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Adipositas: interdisziplinäre und krankheitsspezifische Interventionen

<p class="article-intro">Eine unausgewogene Energiebilanz ist ein entscheidender Faktor bei der Entstehung einer Adipositas. Begleitet oder bedingt wird das Krankheitsbild häufig von somatischen und psychischen Komorbiditäten. Das Miteinbeziehen der Adipositasvorgeschichte in Form einer ausführlichen Anamnese ist daher ein entscheidender Grundstein für den zukünftigen Behandlungsprozess. Um Aspekte wie physische und psychische Einflüsse sowie die Energiebilanz und die Nährstoffversorgung eruieren und berücksichtigen zu können, ist es erforderlich, dass die Behandlung multi- bzw. interdisziplinär erfolgt. Für ein nachhaltiges Körpergewichtsmanagement sind somit medizinische, psychologische sowie ernährungs- und bewegungstherapeutische Interventionen von wesentlicher Bedeutung.</p> <hr /> <p class="article-content"><div> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>In der Adipositastherapie ist es f&uuml;r nachhaltige Therapieerfolge entscheidend, &bdquo;K&ouml;rper&ldquo;, &bdquo;Psyche&ldquo; und &bdquo;Lebensumfeld&ldquo; miteinzubeziehen.</li> <li>Die leitlinien- und netzwerkorientierte, langsame, nachhaltige K&ouml;rpergewichtsreduktion mithilfe einer dauerhaften Umstellung der Lebensgewohnheiten wurde in unserer Studie hinsichtlich des Erfolgs untersucht.</li> <li>Zwei Drittel der Interventionsgruppenpatienten erreichten das Interventionsziel (&ndash;5 % K&ouml;rpergewicht).</li> <li>Der Gro&szlig;teil der K&ouml;rpergewichtsabnahme erfolgte im ersten Halbjahr.</li> <li>Entscheidend f&uuml;r den Erfolg nach einem Jahr ist ein Followup nach einem halben Jahr.</li> </ul> </div> <h2>Ziel: langsame, nachhaltige K&ouml;rpergewichtsreduktion</h2> <p>Im Rahmen der Adipositastherapie gibt es bei der Erstbehandlung im niedergelassenen und station&auml;ren Bereich viele bedeutende Effekte und Erfolge. Betrachtet man Therapieerfolge im Sinne der Nachhaltigkeit, so zeigt sich h&auml;ufig ein kontr&auml;res Bild.<sup>1</sup> Um steigenden Adipositaspr&auml;valenzzahlen entgegenwirken zu k&ouml;nnen, sollte daher noch mehr Fokus auf interdisziplin&auml;re Langzeitbehandlungen gelegt werden. Im Sinne der R&uuml;ckfallprophylaxe und zur Festigung gemeinsamer und leitlinienorientierter Adipositastherapieziele ist es bedeutend, Behandlungswege noch mehr zu vereinen und f&uuml;r adip&ouml;se Patienten Behandlungskonzepte mit geregelter Vor- und Nachsorge wie auch einem mehrj&auml;hrigen Stufenmodell anzubieten.<br /> Im Folgenden wird ein Adipositastherapiekonzept veranschaulicht, in Rahmen dessen eine interdisziplin&auml;re Erst- und Nachsorge durchgef&uuml;hrt wurden. Die Interventionen erfolgten auf medizinischer, ern&auml;hrungswissenschaftlicher, bewegungs- und psychotherapeutischer/psychologischer Ebene unter Einbezug klinischer Sozialarbeit und erm&ouml;glichten die Umsetzung eines &bdquo;biopsychosozialen&ldquo; Behandlungsmodells. Zudem wurden leitlinien- und netzwerkorientierte Ziele verfolgt, wie eine langsame, nachhaltige K&ouml;rpergewichtsreduktion mithilfe einer dauerhaften Umstellung der Lebensgewohnheiten sowie die Reduktion von Komorbidit&auml;ten und Folgeerkrankungen der Adipositas.