Breaking News: die Gentherapie bei Otoferlin-Taubheit
Autoren:
Dr. Anselm Gadenstätter
Univ.-Prof. Dr. Christoph Arnoldner, MBA
Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten
Medizinische Universität Wien
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Gentherapie stellt eine neue und innovative Therapieoption bei genetisch bedingter Schwerhörigkeit dar, die eine direkte kausale Behandlung der zugrunde liegenden Pathologie ermöglicht.
Keypoints
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Genetische Testung ist heutzutage ein unabdingbares diagnostisches Tool in der Abklärung einer Hörstörung– insbesondere im Kindesalter.
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Erste klinische Studien zeigen vielversprechende Ergebnisse hinsichtlich Sicherheit und Wirksamkeit der gentherapeutischen Behandlung von OTOF-assoziiertem Hörverlust.
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In Zukunft müssen noch einige Herausforderungen wie die genotypische Vielfalt genetischer Hörstörungen, das optimale Timing der Gentherapie und mögliche Langzeiteffekte überwunden werden, bevor Gentherapie Einzug in den klinischen Alltag von HNO-Ärzt:innen halten kann.
Einleitung
Hörverlust ist die häufigste Sinnesstörung beim Menschen, die bereits im Kindesalter ein häufiges Problem darstellt, da etwa 1 von 1000 Kindern taub geboren wird – bei mehr als 50% findet sich hier eine genetische Ursache der Hörstörung.1,2 Die Cochlea-Implantation, mit welcher das Hören praktisch fast vollständig hergestellt werden kann, ist heutzutage noch die Therapie der Wahl bei hochgradigem sensorineuralem Hörverlust, kann jedoch nicht die Ursache der Erkrankung sowie ihr Fortschreiten verhindern.3 Als brandneue Option ermöglicht die Gentherapie bei genetisch bedingter Schwerhörigkeit eine direkte kausale Behandlung der zugrunde liegenden Pathologie.4
Arten kongenitaler genetischer Hörstörung
Bei ca. jedem dritten Betroffenen mit genetischer Schwerhörigkeit treten zusätzlich noch Symptome in anderen Organsystemen (z.B. Auge) auf, weswegen in diesen Fällen von syndromalem Hörverlust gesprochen wird. In den restlichen Fällen tritt der Hörverlust isoliert auf, weswegen diese Fälle als nichtsyndromal bezeichnet werden. Insgesamt muss weiters auf das jeweilige Vererbungsmuster geachtet werden, wobei die autosomal-rezessive Vererbung mit etwa drei Vierteln aller Fälle am häufigsten zu beobachten ist. In etwa 1 von 5 Fällen findet sich eine autosomal dominante Vererbung; in den übrigen Fällen sind schließlich seltenere Vererbungsmuster wie die X-chromosomale oder die mitochondriale Vererbung ursächlich.5 Die bisher entdeckten Gene, deren Veränderung einen genetischen Hörverlust auslösen kann, codieren meist Proteine, die in der Cochlea für die Zellstruktur/-verbindungen, die synaptische oder neuronale Reizweiterleitung oder für diverse Ionenkanäle verantwortlich sind. Dementsprechend lösen Mutationen in diesen Genen Störungen in der Entwicklung des Innenohrs, der Reizweiterleitung von den Haarzellen zu den Nervenzellen oder dem Erhalt des endocochleären Potenzials aus.6
Genetische Testung
Aufgrund der rasanten Entwicklung und des Gewinns neuer Erkenntnisse hinsichtlich der genetischen Ursachen von Hörverlust hat sich in den letzten Jahren auch die allgemeine Diagnostik von Hörstörungen – insbesondere jener im Kindesalter – stark verändert. Wo früher eine klinische Untersuchung, Audiometrien und gegebenenfalls eine Bildgebung zur Planung einer operativen Versorgung mit dem Cochlea-Implantat ausgereicht haben, hat heute die genetische Testung einen wichtigen Stellenwert in der genauen Diagnosestellung.
