
Vakzin-induzierte immunogene thrombotische Thrombopenie (VITT)
Autorinnen:
Dr. Viktoria Muster
Dr. Katharina Gütl
Ao. Univ.-Prof.in Dr. Marianne Brodmann
Klinische Abteilung für Angiologie, Universitätsklinik für Innere Medizin, Medizinische Universität Graz
Korrespondenz:
E-Mail: viktoria.muster@medunigraz.at
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Seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie besteht ein globales Streben, die Verbreitung des Covid-19-Virus einzudämmen. Innerhalb eines Jahres gelang es, mehrere Vakzine zu entwickeln und zu produzieren, wodurch es zu einem deutlichen Rückgang der Infektionszahlen und auch der Hospitalisierungen gekommen ist. Inseltenen Fällen traten aber auch unerwünschte Nebenwirkungen auf.
Keypoints
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Die Vakzin-induzierte immunogene thrombotische Thrombopenie (VITT) stellt eine seltene, aber ernste Komplikation von Covid-19-Vektorimpfstoffen dar.
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Der Symptombeginn findet sich zwischen Tag 4 und 28 nach der Impfung. Die Diagnosestellung erfordert das Vorhandensein einer venösen Thromboembolie (VTE) sowie einer Thrombopenie.
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Die unverzügliche Abklärung eines VITT-Verdachts sowie die Einleitung einer spezifischen Therapie bei bestätigter Diagnose sind unverzichtbar.
Ende Februar 2021 kamen erstmals Sicherheitsbedenken im Zusammenhang mit dem Vektorimpfstoff ChAdOx1 von AstraZeneca auf. Es wurde über erste Fälle von thrombotischen Ereignissen an untypischen Lokalisationen in Kombination mit Thrombopenien innerhalb kurzer Zeit nach der Impfung berichtet. Auch nach der Impfung mit dem Johnson-&-Johnson-Vakzin in den USA wurden ähnliche thrombotisch-thrombozytopenische Fälle bekannt. Das auftretende Erkrankungsbild wurde als Vakzin-induzierte immunogene thrombotische Thrombopenie (VITT) deklariert. Bislang wurden einige mögliche Pathomechanismen dieses Syndroms untersucht, vollständig erklärbar ist es jedoch bis heute nicht. Im Folgenden sollen die bisherigen Erkenntnisse zusammenfassend dargestellt werden.
Epidemiologie
Die Epidemiologie der VITT muss im Kontext mit ähnlichen Komplikationen in der Normalbevölkerung betrachtet werden. Die jährliche Inzidenz einer isolierten Thrombopenie wie beispielsweise einer Immunthrombopenie oder einer isolierten Sinusvenenthrombose ist höher als bei einer VITT. Adjustiert man die Zahlen jedoch auf jenen Zeitraum von zwei Wochen nach der Impfung, in welchem dieses Phänomen typischerweise auftritt, so sind die korrespondierenden Zahlen wiederum geringer als jene einer VITT.1
Von einem Klasseneffekt aller Covid-19-Impfstoffe ist jedoch nicht auszugehen. Die zwei Hauptgruppen zugelassener Covid-19-Impfstoffe sind zum einen mRNA-basierte Impfstoffe (von BioNTech/Pfizer und Moderna) und zum anderen Adenovirus-basierte Vektorimpfstoffe (AstraZeneca und Johnson & Johnson). Der Impfstoff von AstraZeneca verwendet ein Adenovirus des Schimpansen, Johnson & Johnson ein rekombiniertes humanes Adenovirus. Am besten untersucht sind impf-assoziierte Thrombosen nach Erhalt des AstraZeneca-Vakzins. Daten aus den USA zeigen, dass bei >200 Millionen applizierten Dosen der mRNA-basierten Impfstoffe keine einzige Thrombose im Zusammenhang mit einer Thrombopenie dokumentiert wurde.1
Pathogenese
Rezent publizierte Studien gehen bei der VITT von einer immunologisch vermittelten Komplikation aus, die zu einem gewissen Grad einer autoimmunen Heparin-induzierten Thrombopenie (aHIT) ähnelt. Im Gegensatz zu einer klassischen HIT, bei der Antikörper an ultragroße Komplexe von Plättchenfaktor 4 (PF4) an Heparin oder Polyanionen binden, ist die aHIT trotz des Auftretens der Anti-Heparin/PF4-Antikörper unabhängig von Heparinen oder Polyanionen. Die zirkulierenden Anti-Heparin/PF4-Antikörper in Zusammenhang mit Thrombopenien und Thrombosen bei der VITT legen nahe, dass sie eine klinische Variante einer aHIT ist.1–4
Von einer Überschneidung des Krankheitsbildes einer VITT mit den prokoagulatorischen Komplikationen einer Covid-19-Erkrankung kann zum derzeitigen Zeitpunkt nicht ausgegangen werden, da hohe Spiegel an Anti-Heparin/PF4-Antikörpern bei Patienten mit VITT zu finden sind, nicht aber bei Patienten mit einem schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung. Weiters scheint die VITT unabhängig von einer Anti-SARS-CoV-2-Immunität zu sein.1,3,4
Klinisches Erscheinungsbild
Das Krankheitsbild der VITT manifestiert sich zumeist zwischen Tag 4 und Tag 14 nach Verabreichung eines Vektorimpfstoffs. Vereinzelte Fallvignetten beschreiben aber das Auftreten von Erstsymptomen sogar bis zu 28 Tage nach der Impfung. In Abhängigkeit von der Lokalisation des thrombotischen Geschehens kann auch die klinische Symptomatik sehr vielfältig sein.