<sup>2</sup></p> <h2>Studiendesign und Studienpopulation</h2> <p>Bei dieser kontrollierten Interventionsstudie (Juni 2010 bis April 2013) wurden adip&ouml;se Patienten des Psychosomatischen Zentrums Waldviertel, Universit&auml;tsklinik f&uuml;r Psychosomatische Medizin der Karl Landsteiner Privatuniversit&auml;t &ndash; Klinik Eggenburg im Rahmen eines 12-w&ouml;chigen station&auml;ren Settings interdisziplin&auml;r betreut. Die Therapieverl&auml;ufe wurden im Pr&auml;-post-Design station&auml;r sowie bei den Nachbetreuungsterminen im 3-Monats-Rhythmus bis zum Jahres-Follow- up erfasst. Der station&auml;re 3-Monats- Verlauf der Interventionsgruppe wurde mit einer Wartelistenkontrollgruppe verglichen. Die Datenauswertung erfolgte mittels deskriptiver und inferenzieller Statistikverfahren. Detaillierte Angaben zur Datenauswertung finden sich in Gnauer (2016)<sup>3</sup> (Abb. 1).<br /> Alle Patienten durchliefen ein Studieneinschlussverfahren sowie eine ausf&uuml;hrliche Eingangsdiagnostik. Zur Beurteilung der anthropometrischen Daten und der Leistungsf&auml;higkeit kamen Messinstrumente wie zum Beispiel die bioelektrische Impedanzanalyse und das Fitmate<sup>&reg;</sup>Med zum Einsatz. Psychologische, ern&auml;hrungs- und bewegungsbezogene Parameter wurden mit spezifischen Frageb&ouml;gen und Interviewmethoden erfasst. Somatische und psychische Diagnosen wurden nach ICD-10 klassifiziert.<br /> Die somatischen und psychischen Diagnosen der Interventionsgruppe (n=79) sind in Tabelle 1 angef&uuml;hrt. Alle Studienpatienten wiesen neben der Hauptdiagnose Adipositas mindestens eine F-Diagnose als psychische Komorbidit&auml;t auf. Die h&auml;ufigste psychische Zusatzdiagnose (89,9 % ) war F50.9 &bdquo;Essst&ouml;rung nicht n&auml;her bezeichnet&ldquo;. Bei der Anamnese wurden auch Ern&auml;hrungsauff&auml;lligkeiten wie rigides Essverhalten, Emotionsessen, Grazing, Erbrechen, gest&ouml;rtes Hunger- und S&auml;ttigungsempfinden, Under-, Over- und Binge-Eating erhoben. Fast die H&auml;lfte der Interventionsgruppe (47,4 % ) wies neben der Adipositas zwei weitere Kriterien des metabolischen Syndroms auf.<br /> Die Studienpopulationscharakteristika (soziodemografische, somatische und psychologische Daten, &hellip;) von Kontroll- und Interventionsgruppe unterschieden sich nicht signifikant. Die Patienten der Interventionsgruppe hatten ein Durchschnittsalter von 41,7 Jahren (SD=13,6), 19 % waren M&auml;nner und 81 % waren Frauen.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Diabetes_1901_Weblinks_jatros_dia_1901_s56_abb1_gnauer.jpg" alt="" width="1460" height="537" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Diabetes_1901_Weblinks_jatros_dia_1901_s56_tab1_gnauer.jpg" alt="" width="1419" height="1350" /></p> <p>&nbsp;</p> <h2>Studienteilnehmer setzen Lebensstilmodifikationen erfolgreich um</h2> <p>Die zeitpunktbezogene Evaluierung im 3-Monats-Verlauf (t1&ndash;t5) zeigte, dass die Studienteilnehmer der Interventionsgruppe eine Lebensstilmodifikation umsetzen konnten. Die Interventionsgruppe erzielte im Vergleich zum Therapiebeginn (t1) und zur Wartelistenkontrollgruppe signifikant vorteilhafte Ver&auml;nderungen (p&le;0,05) hinsichtlich K&ouml;rperzusammensetzung, K&ouml;rpergewicht, Bauchumfang, Blutbild, Bewegungs- und Ern&auml;hrungsverhalten sowie beim k&ouml;rperlichen und psychischen Befinden. Dies bewirkte eine effektive Verbesserung folgender Parameter: Lebensqualit&auml;t, Blutfett- und Blutzuckerwerte, Leistungsf&auml;higkeit, Mahlzeitenstruktur, Lebensmittelauswahl, Bingeund Emotional-Eating, Symptombelastung, interpersonale Problematik, Alexithymie, &Auml;rgerausdruck, Ressourcen und Selbstmanagementf&auml;higkeiten. Tabelle 2 stellt den Auswertungs&uuml;berblick in Bezug auf den Jahresverlauf (t1&ndash;t5) dar.