Die frühe Sicherung einer genetischen Diagnose ermöglicht jedoch nicht nur, den zu erwartenden klinischen Verlauf oder die Wiederholungswahrscheinlichkeit bei Verwandten der Betroffenen einzuschätzen, sondern auch frühzeitig syndromale Hörstörungen zu erkennen und somit eventuelle Beteiligungen anderer Organsysteme behandeln zu können.
Ein Beispiel stellt hier etwa das Jervell-Lange-Nielsen-Syndrom dar, bei welchem neben dem Hörverlust ein Long-QT-Syndrom auftritt, welches unbehandelt in lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen resultieren kann.7 Letztendlich ist eine genaue Diagnose der kausalen Genmutation auch unabdinglich, um in Zukunft Patient:innen für eine mögliche Gentherapie zu selektionieren, da es sich hierbei um hochindividualisierte Therapieansätze entsprechend der jeweiligen Mutation handelt.
Wirkweise der Gentherapie
Das Ziel der Gentherapie ist es, ein funktionierendes Protein des mutierten Gens in der Zelle herzustellen. Dies kann durch den Ersatz der fehlerhaften Gensequenz oder durch die Korrektur der Mutation erzielt werden. Das wird in der Regel durch Transfer von genetischen Sequenzen oder Tools durch verschiedene Vektoren in die Zielzellen erreicht – im Falle des Ohrs sind das zum Beispiel die cochleären Haarzellen oder die Spiralganglienneuronen.8 Die am häufigsten verwendeten Vektoren sind diverse Viren, insbesondere Adeno-assoziierte Viren (AAV), die im Gegensatz zu nicht viralen Vektoren (wie Lysosome oder künstliche Partikel) deutlich effizienter und langfristiger Zellen transduzieren können.9
Je nach Zielgewebe muss die Applikationsform entsprechend ausgewählt werden, um eine möglichst hohe Vektordichte im Zielgewebe bei sonst niedriger unspezifischer Verteilung in anderen „Off target“-Geweben zu ermöglichen. Zur genetischen Therapie von Innenohrerkrankungen haben sich lokale Applikationsformen, insbesondere die Injektion der Vektoren direkt ins Innenohr, als Applikationsform der Wahl etabliert.10
Hierbei werden Vektoren etwa direkt über das runde Fenster des Innenohrs in die Cochlea injiziert – in der klinischen Praxis wird überdies an einer weiteren Stelle des Innenohrs (z.B. dem ovalen Fenster oder dem lateralen Bogengang) ein Entlastungsloch angelegt, um übermäßigen Druckanstieg zu vermeiden und eine gleichmäßige Distribution der Vektoren entlang der Schnecke zu ermöglichen.11
Klinische Studien zur Gentherapie
Nach jahrzehntelanger präklinischer Forschung sind vor kurzer Zeit die ersten klinischen Studien zur Gentherapie des Hörverlusts beim Menschen angelaufen. Im Fokus dieser Studien steht bislang ausschließlich die Behandlung genetisch bedingter Hörstörungen, die durch Mutationen im Otoferlin(OTOF)-Gen verursacht werden. Das Otoferlin-Protein spielt eine entscheidende Rolle in den inneren Haarzellen des Innenohrs: Es ermöglicht die Ausschüttung des Neurotransmitters Glutamat an der Synapse, wodurch der Reiz an die nachgeschaltete Nervenzelle weitergeleitet wird; fehlt dieses Protein, ist diese synaptische Signalübertragung gestört, was schließlich zu einer sensorineuralen Taubheit führt.
In der Mehrzahl der bisher weltweit registrierten klinischen Studien kommt ein gentherapeutischer Ansatz unter Verwendung von AAV als Vektoren zum Einsatz. Da das Otoferlin-Gen jedoch eine vergleichsweise große Gensequenz aufweist, übersteigt es die Verpackungskapazität eines einzelnen AAV-Vektors.
