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Demenz und psychotische Symptome

Komplott der Nachbarin

<p class="article-intro">Viele Menschen mit Demenz leiden unter psychotischen Symptomen, vor allem unter optischen Halluzinationen, Wahnvorstellungen oder dem Gefühl, die Mitmenschen seien durch Doppelgänger ausgetauscht. Das kann grosse Angst auslösen und belastet Angehörige und Pfleger. Zu einer Demenzabklärung gehört immer auch die Suche nach psychotischen Symptomen, erklärt Psychiater Prof. Gregor Hasler von der Universität Bern. Medikamente können den Betroffenen helfen, doch ebenso wichtig ist es, Stressfaktoren zu minimieren.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Die alte Dame erz&auml;hlt ihren Kindern, die Zimmernachbarin im Pflegeheim w&uuml;rde sie st&auml;ndig beobachten. Sie w&uuml;rde nur auf den richtigen Moment warten, um ihren Schmuck zu klauen, da ist sich die Dame ganz sicher! Sie m&uuml;sse st&auml;ndig wachsam sein, am besten sollten die Kinder ihr einen Safe f&uuml;r den Schmuck mitbringen. Doch die Zimmernachbarin hat nicht vor, die Dame zu beklauen. Die Dame hat eine Demenz, und die Vorstellung, bestohlen zu werden, ist ein Zeichen ihrer Krankheit. Mediziner sagen dazu &laquo;psychotisches Symptom&raquo;: Die Betroffenen glauben etwas zu sehen oder zu h&ouml;ren oder sie sp&uuml;ren etwas, was nicht mit der Realit&auml;t &uuml;bereinstimmt. &laquo;Viele Demenzkranke leiden unter solchen Symptomen&raquo;, sagt Prof. Gregor Hasler, Chefarzt und Extraordinarius der Universit&auml;ren Psychiatrischen Dienste (UPD) der Universit&auml;t Bern. &laquo;Wichtig ist, dass man solche Symptome erkennt und den Betroffenen hilft &ndash; nicht nur mit Medikamenten, sondern auch mit einfachen allgemeinen Massnahmen.&raquo;</p> <p>Schon 1907 beschrieb Alois Alzheimer psychotische Symptome bei Patienten mit Alzheimerdemenz<sup>1</sup> und erkannte bald, dass das mit Problemen verbunden ist: Die Demenz entwickelt sich bei den Demenzpatienten mit psychotischen Symptomen besonders schnell. &laquo;Demenzkranke mit psychotischen Symptomen sind &ouml;fter unruhig, aggressiv oder gar k&ouml;rperlich handgreiflich&raquo;, sagt Hasler. &laquo;Das setzt Pflegende und Angeh&ouml;rige unter Druck.&raquo; Die Betroffenen w&uuml;rden oft sehr fr&uuml;h in ein Pflegeheim gebracht, erz&auml;hlt der Psychiater, und einige Kollegen w&uuml;rden rasch Antipsychotika verschreiben. &laquo;Damit muss man aber vorsichtig sein&raquo;, sagt Hasler. &laquo;Die Pr&auml;parate k&ouml;nnen bei Demenzkranken schwerwiegende unerw&uuml;nschte Wirkungen haben &ndash; wir sind da in einem ziemlichen Dilemma.&raquo; Menschen, die Demenzkranke mit psychotischen Symptomen pflegen, leiden h&auml;ufiger unter der Pflegesituation, als wenn die Betroffenen diese Beschwerden nicht h&auml;tten.<sup>2</sup></p> <p>Lange Zeit seien sich &Auml;rzte des Problems nicht richtig bewusst gewesen, erz&auml;hlt Hasler. &laquo;Heute wissen wir aber, dass psychotische Symptome bei Menschen mit Demenz h&auml;ufig vorkommen.&raquo; So zeigten Dr. Susan Ropacki und Dr. Dilip Jeste von der Abteilung f&uuml;r Psychiatrie der Universit&auml;t Kalifornien und vom Veterans Affairs Healthcare System in San Diego in einer &Uuml;bersichtsarbeit von 55 Studien, dass 4 von 10 Alzheimerpatienten unter solchen Symptomen leiden. Von diesen hat jeder Dritte Wahnvorstellungen und jeder F&uuml;nfte Halluzinationen. Andere Autoren fanden &auml;hnliche Pr&auml;valenzen.