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Antidepressiva als Schmerz- und Schlafmittel
Jatros
30
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08.03.2018
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<p class="article-intro">Schmerz, Depression und Schlafstörungen: Wie Antidepressiva helfen können, diesem Circulus vitiosus zu entkommen, erläutert Prof. Dr. Martin Aigner, Vorstand der klinischen Abteilung für Erwachsenenpsychiatrie, Universitätsklinikum Tulln.</p>
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<p class="article-content"><p>Für die Behandlung von depressiven Störungen steht eine breite Palette an verschiedenen Wirkstoffen zur Verfügung. Einige dieser Substanzen bieten über die antidepressive Wirkung hinaus zusätzliche günstige Effekte, die genutzt werden können. Gerade bei Patienten, die schon viele Medikamente einnehmen, kann mit bestimmten Antidepressiva der Polypharmazie gegengesteuert werden, indem man „mehrere Fliegen mit einer Klappe schlägt“, wie Prof. Aigner erklärt. Wenn etwa zusätzlich zur Depression Schmerzzustände und/oder Schlafstörungen vorliegen, können SNRI, Trizyklika oder SARI hilfreich sein. „SNRI wirken zwar nicht schlafanstoßend, aber langfristig schlafverbessernd“, so Aigner. „Schlafanstoßend wirken Tri- und Tetrazyklika wie Amitriptylin und Clomipramin.“ Bei Patienten, die unter SSRI an serotonergen Nebenwirkungen leiden, setzt Aigner auch Tianeptin als zweite Wahl ein. Der SARI Trazodon hat mit seinen serotonergen Wirkmechanismen ebenfalls schlaffördernde Eigenschaften. SSRI dagegen bieten bei Schmerz und Schlafstörungen keinen Vorteil, ausgenommen bei Fibromyalgie.<br /><br /> Die Wirkung von Antidepressiva bei chronischen Schmerzen, wie z.B. der somatoformen Schmerzstörung, ist schon seit den 1990er-Jahren bekannt. Bei chronischem Kopfschmerz, Polyneuropathie, Fibromyalgie u.a. werden sie als Koanalgetika empfohlen, insbesondere wenn zusätzlich zur chronischen Schmerzerkrankung Depression, Angst oder eine Schlafstörung vorliegen. Evidenz für den Einsatz von Antidepressiva als unterstützende Therapie gibt es auch bei Osteoarthritis- Knieschmerz, funktionellem Brustschmerz, Reizdarm und bei chronischem Rückenschmerz.<br /> Da bei den meisten Antidepressiva keine Toleranzentwicklung besteht, können sie bei chronischen Schmerzen längerfristig und auch unabhängig von einer Depression eingesetzt werden, so Aigner. Die Vorteile sind vielfältig: Sie greifen direkt in das Schmerzsystem ein, indem sie – ähnlich wie Opioide – die absteigenden Bahnen aktivieren. Über die Extinktion neuroplastischer Vorgänge verhindern sie Chronifizierungsprozesse. Weiters haben sie einen günstigen Einfluss auf kognitive Prozesse; etwaige depressive Symptome werden mitbehandelt.<br /> Die Nachteile liegen in der Notwendigkeit der kontinuierlichen Einnahme über einen längeren Zeitraum und in den bekannten Nebenwirkungen wie Obstipation, Sehstörungen, Mundtrockenheit, Müdigkeit und Libidoverlust. Auch fühlen sich manche Patienten stigmatisiert, wenn sie ein Antidepressivum einnehmen sollen. Die Information, dass Antidepressiva eine unabhängige Wirkung auf das Schmerzsystem haben, kann diese Patienten oft überzeugen, so Aigner.<br /> Bei chronischem Schmerz präferiert Aigner SNRI gegenüber Trizyklika wegen der geringeren Nebenwirkungen, insbesondere bei älteren Patienten (über 65 Jahre): „Die anticholinerge Wirkung von Trizyklika kann die Kognition einschränken, die Gefahr für ein Glaukom steigt und es kann zu Harnverhalt kommen.“ Auch auf den Blutdruck und die QTc-Zeit ist zu achten, betont Aigner, insbesondere wenn andere Medikamente dazukommen, welche die QTc-Zeit zusätzlich verlängern, etwa Antibiotika.<br /> Großen Stellenwert haben Antidepressiva in der Behandlung des neuropathischen Schmerzes: Guidelines empfehlen Trizyklika, Pregabalin, Gabapentin, Tramadol, Opioide, Duloxetin und Venlafaxin sowie die topische Behandlung mit Lidocain und Capsaicin. Vorsicht ist geboten bei Kombinationstherapien: So haben etwa Venlafaxin und Tramadol beide eine agonistische Wirkung an µ-Rezeptoren, welche die Gefahr für ein serotonerges Syndrom erhöht. Diese Medikamente sollten daher, wenn sie in Kombination verabreicht werden, nicht zu hoch dosiert und nicht zu lange gegeben werden. Bei µ-Agonisten ist außerdem auf die Toleranzentwicklung zu achten. Daher wird eine maximale Therapiedauer von 8 bis 9 Wochen empfohlen.</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: Interdisziplinäres Herbstsymposium für Psychopharmakologie,
7. Oktober 2017, Wien
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