Aus diesem Grund wird das Gen in zwei separate Teile fragmentiert, die jeweils in getrennte Vektoren eingebracht werden. Nach erfolgreicher Transduktion der Zielzellen gelangen beide Genteile in den Zellkern, wo sie über zelluläre Mechanismen wieder zur vollständigen Genabfolge zusammengesetzt werden, die im Anschluss in mRNA transkribiert und danach in das funktionelle Otoferlin-Protein übersetzt werden kann.
In den bisher publizierten Ergebnissen zweier Forschungsgruppen aus China konnte bereits vier Wochen nach der Applikation des Gentherapie-Vektors eine deutliche Wiederherstellung des Hörvermögens bei einem Großteil der behandelten Patient:innen beobachtet werden. Diese frühen Therapieeffekte umfassten nicht nur signifikante Verbesserungen der Hörschwelle, sondern in weiterer Folge auch eine signifikante Zunahme des Sprachverständnisses sowie der Fähigkeit zur Geräuschlokalisation.
Darüber hinaus lieferte die Studie wichtige Hinweise auf die Sicherheit dieser Therapie, da keine schwerwiegenden Nebenwirkungen oder bleibenden Schädigungen infolge der AAV-basierten Gentherapie auftraten.12–14
Offene Fragen
Die kausale Wiederherstellung des Hörvermögens durch Gentherapie stellt insbesondere im Vergleich zur Cochlea-Implantation einen vielversprechenden alternativen Therapieansatz dar. Neben einer rascheren Hörverbesserung könnte die Gentherapie ein differenzierteres Hörerlebnis ermöglichen – insbesondere in komplexen akustischen Situationen wie bei Umgebungsgeräuschen oder beim Hören von Musik, wo konventionelle Hörhilfen häufig an ihre Grenzen stoßen. Die natürliche Signalverarbeitung über erhaltene Haarzellen könnte dabei eine physiologischere Hörwahrnehmung erlauben als das elektrische Stimulieren des Hörnervs durch ein Implantat.15
Trotz dieser vielversprechenden ersten Ergebnisse bleiben jedoch zahlreiche Fragen offen. Unklar ist bislang, wie nachhaltig die positiven Effekte der Therapie über längere Zeiträume sind und ob zur Aufrechterhaltung des Hörvermögens eine wiederholte Vektorgabe in Zukunft erforderlich sein könnte. Auch mögliche immunologische Reaktionen, wie etwa eine durch die Gentherapie ausgelöste Entzündungsreaktion im Innenohr oder die Bildung neutralisierender Antikörper gegen AAV-Vektoren, sind bislang nicht abschließend geklärt. Außerdem ermöglicht dieser Therapieansatz ausschließlich eine Behandlung von einem OTOF-assoziierten Hörverlust und somit von lediglich 1–5% aller Fälle von nichtsyndromalem Hörverlust. Mit jedoch mehr als 100 weiteren bekannten Genen, die ursächlich für monogenetischen Hörverlust sein können, gibt es eine Unzahl möglicher Targets, die in Zukunft erforscht und erschlossen werden müssen.16
Studienteilnahme geeigneter Patient:innen
In Europa und insbesondere dem deutschsprachigen Raum können auch seit kürzerer Zeit Patient:innen mit Otoferlin-bedingtem genetischem Hörverlust im Rahmen der CHORD(Clinical trial of Hearing Restoration with Otoferlin gene Delivery)-Studie behandelt werden.17 Durch eine enge Kooperation zwischen den Universitätskliniken in Tübingen und der Medizinischen Universität Wien können auch geeignete Patient:innen aus Österreich in diese Studie eingeschlossen werden.
Zusammenfassung
Die rasante Entwicklung im Bereich der Gentherapie hat nun inzwischen erste klinische Erfolge in der Behandlung genetisch bedingter Hörstörungen hervorgebracht. Diese frühen Ergebnisse deuten auf ein erhebliches Potenzial der Gentherapie bei Erkrankungen des Innenohrs hin. Dennoch ist derzeit noch nicht mit einer zeitnahen breiten Anwendung in der klinischen Praxis zu rechnen. Zukünftig wird es erforderlich sein, bestehende Therapieansätze – die sich bislang vor allem auf das Otoferlin-Gen konzentrieren – auf weitere relevante Gene auszuweiten und in präklinischen sowie klinischen Studien systematisch zu untersuchen. Darüber hinaus müssen sowohl die Langzeitwirksamkeit als auch mögliche Spätfolgen gentherapeutischer Maßnahmen sorgfältig evaluiert werden.