<sup>1&ndash;3</sup></p> <p>Die Art der psychotischen Symptome unterscheidet sich bei den verschiedenen Demenzformen. F&uuml;r die Lewy-K&ouml;rperchen-Demenz seien zum Beispiel optische Halluzinationen typisch, erkl&auml;rt Hasler. &laquo;Die Patienten sehen oft Menschen oder grosse Tiere und beschreiben das sehr eindr&uuml;cklich &ndash; das ist auch ein wichtiges Zeichen bei der Diagnose dieser Demenzform.&raquo; Seltener sind die Patienten von akustischen Halluzinationen betroffen. &laquo;Das ist eher typisch f&uuml;r Schizophrenie&raquo;, so Hasler. Bei Menschen mit Alzheimerdemenz machen sich psychotische Symptome &ouml;fter als Wahnvorstellungen bemerkbar, wie bei der alten Dame: &laquo;Die Betroffenen glauben, sie w&uuml;rden bestohlen, jemand habe sich gegen sie verschworen, oder sie sind krankhaft eifers&uuml;chtig.&raquo; Der Wahn kann sich auch so &auml;ussern, dass die Betroffenen glauben, eine nahestehende Person sei mit einer identischen Person, einem Doppelg&auml;nger, ausgetauscht worden. &laquo;Das ist auch als Capgras-Syndrom bekannt&raquo;, erkl&auml;rt Hasler. &laquo;Der franz&ouml;sische Psychiater Jean Marie Joseph Capgras hat das 1923 zum ersten Mal beschrieben.&raquo;</p> <p>Dass es zu psychotischen Symptomen kommt, hat mehrere Ursachen. Zum einen liegt es an den neurodegenerativen Prozessen, die die Demenz im Hirn verursacht. Hirnaufnahmen zeigten bei Alzheimerpatienten mit psychotischen Symptomen ausgepr&auml;gtere Sch&auml;den in den kortikalen Synapsen als bei Patienten ohne diese Symptome, sie hatten weniger Hirnvolumen in der grauen Substanz, einen reduzierten regionalen Blutfluss und einen verringerten Glukosemetabolismus.<sup>4</sup> Eine weitere Rolle spielt die Genetik: Das Risiko f&uuml;r die psychotischen Symptome bei Demenz wird teilweise vererbt. Die spezifischen genetischen Risikofaktoren, welche die Vererbung erkl&auml;ren w&uuml;rden, wurden bislang aber noch nicht identifiziert.<sup>5</sup></p> <p>Hinzu kommt, dass bei Demenzkranken der Bezug zur Realit&auml;t und das Ged&auml;chtnis nachlassen, was das wahnhafte Erleben f&ouml;rdert. Ein dritter Punkt ist, dass bei &auml;lteren Menschen die Sinneswahrnehmungen schwinden, vor allem h&ouml;ren sie schlechter. &laquo;So k&ouml;nnte der Betroffene ein Ger&auml;usch, welches wir als Bl&auml;tterrauschen wahrnehmen, f&uuml;r Fl&uuml;stern der Nachbarn halten, und weil sein Hirn den Sinneseindruck nicht richtig verarbeiten kann, hat er die Wahnvorstellung, die Nachbarn wollten sich gegen ihn verschw&ouml;ren&raquo;, erkl&auml;rt Hasler. &laquo;H&ouml;rt ein Demenzkranker nicht mehr gut, k&ouml;nnen H&ouml;rger&auml;te verhindern, dass solche Vorstellungen entstehen.&raquo; Eine weitere Rolle scheint die Genetik zu spielen: Die psychotischen Symptome deuten auf einen schlechten Verlauf hin, so die &Uuml;bersicht von Ropacki und Jeste: Alzheimerpatienten mit psychotischen Symptomen haben h&auml;ufiger eine eingeschr&auml;nkte kognitive Funktion, und sie l&auml;sst rascher nach als bei Patienten ohne psychotische Beschwerden.<sup>1</sup></p> <p>Essenziell sei, bei jedem Patienten mit Demenz nach psychotischen Symptomen zu suchen. &laquo;Man muss den Patienten explizit nach seinen &Auml;ngsten, Bef&uuml;rchtungen und Sinneserfahrungen fragen&raquo;, sagt Hasler. &laquo;Auch Angeh&ouml;rige und Betreuer k&ouml;nnen wertvolle Informationen liefern, zum Beispiel wenn sie &uuml;ber ein chaotisches, unverst&auml;ndliches und aggressives Verhalten berichten.