© H. Rohra

Mein Leben mit Demenz

„Manchmal finde ich nicht in den Hörsaal, aber fachlich bin ich top!“

Humor, Kraft und Zuversicht − vielleicht ist das das Geheimrezept von Helga Rohra? Seit 15 Jahren lebt die Münchnerin mit der Diagnose Demenz und widerlegt seither alle Vorurteile, denen Menschen mit Demenz üblicherweise begegnen. Sie ist Dozentin, Autorin, Kongresssprecherin, Coach und vor allem: Freundin für viele, die in einer ähnlichen Situation sind. Gemeinsam machen sie sich stark für ein freudvolles Leben trotz Demenz. Wir fragen Frau Rohra, wie die Ärzteschaft ihre Patienten bei diesem Ziel unterstützen kann.

Eine solche Persönlichkeit trifft man wahrlich nicht alle Tage. Früher war Helga Rohra Dolmetscherin und übersetzte auf medizinischen Kongressen und Tagungen. Mit 54 Jahren erhielt sie die Diagnose Lewy-Body-Demenz. Kein Stein blieb auf dem anderen. Von den 7 Sprachen, die sie vorher fließend sprach, blieben ihr noch zwei im Gedächtnis: Deutsch und Englisch.

Heute − 15 Jahre später − steht Frau Rohra selbst hinter dem Rednerpult und gibt Menschen mit Demenz eine kraftvolle Stimme. Ihre Reisen als selbsternannte Demenzaktivistin führen sie quer durch Europa, wo sie unter den Menschen mit Demenz nach Mitstreitern sucht. Ihr Motto: „TrotzDEM stark − trotz Demenz“.

Frau Rohra, gibt es etwas, das Ihren Alltag seit der Diagnose erleichtert hat?

H. Rohra: Natürlich! Erleichternd ist der Sinn, den ich jeden Tag in meinem Leben sehe, obwohl bestimmte Fähigkeiten schwächer werden. Ich kann anderen in meinen Vorträgen erzählen, wie wichtig es ist, mit den Betroffenen zu sprechen und nicht über sie. Wenn man einen solchen Lebenssinn nicht spürt, dann sitzt man da, guckt aus dem Fenster und wartet, dass der Tag zu Ende geht. Auf diesem Weg verfällt man aber nur in Trauer und Depression. Ich orientiere mich lieber an positiven Beispielen. Ich habe Freunde, die seit über 20 Jahren mit und trotz Demenz leben. Bei uns heißen solche Menschen „warrior“, Kämpfer.

Welchen Aspekt übersieht die Gesundheitsversorgung bei der Demenz?

H. Rohra: Dass Menschen mit Demenz nicht gleich ein Pflegefall sind. Sie werden üblicherweise sofort in die Schublade der Hilflosen gesteckt, so, als könnten sie nichts mehr leisten. Die Stakeholder der Gesundheitspolitik konzentrieren sich zu wenig auf die Anfänge der Demenz und das, was der Mensch in diesem Stadium noch kann. Dabei müsste man seine Fähigkeiten als Möglichkeit zur Inklusion nützen und ihm eine Aufgabe geben. Davon profitieren der Patient, die Familie und sogar das Gesundheitssystem.

Wesentlich ist dafür eine gute psychologische Begleitung zu Beginn der Erkrankung. Vom Arzt hört man bei der Diagnose meist nur, dass man sich um seine Vollmachten und Verfügungen kümmern solle und einem die Statistik ein paar wenige Jahre gibt. Mir hat man damals auch 2 oder 3 Jahre gegeben – und jetzt gucken Sie mich mal an!

Man müsste also früher ansetzen …

H. Rohra: Früher – und vor allem mit psychologischer Betreuung. Sonst rutscht man schnell nach unten in die Trauer, Depression oder Aggressivität. Ich habe diese Phasen schon alle hinter mir. Man muss verstehen, dass Menschen mit Demenz Angst haben, weil sie mit etwas Neuem konfrontiert sind. Seit ich meine Diagnose bekommen habe, hat sich Gott sei Dank schon vieles verändert, aber es ist noch ein weiter Weg.

An welchen Ländern könnten wir uns in Zukunft orientieren?

H. Rohra: Führend sind – global, nicht nur in Europa – Schottland, Irland und Wales. Von dort kann man lernen, dass neben Fachleuten auch Ehrenamtliche bei der Unterstützung von neu diagnostizierten Menschen helfen können. So wird eine Möglichkeit geschaffen, an wen man sich nach einer Diagnose wenden kann.

Ganz wichtig aber ist, dass hier die Menschen beruflich integriert sind. Das ist wirklich weltweit führend. Für den Demenzkranken bedeutet das, dass er seinem Chef von der Diagnose erzählen kann, ohne sich zu schämen. Und wieso denn auch nicht? Ich zum Beispiel unterrichte an der Uni. Ich kann mir zwar vieles nicht merken und manchmal finde ich nicht in den Hörsaal, aber fachlich bin ich top! Besonders gut funktioniert das, wenn man in einem Team arbeitet. Nach dem Motto: „Don’t worry, we are strong together!“

Ihr Engagement ist beeindruckend.Wie kam es dazu?

