
Viele kleine Schritte machen den Unterschied
Universitätsklinik für Neurologie<br> Medizinbereich Neuro<br> Inselspital, Universitätsspital Bern<br> E-Mail: <a href="mailto:andrew.chan@insel.ch">andrew.chan@insel.ch</a>
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Die Entwicklung auf dem Gebiet der Multiplen Sklerose (MS) ist in den letzten Dekaden geprägt von enormen wissenschaftlichen, diagnostischen und therapeutischen Fortschritten.
Während es Anfang der 1990er-Jahre nur wenige injizierbare Medikamente gab, ist die Zahl der zugelassenen Medikamente gerade auch in den letzten Jahren deutlich angestiegen (Abb. 1). Neben vielfältigen Applikationsarten, wie den von vielen Patienten in den 2010er-Jahren ersehnten oralen Medikamenten, haben neuere Wirkprinzipien auch andere Wirksamkeitsgrade mit sich gebracht. Dies spiegelt sich zum Teil auch in den deutlich ambitionierteren Studienendpunkten wider, und auch im klinischen Alltag sind wir deutlich weniger permissiv gegenüber neuen Krankheitsmanifestationen als noch vor Jahren. Gleichermassen ist aber die Therapie der Multiplen Sklerose aufgrund von teils schwerwiegenden und zuvor nicht antizipierten Nebenwirkungen deutlich komplexer geworden. Dies illustriert wie in anderen Gebieten der Medizin, dass der Fortschritt in verschiedenen Gebieten auch immer mit gewissen Rückschritten verbunden war.
Was wir erreicht haben …
In kaum einem Gebiet der Neurologie hatten grundlagenwissenschaftliche Erkenntnisse einen so tiefgreifenden Einfluss auf die klinische Versorgung wie bei der Multiplen Sklerose. Ein Beispiel hierfür ist die (Wieder-)Beschreibung des potenziell irreversiblen Gewebeschadens in Form von axonaler Degeneration bereits früh während der Erkrankung. Die daraus abgeleitete Hypothese eines möglichst frühen Beginns einer verlaufsmodifizierenden Therapie konnte im Verlaufe auch in klinischen Studien substantiiert werden. Ein weiteres prominentes Beispiel für den Einfluss der Grundlagenforschung ist die Beschreibung der zentralen Rolle eines Zelladhäsionsmoleküls (Integrin α4β1) bei der Extravasation von Leukozyten über die Blut-Hirn-Schranke in das ZNS im Tiermodell Anfang der 1990er-Jahre. Diese stellte die experimentelle Grundlage für die Einführung des Medikamentes Natalizumab in die klinische Versorgung Mitte der 2000er-Jahre dar. Allerdings verdeutlichte das nicht antizipierte Auftreten einer opportunistischen, potenziell letalen ZNS-Infektion (progressive multifokale Leukenzephalopathie, PML) gleichzeitig, dass trotz der experimentell abgeleiteten Selektivität der Therapie mit einem monoklonalen Antikörper Eingriffe in ein komplexes immunologisches Netzwerk in ihren globalen biologischen Konsequenzen weiterhin nicht gut vorhersagbar sind. Die Tatsache, dass die PML als Nebenwirkung auch bei anderen Substanzen mit unterschiedlichen Wirkmechanismen auftritt, unterstreicht das letztlich bisher unzureichende Verständnis dieser komplexen Interaktionen. Neben grundlagenwissenschaftlichen Erkenntnissen haben insbesondere auch technologische Weiterentwicklungen, wie beispielsweise die breite Einführung der Magnetresonanztomografie, wesentliche therapeutische Fortschritte ermöglicht und auch das Studiendesign revolutioniert. Diese mannigfaltigen Fortschritte haben sowohl wissenschaftlich, klinisch, aber auch bei der pharmazeutischen Industrie dazu geführt, dass die Erkrankung stark im Fokus der Bemühungen stand und steht. Auch sind die Beschwerden und der Leidensdruck der von MS Betroffenen weiter in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. So stellen neben immuntherapeutischen verlaufsmodifizierenden Medikamenten auch symptomatische Therapien (medikamentös und nicht medikamentös) wesentliche Säulen im globalen Behandlungskonzept dar. Weitere, teils schwerer fassbare und objektivierbare Einschränkungen, wie die MS-spezifische Fatigue (pathologische Erschöpfbarkeit) oder auch kognitive Defizite, sind zwar weiterhin unvollständig verstanden, dennoch haben auch hier v.a. die modernen bildgebenden Methoden wesentliche Erkenntnisse geliefert, die auf weitere Fortschritte auch in diesen Bereichen hoffen lassen.
… und welche Ziele noch vor uns liegen
Allerdings können die bisherigen Fortschritte nicht darüber hinwegtäuschen, dass wesentliche Ziele (noch) nicht erreicht sind. Obwohl die Einführung von verlaufsmodifizierenden Medikamenten für progrediente Verläufe (primär progredient in den späten 2010er-Jahren, Ocrelizumab; sekundär chronisch progredient, Siponimod, 2020) wissenschaftlich gesehen einen wesentlichen Fortschritt bedeuten, ist der klinische Effekt mit einer Verlangsamung des Fortschreitens der Behinderung moderat. Dies führt im klinischen Alltag dazu, dass wir im Allgemeinen gute Therapieangebote für Patienten mit schubförmiger MS haben, dennoch weiterhin für chronisch progrediente Fälle limitiert bleiben. Insbesondere für diese Patientengruppe ist relevant, dass sich Hoffnungen auf potenziell neuroprotektive oder gar neuroregenerative Ansätze in fortgeschrittenen klinischen Studien bisher nicht bewahrheitet haben. Aber auch bei den erweiterten verlaufsmodifizierenden Therapieangeboten für schubförmige Verläufe bleiben viele Fragen weiterhin offen. So benötigen wir beispielsweise bessere Prädiktoren der Prognose und des Therapieansprechens bzw. von potenziellen Nebenwirkungen, um die Auswahl der Therapeutika individualisierter gestalten zu können. Trotz der vielen Schritte, die bereits zurückgelegt worden sind, bleibt noch eine lange Strecke zu gehen. Nur wenn die Betroffenen, Patientenorganisationen, Wissenschaft, Industrie, Ärzte, Therapeuten und Heilberufler, aber auch die Angehörigen und weitere gesellschaftliche Gruppen gemeinsam voranschreiten, werden wir das notwendige Tempo nicht verlieren. Dies ist umso wichtiger, da die Prävalenz der Erkrankung vermutlich auch in der Schweiz höher ist als zuvor angenommen und die Diagnose trotz der prinzipiellen Behandelbarkeit immer noch einen wesentlichen Schicksalsschlag für die Betroffenen bedeutet.
Interessenkonflikte:
Andrew Chan has served on advisory boards for, and received funding for travel or speaker honoraria from, Actelion-Janssen, Almirall, Bayer, Biogen, Celgene, Sanofi-Genzyme, Merck, Novartis, Roche, and Teva, all for hospital research funds; and research support from Biogen, Genzyme and UCB. A. Chan is associate editor of the European Journal of Neurology and serves on the editorial board for Clinical and Translational Neuroscience and as topic editor for the Journal of International Medical Research.
Literatur:
beim Verfasser