Ebenso ist eine Weiterentwicklung der diagnostischen Verfahren notwendig. Insbesondere eine frühzeitige und präzise genetische Diagnostik spielt hier eine zentrale Rolle, um betroffene Patient:innen möglichst zeitnah einer geeigneten Therapie zuführen zu können. In diesem Zusammenhang sollte die genetische Abklärung bei Verdacht auf eine angeborene oder frühkindliche Schwerhörigkeit als Standarddiagnostik etabliert werden – analog zu bewährten Methoden wie der Audiometrie oder bildgebenden Verfahren. Dies spielt hierbei insbesondere nicht nur eine Rolle, um eine gezielte Therapie zu ermöglichen, sondern auch, um eine differenzierte genetische Beratung für betroffene Familien anbieten zu können.
Literatur:
1 World Health Organization: World report on hearing. https://www.who.int/publications/item/9789240020481 ; zuletzt aufgerufen am 29.10.2025 2 Sheffield AM, Smith RJH: The Epidemiology of deafness. Cold Spring Harb Perspect Med 2019; 9(9): a033258 3 Tropitzsch A et al.: Variability in cochlear implantation outcomes in a large german cohort with a genetic etiology of hearing loss. Ear Hear 2023; 44(6): 1464-84 4 Gadenstaetter AJ et al.: Inner Ear Gene Therapy: An overview from bench to bedside. Mol Diagn Ther 2025; 29(2): 161-81 5 Parker M, Bitner-Glindzicz M: Genetic investigations in childhood deafness. Arch Dis Child 2015; 100(3): 271-8 6 Zhang W et al.: Cochlear gene therapy for sensorineural hearing loss: current status and major remaining hurdles for translational success. Front Mol Neurosci 2018; 11: 221 7 Shearer AE: Genetic testing for pediatric sensorineural hearing loss in the era of gene therapy. Curr Opin Otolaryngol Head Neck Surg 2024; 32(5):352-6 8 Jiang L et al.: Advances in gene therapy hold promise for treating hereditary hearing loss. Mol Ther 2023; 31(4): 934-50 9 Valentini C et al.: Inner ear gene delivery: vectors and routes. Hearing Balance Commun. 2020; 18(4): 278-85 10 Lee S et al.: Practical aspects of inner ear gene delivery for research and clinical applications. Hear Res 2020; 394: 107934 11 Andres-Mateos E et al.: Choice of vector and surgical approach enables efficient cochlear gene transfer in nonhuman primate. Nat Commun 2022; 13(1): 1359 12 Qi J et al.: AAV-Mediated gene therapy restores hearing in patients with DFNB9 deafness. Adv Sci (Weinh) 2024; 11(11): e2306788 13 Lv J et al.: AAV1-hOTOF gene therapy for autosomal recessive deafness 9: a single-arm trial. Lancet 2024; 403(10441): 2317-25 14 Wang H et al.: Bilateral gene therapy in children with autosomal recessive deafness 9: single-arm trial results. Nat Med 2024; 30(7): 1898-904 15 Cheng X et al.: Gene Therapy vs cochlear implantation in restoring hearing function and speech perception for individuals with congenital deafness. JAMA Neurol 2025; 82(9): 941-51 16 Staecker H, Arnoldner C: Gene therapy for inner ear disease: the next targets. Curr Opin Otolaryngol Head Neck Surg 2025; 33(5): 318-23 17 Universitätsklinikum Tübingen: Klinische Gentherapiestudie gibt Kindern Hoffnung auf Hören. 2025. https://www.medizin.uni-tuebingen.de/de/das-klinikum/pressemeldungen/meldung/712 ; zuletzt aufgerufen am 29.10.2025
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