
Sinnvoller Einsatz von GLP-1-RA in der Adipositastherapie
Bericht:
Dr. Corina Ringsell
Redaktorin
Vielen Dank für Ihr Interesse!
Einige Inhalte sind aufgrund rechtlicher Bestimmungen nur für registrierte Nutzer bzw. medizinisches Fachpersonal zugänglich.
Sie sind bereits registriert?
Loggen Sie sich mit Ihrem Universimed-Benutzerkonto ein:
Sie sind noch nicht registriert?
Registrieren Sie sich jetzt kostenlos auf universimed.com und erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln, bewerten Sie Inhalte und speichern Sie interessante Beiträge in Ihrem persönlichen Bereich
zum späteren Lesen. Ihre Registrierung ist für alle Unversimed-Portale gültig. (inkl. allgemeineplus.at & med-Diplom.at)
Prof. Dr. med. Bernd Schultes, Stoffwechselzentrum St. Gallen, ging in seinem Vortrag an der SGED-Jahrestagung in Bern auf die GLP-1-Rezeptor-Agonisten (GLP-1-RA) zur Behandlung von Adipositas ein. Er stellte dabei die Frage, wie die Adipositastherapie in der Schweiz organisiert werden sollte, um die Betroffenen bestmöglich zu versorgen.
Keypoints
-
Hausärzt:innen sollten im Adipositasmanagement eine Rolle spielen und zumindest eine Grundausbildung dafür haben.
-
Die multidisziplinäre Zusammenarbeit von Adipositasspezialist:innen und Allgemeinärzt:innen sollte verbessert werden.
-
Patient:innen sollten unvoreingenommene, evidenzbasierte Informationen zu den Therapieoptionen erhalten.
-
Sie müssen darüber informiert werden, dass die Pharmakotherapie i.d.R. lebenslang erfolgen muss, sie aber nur für drei Jahre von der Krankenkasse erstattet wird.
-
Es sollte eine Priorisierung für die medikamentöse Therapie geben, da nicht alle Patient:innen damit versorgt werden können.
Schultes zeigte sich von den klinischen Therapien, die inzwischen verfügbar sind, begeistert. Damit könne das Leben der Patient:innen wirklich verändert und verbessert werden, betonte er. Bislang habe es für die Adipositasbehandlung lediglich die Chirurgie und konservative Massnahmen, unter anderem Ernährungs- und Bewegungstherapie gegeben.
Neue Medikamente – neue Herausforderungen
Die neuen Therapiemöglichkeiten mit GLP-1-RA gehen mit der Frage einher, wie die Adipositastherapie in der Schweiz organisiert werden könnte. Schultes stellte ein mögliches Modell vor. Hierbei spielen Hausärzt:innen als erste Anlaufstelle eine besondere Rolle. Sie könnten die Patient:innen auf Übergewicht/Adipositas und damit verbundene Komplikationen screenen. Anschliessend könnten sie die Zuweisungen, etwa zur Ernährungsberatung, zu Psycholog:innen oder an spezialisierte Adipositaszentren, koordinieren sowie das Therapiemonitoring übernehmen, so Schultes. Auf der zweiten Ebene wären dann die bariatrischen Zentren an den Kliniken und ambulante multidisziplinäre Adipositaszentren angesiedelt, die weitergehende Untersuchungen und Therapien vornehmen, erklärte er.
Die neuen Medikamente dürfen derzeit nur von Adipositaszentren und Endokrinolog:innen verschrieben werden. Vonseiten der Pharmaindustrie werde aber verstärkt dafür geworben, dass auch Hausärzt:innen diese Medikamente an Selbstzahlende verschreiben dürfen, sagte Schultes. Er habe diesbezüglich zwiespältige Gefühle. Einerseits sei es gut, wenn Patient:innen einen leichteren Zugang zu dieser Therapie erhielten, denn die Wartelisten der Adipositaszentren seien in manchen Landesteilen sehr lang. Andererseits gebe es keine Qualitätskontrolle, was problematisch sein könnte. Sollten also auch Allgemeinärzt:innen die neuen Therapien verordnen dürfen, so müssten sie gut geschult werden, forderte der Referent.
Für wen ist die medikamentöse Therapie geeignet?