<br /> In Hinblick auf das K&ouml;rpergewicht erreichten zwei Drittel der Interventionsgruppenpatienten (66,7 % ) das angestrebte Jahresziel eines K&ouml;rpergewichtsverlusts von mindestens 5 % und wiesen eine h&ouml;chst signifikante Reduktion des K&ouml;rpergewichts (t1&ndash;t5) auf. Jenes Drittel, das den angestrebten K&ouml;rpergewichtsverlust nicht erzielte, zeigte jedoch andere bedeutende Teilerfolge hinsichtlich Selbstmanagementf&auml;higkeiten, Verhaltens&auml;nderung und Symptombelastung. Beim 1-Jahres-Follow-up verringerten die Interventionsgruppenpatienten im Durchschnitt ihr Ausgangsk&ouml;rpergewicht um 10kg bzw. 8 % , ihren Bauchumfang um 9,1cm und ihren BMI um 3,6 Punkte. Bisherige Teilergebnisse des 2- und 3-Jahres-Follow-ups best&auml;tigen den nachhaltigen K&ouml;rpergewichtsverlust.<br /> Der Gro&szlig;teil der K&ouml;rpergewichtsabnahme erfolgte im ersten Halbjahr (t1&ndash; t3). Danach stellte sich meist eine Stabilisierungsphase (t4, t5) ein bzw. zeigte sich vor allem zum zweiten Nachbetreuungstermin (t4) ein tendenzieller Anstieg. Dieser Erfolgseinbruch zu t4 war bei allen Interventionss&auml;ulen beobachtbar und verbesserte sich wieder beim Jahres-Follow-up. Die Bedeutung des zweiten Nachbetreuungstermins (t4) &ndash; sechs Monate nach der station&auml;ren Behandlung &ndash; ist daher hervorzuheben. Sie zeigt die Notwendigkeit eines intensiveren Nachsorge- und Versorgungsangebotes auf.<br /> F&uuml;r die R&uuml;ckfallprophylaxe bedeutend waren auch die Schaffung eines Rahmens mittels Behandlungsvertrag und das regelm&auml;&szlig;ige Wahrnehmen der Nachsorgetermine.<br /> Die Drop-out-Rate wurde zeitpunktabh&auml;ngig erhoben und lag w&auml;hrend der station&auml;ren Phase (t1&ndash;t2) bei 0,0 % und bei den Nachsorgeterminen zu t3 bei 21,9 % , zu t4 bei 42,6 % und zu t5 bei 30,2 % .</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Diabetes_1901_Weblinks_jatros_dia_1901_s57_tab2_gnauer.jpg" alt="" width="1419" height="2901" /></p> <h2>Was f&uuml;hrte zu einer erfolgreichen Gewichtsabnahme?</h2> <p>K&ouml;rpergewichtserfolge wurden in der Interventionsgruppe vor allem durch Aktivit&auml;tssteigerung, Tages- und Mahlzeitenstruktur, Hunger- und S&auml;ttigungswahrnehmung, Entkoppelung des kompensatorischen Essverhaltens und Modifikation von Essstilen (Over-, Binge- und Night-Eating) erzielt. Hierbei waren eine k&ouml;perangepasste Energiebilanz, Strukturschaffung, Aufarbeitungsprozesse und das Erlernen von neuen L&ouml;sungsstrategien und Selbstmanagementf&auml;higkeiten entscheidend, um dysfunktionalen Verhaltensmustern entgegenwirken zu k&ouml;nnen. Dies erm&ouml;glichte einen besseren Umgang mit Gef&uuml;hlen und interpersonalen Problemen sowie eine signifikante Senkung der Essanfallsh&auml;ufigkeit. Als ein wertvolles Therapieinstrument kristallisierte sich auch das Reflexionstool heraus, wie zum Beispiel der Einsatz von schriftlichen bzw. onlinegest&uuml;tzten Protokollaufzeichnungen. F&uuml;r die Umsetzung eines lebensstilorientierten und nachhaltigen K&ouml;rpergewichtsmanagements wurden im Rahmen der Interventionsstudie Behandlungs- und Zielempfehlungen eingesetzt, wie sie zusammenfassend in Abbildung 2 dargestellt sind.