
Mind the Gap
Bei der Behandlung von neuromuskulären Erkrankungen mit neuropathischem Anteil geht es auch darum, die Grenzen der Physik zu kennen. Neue Musterverordnungen sollen hier helfen.
Die Behandlung von Erkrankungen mit progressivem Verlauf ist immer eine Herausforderung. Bei neuromuskulären Erkrankungen ist interdisziplinäre Zusammenarbeit besonders wichtig.
Im Idealfall arbeiten Neurologie, Orthopädie und physikalische Medizin eng zusammen. Im Praxis-, aber auch im Patientenalltag ist diese enge Zusammenarbeit mit mehrfacher Konsultation dreier Spezialisten oft nicht möglich.
Neurophysiotherapie und Schuhe
So ist es dann doch der Neurologe, der den Tipp zur Elektrotherapie, zur Neurophysiotherapie oder zu orthopädischer Schuhversorgung gibt und oft auch die Verordnung ausstellt. Da die lokalen Versorger dann aber eben keine Neurologieexperten und Neurologen keine Orthopädieexperten sind, entsteht eine Lücke.
Die Selbsthilfegruppe CMT-Austria hat nun zwei Musterverordnungen gestaltet, die dem Schuhversorger und dem Physiotherapeuten die Arbeit erleichtern sollen.
Verordnungsvorlagen mit nützlichen Hinweisen
„Wir haben die Rückmeldungen unserer Mitglieder und das Expertenwissen aus den Tagungen und Studienprojekten der letzten Jahre zusammengeführt. Es hat sich gezeigt, dass das Miteinbeziehen physikalischer Grundprinzipien erst den Weg zu sinnvoller und befriedigender Therapie bzw. Versorgung öffnet“, so CMT-Austria- Vorstandsmitglied Barbara Chaloupek.
Neurophysiotherapie
Für Neurophysiotherapieeinheiten bewährt hat sich ein Mix aus sensiblen Reizen und funktionsorientierter Muskelleistung, der auch die Rumpfstabilität miteinbezieht. Aus einer Zusammenarbeit mit der FH St. Pölten/Dozentin Anita Kidritsch, MSc, haben sich elf Anregungen ergeben, die sich auf der Rückseite der Verordnung finden.
Ein Beispiel: Sensibilitätsverlust lähmt. Als Folge der Minderleistung der Nerven krallen die Zehen haltsuchend in den Boden und sperren so gegen eine erwünschten Abrollbewegung. Bewährt hat es sich, den Gang ohne Socken zu befunden und auf sichtbare Spannung (weiße Stellen) zu achten und entsprechend das Nachlassen zu üben.
Tipp: Auch in sensibilitätsbeeinträchtigten Zonen (Fußsohle, Vorfuß …) lassen sich Bewegungsanreize für kleine Muskeln eventuell mit kalten Fingern oder leichten Pinselstrichen setzen.
Orthopädische Schuhversorgung
Dr. Walter Strobl, Neuroorthopäde, und das Motio Fortbildungsinstitut haben hier mitgeholfen. Ziel ist es, Überlastungssymptome, die vergleichsweise schwierige, knöcherne Operationen nach sich ziehen, zu vermeiden und Bewegungsfreude zu erhalten. Zu schwere oder harte Schuhe werden da oft als Hindernis empfunden, genauso wie zu weiche Schuhe, die wie beim diabetischen Fuß nur auf Druckentlastung abzielen.
Konkrete Tipps sind hier zum Beispiel:
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Ein häufiges Sturzmuster bei CMT ist, dass der Vorfuß hängen oder „picken“ bleibt. Ein Rutschleder und wenig Überstand vor den Zehen haben sich da als hilfreich erwiesen.
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Die verminderte Nervenleistung führt zu diffusen Signalen in der Propriozeption. Das sieht im Gangbild oft ähnlich aus wie eine Schwäche des Knöchels, ist es aber nicht. Der Knöchel muss nur in Ausnahmefällen gestützt werden.
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Die Fuß- und Wadenmuskulatur kann auf die verminderte Nervenleistung mit Spasmen reagieren, was bei längerer Nichtbehandlung zur Sehnenverkürzung führen kann. Ein so bedingter Fersenhochstand kann nicht durch höhere Absätze entlastet werden. Hier ist es ratsam, den Patienten bzw. die Patientin an einen Facharzt für Neuroorthopädie oder physikalische Medizin zu überweisen.
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Zur Erleichterung ergonomischer Bewegung dienen Abrollhilfe/Rolle, lateral vorgezogener Absatz, Sohlenverbreiterung.
Die Musterverordnungen stehen zum Download auf cmt-austria.at bereit. Sie können auch bei anderen Erkrankungen aus dem neuromuskulären Formenkreis helfen.
Übrigens: Auf cmt-austria.at gibt es auch erklärende Videos und immer aktuell eine Liste neurotoxischer Medikamente.
Quelle:
CMT-Austria
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