Die andere Frage sei, wer die Medikamente bekommen sollte. Die Swiss Multidisciplinary Obesity Society (SMOB) hat für den GLP-1-RA Semaglutid eine Empfehlung zur Priorisierung herausgegeben: Danach haben die höchste Priorität zum Beispiel Menschen mit einem BMI ≥27 und einer bestätigten kardiovaskulären (CV) Krankheit. An zweiter Stelle stehen Personen mit BMI ≥27kg/m2 und beispielsweise einer schweren Komorbidität wie metabolischer Fettleber (MASH) oder mit BMI ≥30kg/m2 und Herzinsuffizienz mit erhaltener Auswurffraktion (HFpEF). Die niedrigste Priorität haben Menschen mit BMI ≥27kg/m2 und nur einem CV Risikofaktor.1
Eine ähnliche Empfehlung gibt auch eine Veröffentlichung von Emanuel et al. im New England Journal of Medicine.2 Dort werden strengere Kriterien für die Priorisierung angelegt: An erster Stelle stehen Patient:innen, die ohne Therapie vorzeitig sterben würden. An zweiter Stelle folgen solche, bei denen unmittelbar bevorstehende adipositasbedingte Komplikationen wie kardiovaskuläre Ereignisse zu befürchten sind. Die dritte Gruppe umfasst Patient:innen, bei denen zukünftigen Komplikationen vorgebeugt werden soll, und an letzter Stelle stehen Menschen, bei denen die medikamentöse Therapie Lebensqualität soziale Teilhabe und mentale Gesundheit verbessern soll.2
Schultes betonte, dass die Patient:innen unbedingt auch über die bariatrische Chirurgie informiert werden müssen, wenn sie die Kriterien dafür erfüllen.3 Allen Patient:innen müssten evidenzbasierte Informationen zur Verfügung gestellt werden, damit sie eine fundierte, gemeinsame Entscheidung treffen können, sagte er. Ebenso wichtig sei es, die Betroffenen darüber aufzuklären, dass die medikamentöse Therapie fortgesetzt werden muss. Zwar gebe es Patient:innen, die nach Absetzen der Medikamente ihr Körpergewicht halten. Die Mehrheit würde aber wieder an Gewicht zunehmen.4,5 Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die Kosten, denn derzeit übernimmt die Krankenkasse die Kosten nur für maximal drei Jahre. Danach müssen die Patient:innen die Medikamente selbst bezahlen, auch wenn die Therapie sehr erfolgreich ist.1
Ein 2024 im JAMA veröffentlichter Artikel schlug eine «Booster-Therapie» kombiniert mit Lebensstilberatung und dem Konzept «Essen als Medizin» vor: Zunächst sollten die Patient:innen für 12 bis 18 Monate einen GLP-1-RA erhalten, um Gewicht zu verlieren, und zudem zum Lebensstil beraten werden. Dann sollte das Medikament abgesetzt werden und die Therapie nur dann wieder beginnen, wenn das Körpergewicht erneut steigt.6 Der Referent hielt dies wegen der zu erwartenden Gewichtsschwankungen für kein gutes Vorgehen, da es für die metabolische Gesundheit möglicherweise schädlich sei. Sicher sei es aber schlecht für die psychische Gesundheit. Er sage seinen Patient:innen immer, dass sie versuchen können, die Medikamente abzusetzen. Dann sollten sie sich aber jede Woche wiegen und wenn sie zunehmen, die Therapie wieder dauerhaft beginnen. Das sei wichtig, denn man müsse die Selbstvorwürfe und Schuldgefühle der Betroffenen überwinden und sie dazu bringen, zu akzeptieren, dass es sich um eine chronische Krankheit handelt, die eine dauerhafte Therapie erfordert, so Schultes.
Er verwies darauf, dass Emanuel et al. in ihrem Artikel einige grundlegende ethische Prinzipien aufgestellt haben, die es zu berücksichtigen gilt. So sei etwa die soziale Gerechtigkeit ein bedeutendes Thema.2
Einschränkungen der Kostenerstattung medikamentöser Therapien
Letztendlich gehe es nicht nur um Medizin, es gehe um die Wirtschaft(lichkeit) der Therapie, sagte Schultes und zeigte einige Einschränkungen der Kostenerstattung auf. Eine davon ist die bariatrische Chirurgie.7 Wer sich einer bariatrischen Operation zur Adipositasbehandlung unterzogen hat, welche aber nicht erfolgreich war, erhält keine weitere Pharmakotherapie. Ausserdem solle man nur motivierte Patient:innen behandeln. Schultes bezweifelte, dass Adipositaspatient:innen nicht motiviert sind. Das sei diskriminierend und stigmatisierend, kritisierte er. Ein weiteres Ärgernis sei, dass GLP-1-RA in der Adipositastherapie – anders als bei Typ-2-Diabetes – nicht mit Insulin kombiniert werden dürfen.7 Dies schliesse alle Menschen mit Typ-1-Diabetes aus, unter denen es auch eine Reihe von adipösen Patient:innen gebe, sagte Schultes.
Anhand von einigen Fällen aus seiner Praxis zeigte er, warum er die Einschränkungen für unsinnig hält. So wurde etwa ein 45-jähriger Mann, BMI 38kg/m2, mit Liraglutid behandelt und verlor rund 16% an Gewicht. Nach einem Jahr nahm er etwas zu, woraufhin die Kostenerstattung eingestellt wurde und sein Gewicht in der Folge beinahe wieder den Ausgangswert erreichte. Er unterzog sich einer bariatrischen Operation und verlor fast 30% an Körpergewicht, was er auch halten konnte. Der klinische Pfad des Patienten sei durch die Vorschriften zur Kostenübernahme zerstört worden, so Schultes. Dabei sei es nicht um die Frage gegangen, ob die Medikamente schlecht für den Patienten gewesen seien, nicht um Entscheidungsfindung oder gemeinsames Entscheiden.
