Wert übereinstimmt. Aus den kontinuierlich gemessenen BZ-Werten kann auch die BZ-Variabilität berechnet werden: Variabilitätskoeffizient = Standardabweichung / BZ-Durchschnitt x 100. Der Variabilitätskoeffizient sollte gemäss internationalem Expertenkonsens <36% betragen.1 Bei Werten ≥36% ist der BZ instabil und die Anzahl der Hypoglykämien steigt.
Ein anderer mit den CGMS eingeführter wichtiger Parameter ist die TIR. «Anders als das HbA1c widerspiegelt die Zeit im Zielbereich den gesamten BZ-Verlauf, es können beliebige Zeitspannen miteinander verglichen werden, die TIR zeigt die unmittelbaren Effekte von Therapieänderungen sofort, erfasst sämtliche BZ-Exkursionen und identifiziert die Zeit im sicheren Zielbereich», erklärte Lehmann. Als sicherer Zielbereich gilt international eine Spannbreite von 3,9–10mmol/l (in der Schwangerschaft: 3,5–7,8mmol/l).2 Das Ziel der Diabetesbehandlung sind eine TIR ≥70%, ein HbA1c <7,0% sowie das Vermeiden von signifikanten Hypoglykämien, insbesondere solchen mit einem BZ <3,0mmol/l.1,2 Die Zielwerte für TIR und BZ-Variabilität bei Typ-1- und Typ-2-Diabetes sind in Tabelle 1 zusammengefasst.
Bedeutung von Hypoglykämien
«Unabhängig vom Diabetes-Typ fördern Hypoglykämien die Entzündung, erhöhen das Thromboserisiko, können Arrhythmien verursachen, bewirken eine endotheliale Dysfunktion und verursachen dadurch vaskuläre Ereignisse»,3,4 so Lehmann. Wiederholte Hypoglykämien führen auch zu kognitiven Beeinträchtigungen und fördern die Demenzentwicklung.5 Menschen mit Diabetes haben ein signifikant erhöhtes Demenzrisiko.
Wichtig zu wissen ist auch, dass häufige Hypoglykämien den Schwellenwert für die Wahrnehmung von Hypoglykämien senkt.5 «Patienten, die oft hypoglykäm sind, merken manchmal gar nicht mehr, wenn ihr Blutzucker zu niedrig ist», sagte der Referent.
Vorgehen in der Praxis mit Punktescore
Für die Beurteilung der Blutzuckereinstellung in der Praxis mit allen Parametern, die die CGMS liefern, empfiehlt Lehmann ein strukturiertes Vorgehen. Dies erlaubt einen schnellen Überblick über das BZ-Profil und das Erkennen von Mustern und ermöglicht, wenn nötig, die Therapieanpassung und die Definition (neuer) individueller Therapieziele.
Als Erstes muss die Messgenauigkeit überprüft werden. Beträgt die Differenz zwischen dem gemessenen und dem geschätzten HbA1c weniger als 0,3%, ist sie gut. Bei einer Differenz >1% sind die Werte nicht brauchbar.
Faustregeln
HbA1c und Blutzucker
HbA1c 6% ≈ durchschnittlichem BZ von 7mmol/l
HbA1c +1% ≈ BZ +1,6mmol/l
TIR und HbA1c
TIR 70% ≈ HbA1c 7,0%
TIR 50% ≈ HbA1c 8,0%
10% TIR-Differenz ≈ 0,5% HbA1c-Differenz
Für die Beurteilung von HbA1c, TIR, BZ-Variabilität und Hypoglykämien hat Lehmann einen praktischen Punktescore entwickelt, bei dem für jeden Wert 1 bis 4 Punkte vergeben werden (Tab. 2). Je höher die Punktzahl, desto besser ist der Blutzucker eingestellt. Der Score kann für Typ-1- und Typ-2-Diabetes verwendet werden.