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Diabetes_1901_Weblinks_jatros_dia_1901_s58_abb2_gnauer.jpg" alt="" width="1458" height="903" /></p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>F&uuml;r ein erfolgreiches K&ouml;rpergewichtsmanagement sind Rahmenbedingungen wie adipositasangepasste Interventionen, ein multiprofessionelles Behandlungsteam und die Ver&auml;nderungsbereitschaft des Patienten bedeutend. Um dem adip&ouml;sen Patienten eine individuelle Behandlung zu erm&ouml;glichen und seine Lebensqualit&auml;t zu steigern, ist es entscheidend, &bdquo;K&ouml;rper&ldquo;, &bdquo;Psyche&ldquo; und &bdquo;Lebensumfeld&ldquo; miteinzubeziehen und Interventionsprogramme mit und ohne st&ouml;rungsspezifische Schwerpunkte station&auml;r wie auch ambulant anzubieten.<br /> Eine noch intensivere Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen &Auml;rzten, Kliniken, Krankenkassen, Institutionen und Berufsgruppen sowie eine geregelte Vorund Nachsorge w&uuml;rden konservative und bariatrische Behandlungswege mehr vereinen und fl&auml;chendeckend eine effektivere und insbesondere nachhaltigere Versorgung gew&auml;hrleisten. Im Sinne der Nachhaltigkeit ist es wichtig, ein mehrj&auml;hriges biopsychosoziales Behandlungsnetz als Wegbegleitung zu schaffen.</p> </div></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Hauner H et al.: Interdisziplin&auml;re Leitlinie der Qualit&auml;t S3 zur &bdquo;Pr&auml;vention und Therapie der Adipositas&ldquo;, 2. Aufl. (1. Aktualisierung, 2011&ndash;2013). 2014. Deutsche Adipositas Gesellschaft (federf&uuml;hrend), Deutsche Diabetes Gesellschaft, Deutsche Gesellschaft f&uuml;r Ern&auml;hrung, Deutsche Gesellschaft f&uuml;r Ern&auml;hrungsmedizin. AWMF-Register Nr. 050/001. http://awmf.org <strong>2</strong> Gnauer S et al.: Lebensstilprogramm &bdquo;Schwerelos&ldquo;. Wien, Jahrestagung der &Ouml;sterreichischen Adipositas Gesellschaft (&Ouml;AG) 2015, Posterpr&auml;sentation <strong>3</strong> Gnauer S: &bdquo;Ern&auml;hrungstherapie bei Adipositas per magna&ldquo; &ndash; Grundlagen, Methoden und Evaluierung eines krankheitsspezifischen Interventionsprogramms, Dissertation, Universit&auml;t Wien, 2016 <strong>4</strong> D&ouml;rh&ouml;fer RP, Pirlich M: Das BIA-Kompendium. Darmstadt: Data-Input GmbH, 2005 <strong>5</strong> Vandarakis D et al.: A comparison of COSMED metabolic systems for the determination of resting metabolic rate. Res Sports Med 2013; 21(2): 187-94 <strong>6</strong> Kiefer I et al.: Schlank ohne Di&auml;t. Motivation, Ern&auml;hrung, Bewegung, Verhalten. Inkl. Therapeuten-Manual, Leoben, Wien: 2006 <strong>7</strong> Pudel V, Westenh&ouml;fer J: Fragebogen zum Essverhalten (FEV). Handanweisung. G&ouml;ttingen: Hogrefe, 1989 <strong>8</strong> Bullinger M, Kirchberger I: SF-36. Fragebogen zum Gesundheitszustand. Handanweisung. G&ouml;ttingen: Hogrefe, 1998 <strong>9</strong> Franke GH: SCL-90-R. Die Symptom-Checkliste von L. R. Derogatis. 2. Aufl. G&ouml;ttingen: Beltz Test, 2002 <strong>10</strong> Jack M: Fragebogen zur Erfassung von Ressourcen und Selbstmanagementf&auml;higkeiten. FERUS, Manual. G&ouml;ttingen: Hogrefe, 2007 <strong>11</strong> Kupfer J et al.: Toronto-Alexithymie- Skala-26. TAS-26, deutsche Version. G&ouml;ttingen: Hogrefe, 2001 <strong>12</strong> Baer RA et al.: Assessment of mindfulness by self-report: The Kentucky inventory of mindfulness skills. Assessment 2004; 11(3): 191-206 <strong>13</strong> Horowitz LM et al.: Inventar zur Erfassung interpersonaler Probleme. Deutsche Version, IIP-D. 2. Aufl. G&ouml;ttingen: Beltz Test, 2000</p> </div> </p>
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