Eine 36 Jahre alte Patientin, BMI etwas über 35kg/m2, unterzog sich gleich zu Beginn einer bariatrischen Operation, die nicht den vollen Erfolg brachte – sie war also von der Kostenerstattung für GLP-1-RA ausgeschlossen. Sie wurde dann mit 0,8mg Semaglutid behandelt und verlor innerhalb von zwei Jahren 40% an Gewicht; ihr BMI hat sich bei niedrigen Kosten auf 20kg/m2 stabilisiert. Diese beiden hätten es sich leisten können, das Medikament selbst zu bezahlen, sagte Schultes, aber Ärzt:innen sollten in der Lage sein, es jedem Patienten/jeder Patientin zu geben, der/die es braucht.
Ein weiterer Fall: Eine Patientin mit schwerem Gestationsdiabetes erhielt Basis-Insulin als Bolus. Nach der Geburt verschwand der Diabetes und sie benötigte kein Insulin mehr. Doch innerhalb der nächsten Monate nahm sie wieder zu und wurde mit niedrig dosiertem Semaglutid behandelt, was das Gewicht um rund 11% reduzierte. Eine anschliessende Magen-Bypass-Operation führte zu weiteren 21% Gewichtsverlust. Allerdings nahm die Patientin danach wieder leicht zu. Also erhielt sie erneut Semaglutid und das Gewicht nahm ab und sinke weiter, sagte Schultes.
Er zeigte auch das Beispiel eines Mannes mit Typ-1-Diabetes, 120kg Körpergewicht, der unter Liraglutid rund 30% an Gewicht verloren hatte. Er wurde auf Semaglutid umgestellt, verlor aber nicht wie erwartet mehr Gewicht – allerdings sei etwas anderes passiert, erklärte Schultes. Die Blutzuckerkontrolle des Patienten sei zuvor nie gut gewesen, mit grossen Schwankungen des HbA1c-Werts. Nach der Umstellung auf den GLP-1-RA und in Kombination mit einem hybriden Closed-Loop-System liege der HbA1c-Wert seit inzwischen vier Jahren unter 7%.
Diese Beispiele zeigten, dass die Behandlung der Adipositas komplex ist und alle verfügbaren Therapieoptionen nötig seien, um den Betroffenen zu helfen, betonte der Referent.
Evidenz für GLP-1-RA nach Operation
Eine Metaanalyse von Studien, die die Wirksamkeit und Sicherheit von GLP-1-RA nach bariatrischer Operation untersucht hatten, konnte zeigen, dass die medikamentöse Therapie nach der Operation zu einem signifikanten Gewichtsverlust führte.8 Schultes geht davon aus, dass es in Zukunft einen moderneren Ansatz der Adipositastherapie geben wird, bei dem Operation und Pharmakotherapie miteinander kombiniert oder aufeinanderfolgend eingesetzt werden. Man sollte alle Instrumente nutzen, sie übernehmen und an die Bedürfnisse der Patient:innen anpassen. Ausserdem sei es sinnvoller, denjenigen Patient:innen, die stark von den Medikamenten profitieren, diese dauerhaft zu erstatten anstatt sie allen für lediglich drei Jahre zu zahlen, schloss Schultes.
Quelle:
Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED), 14. bis 15. November 2024, Bern
Literatur:
1 www.smob.ch/2024/06/19/smob-recommendations-for-prioritization-of-2-4-mg-semaglutide-therapy/ 2 Emanuel EJ et al.: N Engl J Med 2024; 390: 1839-42 3 www.smob.ch/richtlinien-zur-operativen-behandlung-von-uebergewicht/ 4 Aronne LJ et al.: JAMA 2024; 331: 38-48 5 Rubino D et al.: JAMA 2021; 325: 1414-25 6 Mozaffarian D: JAMA 2024; 331: 1007-8 7 BAG: Präparate Spezialitätenliste. www.spezialitätenliste.ch 8 Esparham A et al.: Obes Rev 2024; 25: e13811
Das könnte Sie auch interessieren:
Wie oft wird Diabetes nicht oder spät erkannt?
Im Allgemeinen wird von einer hohen Dunkelziffer an Personen mit undiagnostiziertem Typ-2-Diabetes ausgegangen. Ein Teil davon sind von Ärzten „übersehene“ Fälle. Eine von der University ...
Neue Studiendaten zu Typ-2-Diabetes und Lebensstil
Dass gesunde Ernährung und Bewegung das Diabetesrisiko sowie verschiedene Risiken von Patienten mit Diabetes senken, ist seit Langem bekannt. Und das Detailwissen zur Bedeutung von ...
Diabetes erhöht das Sturzrisiko deutlich
Eine dänische Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sowohl Patienten mit Typ-1- als auch Patienten mit Typ-2-Diabetes öfter stürzen und häufiger Frakturen erleiden als Menschen aus einer ...