Im nächsten Schritt müssen die vom Sensor und einer eventuell angeschlossenen Pumpe gelieferten Daten und Grafiken analysiert sowie allfällige Muster erkannt werden. Der Blutzuckerspiegelverlauf während der Nacht zeigt, ob die Dosis des Basalinsulins korrekt ist. Steigt der BZ während der Nacht, muss die Dosis erhöht werden. Die präprandialen und postprandialen BZ-Werte (initial und nach 3 Stunden) geben Aufschluss darüber, ob Insulindosis und Spritz-Ess-Abstand korrekt sind. Für die Beurteilung ist auch wichtig, wie häufig und wann Hypoglykämien auftreten. Schliesslich kontrolliert man ebenfalls den Kohlenhydrat- und den Korrekturfaktor und bei Systemen mit Pumpen, ob sie tatsächlich während 90–95% der Zeit im Automodus laufen, wie es korrekterweise sein sollte.
Welcher Sensor für welchen Patienten
Für die kontinuierliche Glukose-Messung stehen zwischenzeitlich verschiedene moderne Sensorsysteme zur Verfügung. Die Systeme sind klein und liefern die gemessenen Werte direkt auf das Mobiltelefon. Es gibt Systeme, die sich auch mit Insulinpumpen koppeln lassen (Dexcom, Guardian) und solche mit implantierbarem Sensor (Eversense).
Strukturierte Blutzuckeranalyse in der Praxis
Schritt 1: Wie ist die Datenqualität?
Schritt 2: Wie sind Zielbereich und Zeit im Zielbereich?
Schritt 3: Sind Hypoglykämien aufgetreten?
Schritt 4: Wie sieht die Glukosevariabilität aus?
Schritt 5: Wie stabil ist das Glukoseprofil?
Freestyle Libre ist ein geeignetes System für den Einstieg und, wenn Warnungen vor Hypoglykämien weniger wichtig sind und das Gerät nicht eichbar sein muss. «Sind hingegen Warnungen vor Hypoglykämien notwendig, wie dies meistens bei Typ-1-Diabetes der Fall ist, empfehlen wir Systeme wie Dexcom und Guardian mit eichbaren Sensoren», erklärte der Experte. Wenn Warnungen vor Hypoglykämien notwendig sind, der Sensor eichbar sein soll und bei einer Hypoglykämie, z.B. in der Nacht oder bei Sport, ein automatischer Insulinstopp erfolgen soll, ist eine Insulinpumpe indiziert, die mit einem Sensor gekoppelt ist.
Für den praktischen Alltag empfiehlt Prof. Lehmann, in einem ersten Schritt mit dem Freestyle-Libre-System zu beginnen und nach drei Monaten zu überprüfen, ob die vom Sensor gelieferten Werte mit dem gemessenen HbA1c übereinstimmen. Passt alles, kann das System beibehalten werden, bestehen jedoch grössere Abweichungen, muss auf ein System mit einem kalibrierbaren Sensor gewechselt werden.
Quelle:
FOMF Diabetes Update Refresher, 3. bis 5. November 2022, Zürich
Literatur:
1 Battelino T et al.: Clinical targets for continuous glucose monitoring data interpretation: recommendations from the International Consensus on Time in Range. Diabetes Care 2019; 42: 1593-603 2 American Diabetes Association Professional Practice Committee: 6. Glycemic targets: standards of medical care in diabetes – 2022. Diabetes Care 2022; 45(Suppl 1): S83-96 3 Desouza CV et al.: Hypoglycemia, diabetes, and cardiovascular events. Diabetes Care 2010; 33: 1389-94 4 Chow E et al.: Prolonged prothrombotic effects of antecedent hypoglycemia in individuals with type 2 diabetes. Diabetes Care 2018; 41: 2625-33 5 McCrimmon RJ: Consequences of recurrent hypoglycaemia on brain function in diabetes. Diabetologia 2021; 64: 971-7
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