&raquo; Angeh&ouml;rige und Pflegende seien oft erleichtert, wenn er die Diagnose stelle. &laquo;Endlich haben sie eine Erkl&auml;rung f&uuml;r das merkw&uuml;rdige Verhalten. Und sie erfahren, dass wir solche Symptome kennen und Therapievorschl&auml;ge machen k&ouml;nnen. Das gibt Sicherheit und eine Perspektive.&raquo;</p> <p>Atypische Antipsychotika sind die Therapie der Wahl. &laquo;Man muss aber ber&uuml;cksichtigen, dass diese Pr&auml;parate bei Demenzbetroffenen das Risiko f&uuml;r Schlaganf&auml;lle, Bewegungsst&ouml;rungen, St&uuml;rze, Diabetes und Herzrhythmusst&ouml;rungen erh&ouml;hen&raquo;, gibt Hasler zu bedenken. &laquo;Hier m&uuml;ssen wir jeweils individuell &uuml;berlegen, ob das Medikament sinnvoll ist.&raquo; Bei der Wahl des Antipsychotikums sei das Nebenwirkungsprofil der Substanz oft entscheidend. So sollte man beispielsweise Medikamente mit ausgepr&auml;gten metabolischen Nebenwirkungen bei Vorliegen eines metabolischen Syndroms vermeiden. Verl&auml;ngert ein Antipsychotikum die QT-Zeit stark, was zu gef&auml;hrlichen Herzrhythmusst&ouml;rungen f&uuml;hren kann, wechselt man auf ein anderes, bei dem diese Nebenwirkung geringer ist.</p> <p>Regelm&auml;ssig solle man pr&uuml;fen, ob das Antipsychotikum noch notwendig sei, etwa indem man die Dosis reduziere. &laquo;Psychotische Symptome wie Wahn und Halluzinationen lassen bei vielen n&auml;mlich mit der Zeit nach&raquo;, erkl&auml;rt Hasler. So bilden sich solche &laquo;positiven&raquo; Symptome eher zur&uuml;ck als negative wie Apathie oder Depressionen.<sup>6</sup> Bei aggressiven Symptomen verschreibt Hasler manchmal Valproins&auml;ure, SSRI oder Benzodiazepine. Hier muss man aber noch sorgf&auml;ltiger &uuml;berlegen, ob das notwendig ist. &laquo;Zum einen haben wir hier nicht so gute Wirksamkeitsbelege wie bei Antipsychotika&raquo;, sagt er, &laquo;zum anderen k&ouml;nnen nat&uuml;rlich auch diese Pr&auml;parate unerw&uuml;nschte Wirkungen ausl&ouml;sen.&raquo; Mindestens ebenso wichtig wie Medikamente seien psychosoziale Interventionen. &laquo;Alles, was den Betroffenen stressen k&ouml;nnte, sollte man vermeiden &ndash; das wirkt erstaunlich gut&raquo;, sagt Hasler. Zum Beispiel den Betroffenen vom Zimmer an einer lauten Strasse in ein ruhigeres bringen oder den Fernseher nicht st&auml;ndig laufen lassen. &laquo;Man muss mit dem Betroffenen schauen, was ihm am besten hilft&raquo;, sagt Hasler. Bei manchen Patienten verringern sich die psychotischen Symptome nicht so sehr durch mehr Ruhe, sondern wenn man sie mehr stimuliert, etwa mit Ergotherapie oder einem Therapiehund. &laquo;So ein vierbeiniger Freund kann manchmal die imagin&auml;ren b&ouml;sen Nachbarn besser vertreiben als Antipsychotika.&raquo;</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Ropacki SA, Jeste DV: Am J Psychiatry 2005; 162: 2022-2030 <strong>2</strong> Hessler JB et al: Epidemiol Psychiatr Sci 2017; 9: 1-10 <strong>3</strong> Paulsen JS et al: Neurology 2000; 54: 1965-1971 <strong>4</strong> Wilkosz PA et al: Am J Geriatr Psychiatry 2006; 14: 352-360 <strong>5</strong> Murray PS et al: Biol Psychiatry 2014; 75: 542-552 <strong>6</strong> Van der Linde RM et al: Br J Psychiatr 2016; 366-377</p> </div> </p>
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