Mögliche Symptome sind schmerzhafte Beinschwellungen, Atembeschwerden und Thorax-, Bauch- und Kopfschmerzen. Im Allgemeinen sind die tiefen Bein- und Beckenvenen sowie die Pulmonalarterien die mit Abstand häufigsten Lokalisationen venöser Thrombosen, wohingegen sich bei einer VITT typischerweise Thrombosen an unüblichen Lokalisationen wie den Sinusvenen, Splanchnikusvenen, den Ovarialvenen oder der Pfortader manifestieren. Laborchemisch zeigt sich das Bild einer Verbrauchskoagulopathie bestehend aus einer Thrombozytopenie, einem Fibrinogenmangel sowie einer massiven D-Dimer-Erhöhung. Als zentrales Diagnosekriterium ist an dieser Stelle insbesondere das Vorhandensein einer schweren Thrombopenie hervorzuheben.1,5–9
Abklärungsalgorithmus
Abb. 1: Diagnostischer Algorithmus zur Bestätigung des Verdachts auf Vakzin-induzierte immunogene thrombotische Thrombopenie (VITT). Modifiziert nach ISTH11
Ein sehr praktikabler diagnostischer Algorithmus der Internationalen Gesellschaft für Thromboseforschung und Hämostaseologie (ISTH) wurde bereits im April 2021 veröffentlicht.10 Gemäß diesem Algorithmus sollte in einem ersten Schritt erhoben werden, ob das Vorhandensein einer typischen Symptomatik für eine venöse Thromboembolie (VTE) in Kombination mit einem Beschwerdebeginn innerhalb von 4 bis 28 Tagen nach Erhalt einer Covid-19-Impfung mit dem Vakzin von AstraZeneca oder Johnson & Johnson vorliegt. Sollten diese beiden Kriterien erfüllt sein, ist weiterhin ein VITT-Verdacht bestehend und demzufolge eine zusätzliche Abklärung erforderlich.
In einem nächsten Schritt sollen eine Bildgebung zur Objektivierung einer Thrombose und eine Blutbildbestimmung zur Quantifizierung der Blutplättchenzahl erfolgen. Sollten hierbei sowohl ein thrombotisches Geschehen sowie auch eine Thrombozytopenie nachgewiesen werden, so ist eine VITT eine mögliche Diagnose. Die Diagnosesicherung in diesem Algorithmus erfordert den Nachweis von antithrombozytären Antikörpern gegen PF4. Sollte eine solche Bestimmung nicht verfügbar sein, so können stattdessen Gerinnungsparameter wie Fibrinogen, D-Dimer, aktivierte partielle Thromboplastinzeit und Prothrombinzeit herangezogen werden, um die Verdachtsdiagnose zu erhärten oder zu entschärfen.10 Ein vereinfachter Algorithmus zur Diagnoseverifizierung einer VITT in Anlehnung an den ISTH-Algorithmus ist in Abbildung 1 dargestellt.11
Therapie
Die bewährte Therapie der bestätigten VITT setzt sich zusammen aus Immunglobulingabe, hoch dosiertem Kortikosteroid und Antikoagulation.10–12 Die Verabreichung der Immunglobuline soll intravenös in einer Dosierung von 0,5–1g/kg Körpergewicht über zwei Tage erfolgen und ohne Zeitverzögerung bei Diagnosestellung eingeleitet werden. Zur Antikoagulation sollen bevorzugt Non-Heparine gewählt werden.
Die beste Datenlage liegt bislang für den parenteralen Thrombininhibitor Argatroban vor. Alternativ können auch Fondaparinux oder direkte orale Antikoagulanzien (DOAK) verordnet werden. Beim Einsatz von DOAK bei VITT ist zu beachten, dass die Thrombozytenzahl >50x109/l betragen sollte. Vermieden werden sollten in jedem Fall sämtliche Heparine (unfraktionierte [UFH] und niedermolekulare [NMH] Heparine) sowie auch Vitamin-K-Antagonisten (VKA).