H. Rohra: Im ersten Jahr nach der Diagnose war ich niedergeschlagen, traurig und depressiv. Aber dann habe ich mich aufgestellt. Ich dachte mir, als Dolmetscherin für medizinische Themen bringe ich ein zu großes Wissen im Bereich der Demenz mit, um nur zu Hause zu sitzen. Ich bin ja ein Experte „by experience“! So habe ich mich auf die Suche nach Mitstreitern gemacht und war in ganz Europa dafür unterwegs.

Weil es gemeinsam besser geht?

H. Rohra: Ja klar! Es reicht nicht, wenn eine Helga Rohra alleine etwas bewegen will. In Österreich gibt es mittlerweile viele Organisationen und Vereine, die zusammenarbeiten, um mit Menschen im Anfangsstadium Projekte umzusetzen: die Caritas, die Pensionistenclubs, die MAS Alzheimerhilfe in Bad Ischl, die Uni Krems rund um Professorin Stefanie Auer, das Rote Kreuz und, und, und. Sie alle gehen innovative Wege, damit gerade die Menschen, von denen man früher meinte, sie wären „alt und krank und ohne Geist“, in der Politik mitarbeiten können.

Sie haben von der Berufstätigkeit gesprochen. Welche Anliegen beschäftigen Menschen mit Demenz noch?

H. Rohra: Da gibt es eine Menge Themen, über die sich Demenzkranke austauschen möchten. Etwa die Frage, was einem zusteht. Oder wie man über Sport oder Musik noch Freude finden kann. Diese Anliegen müssen koordiniert werden, und das funktioniert in Wien mit dem Verein PROMENZ schon sehr gut. Daneben ist aber ebenso wichtig, dass Demenzkranke die Möglichkeit bekommen, auch Menschen ohne Demenz von ihren Erfahrungen zu erzählen – zum Beispiel Ärzten. Ihnen zuzuhören, das wäre mein Appell an die Ärzteschaft!

Welche Botschaften wollen Sie den Neurologen und Psychiatern, die unser Journal lesen, sonst noch mitgeben?
© H. Rohra

Für unser Interview erreichen wir Frau Rohra per Videotelefonat. Ob sie sich im Netz auskennt? „Natürlich, da bin ich jede Nacht aktiv, so muss das sein. Nach Mitternacht ist die andere Seite der Welt wach und soll Bescheid wissen.“

H. Rohra: Die erste Botschaft ist, mit dem Betroffenen zu sprechen und nicht mit seiner Begleitung. Als demenzkranker Mensch wünsche ich mir die Chance, selbst für mich zu sprechen – auch einmal alleine, ohne meine Angehörigen daneben. Denn ich verhalte mich dann anders und traue mich auch anders zu reden. Man muss bedenken, dass sich der Demenzkranke ja auch um die Menschen um sich herum sorgt und in ihrer Anwesenheit womöglich weniger offen ist.

Zweitens muss man den Menschen immer ganzheitlich und als Individuum sehen. Das braucht natürlich seine Zeit. Ich selbst hatte immer das Glück, dass sich mein Arzt Zeit für mich genommen hat, auch mal eine Stunde lang − und das als ganz normale Kassenpatientin. Es ist aber natürlich auch kein Idealfall, wenn Ärzte alles pro bono machen müssen, hier müsste die Politik etwas ändern.

Und das Letzte wäre, dass jeder Neurologe auch einen Psychiater oder Psychologen an seiner Seite haben sollte. Die psychologische Betreuung sollte die Menschen gleich zu Beginn ihrer Krankheit auffangen. Und wenn jemand das Angebot ablehnt, sollte man seine Daten dennoch erfassen und fragen, ob man sich bei der Person melden darf. So ist es zum Beispiel in den Niederlanden oder in England. Dort werden die Menschen jede Woche angerufen und gefragt, wie es ihnen geht und ob sie in die Sprechstunde kommen möchten. So etwas kennen wir hier gar nicht.

Sie strahlen sehr viel Hoffnung und Zuversicht aus. Worauf freuen Sie sich in der Zukunft?

H. Rohra: Demenz kennt keine Grenzen, sage ich immer. Deshalb würde ich mich über eine gemeinsame Aktion von Menschen mit Demenz aus Österreich und Deutschland sehr freuen, mit der wir noch mehr Bewusstsein schaffen können. Ich sage: Lasst uns gemeinsam die Alpen überqueren! Da gibt es ja Wanderwege, wieso also nicht?

● Rohra H: Aus dem Schatten treten. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag. ISBN 978-3-940529-86-2 ● Rohra H: Ja zum Leben − trotz Demenz! Heidelberg: medhochzwei, ISBN 978-3-86216-283-3 (auch als Hörbuch erhältlich, ISBN 978-3-86216-300-7)

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