Die additive Steroidgabe zusätzlich zu intravenösem Immunglobulin (IVIG) und Antikoagulation gilt insbesondere als indiziert bei initialer Thrombopenie <50x109/l (z.B. Prednison 1–2mg/kg Körpergewicht). In der überwiegenden Anzahl der Fälle kann ein gutes und insbesondere auch sehr rasches Ansprechen der Kombinationstherapie mit IVIG, Steroid und Antikoagulation verzeichnet werden.12 Bei therapierefraktärer schwerer Thrombopenie <30x109/l wäre ein Plasmaaustausch in Erwägung zu ziehen.10
Resümee
Die VITT stellt eine seltene, jedoch ernste Komplikation von Covid-19-Vektorimpfstoffen dar. Es ist derzeit noch unklar, ob ein möglicher Klasseneffekt bzw. Unterschiede der Inzidenz von VITT nach AstraZeneca- und Johnson-&-Johnson-Impfungen mit dem unterschiedlichen Vektor zusammenhängen. Offene Fragen bestehen weiterhin bezüglich der kausalen Rolle der PF4-Antikörper im Rahmen der Immunantwort und auch bezüglich der Möglichkeit, mittels Biomarkern besonders gefährdete Patienten vorab zu identifizieren. Trotz der limitierten Datenlage ist es essenziell, betroffene Patienten rasch zu erkennen und eine Therapie gemäß den aktuellen Empfehlungen einzuleiten.
Wie lange eine Antikoagulation bei diesen Patienten notwendig ist, bleibt weiter offen, und auch die Frage, ob zukünftige Adenovirus-basierte Impfungen bei VITT-Patienten kontraindiziert sind, kann derzeit nicht beantwortet werden. Trotz vieler weiterhin bestehender Unklarheiten konnten Erkenntnisse über das Erkrankungsbild VITT in kürzester Zeit gewonnen werden. Ein zunehmendes Bewusstsein und eine fortschreitende Abklärung dieses Syndroms werden auch zukünftig unser Verständnis erweitern und das klinische Outcome betroffener Patienten verbessern.
Literatur:
1 Arepally GM et al.: Vaccine-induced immune thrombotic thrombocytopenia: what we know and do not know. Blood 2021; 138(4): 293-8 2 Greinacher A et al.: Thrombotic thrombocytopenia after ChAdOx1 nCov-19 vaccination. N Engl J Med 2021; 384(22): 2092-101 3 McGonagle D et al.: Mechanisms of immunothrombosis in vaccine-induced thrombotic thrombocytopenia (VITT) compared to natural SARS-CoV-2 infection. J Autoimmun 2021; 121: 102662 4 Dotan A et al.: Perspectives on vaccine induced thrombotic thrombocytopenia. J Autoimmun 2021; 121: 102663 5 Guetl K et al.: SARS-CoV-2 vaccine-induced immune thrombotic thrombocytopenia treated with immunoglobulin and argatroban. Lancet 2021; 397(10293): e19 6 Muster V et al.: Pulmonary embolism and thrombocytopenia following ChAdOx1 vaccination. Lancet 2021; 397: 1842 7 See I et al.: US case reports of cerebral venous sinus thrombosis with thrombocytopenia after Ad26.COV2.S vaccination, March 2 to April 21, 2021. JAMA 2021; 325(24): 2448-56 8 Thaler J et al.: Successful treatment of vaccine-induced prothrombotic immune thrombocytopenia (VIPIT). J Thromb Haemost 2021; 19(7): 1819-22 9 Graf T et al.: Immediate high-dose intravenous immunoglobulins followed by direct thrombin-inhibitor treatment is crucial for survival in Sars-Covid-19-adenoviral vector vaccine-induced immune thrombotic thrombocytopenia VITT with cerebral sinus venous and portal vein thrombosis. JNeurol 2021; 268(12): 4483-5 10 Oldenburg J et al.: Diagnosis and management of vaccine-related thrombosis following AstraZeneca COVID-19 vaccination: guidance statement from the GTH. Hamostaseologie 2021; 41(3): 184-9 11 Nazy I et al.: Recommendations for the clinical and laboratory diagnosis of VITT against COVID-19: communication from the ISTH SSC subcommittee on platelet immunology. J Thromb Haemost 2021; 19(6): 1585-8 12 Bourguignon A et al.: Adjunct immune globulin for vaccine-induced immune thrombotic thrombocytopenia. NEngl J Med 2021; 385: 720-8
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