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Schwierigkeiten bei der Diagnose der Heparin-induzierten Thrombozytopenie (HIT)
Leading Opinions
Autor:
PD Dr. med. Michael Nagler, PhD, MSc
Fachbereichsleitung Hämostase<br> Universitätsklinik für Hämatologie und Hämatologisches Zentrallabor<br> Inselspital Bern<br> E-Mail: michael.nagler@insel.ch
30
Min. Lesezeit
15.11.2018
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<p class="article-intro">Die Diagnose der HIT stellt in der klinischen Praxis weiterhin ein Problem dar. Im vorliegenden Artikel stellen wir die verfügbaren diagnostischen Tests vor und diskutieren Limitationen und praktische Aspekte. Wir stellen weiterhin die Heparin-induzierte Thrombozytenaktivierung (HIPA) als Goldstandard-Test vor, welcher neu in der Schweiz verfügbar ist, und diskutieren diagnostische Algorithmen.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Die Diagnosestellung der HIT ist weiterhin mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden.</li> <li>Das Inselspital Bern bietet zweimal pro Woche die Durchführung des HIPA-Tests, also des Goldstandards für die Diagnose der HIT, an.</li> <li>Klinische Vorhersagemodelle haben das Potenzial, die Diagnosestellung und das Management von Patienten mit postulierter HIT zu verbessern.</li> </ul> </div> <h2>Klinische Vorhersagemodelle haben das Potenzial, die Diagnosestellung und das Management von Patienten mit postulierter HIT zu verbessern.</h2> <p>In der klinischen Praxis stellt die Heparin- induzierte Thrombozytopenie (HIT) ein anhaltendes diagnostisches Problem dar.<sup>1</sup> HIT ist eine schwerwiegende immunologische Reaktion auf die Gabe von Heparin, insbesondere von unfraktioniertem, intravenös verabreichtem Heparin.<sup>2</sup> Antikörper gegen «Platelet factor 4»(PF4)-Heparin-Komplexe bilden Immunkomplexe, welche in einem Teil der Fälle Thrombozyten aktivieren können. Diese Thrombozytenaktivierung, verbunden mit der daraus resultierenden Thrombinbildung, resultiert bei betroffenen Patienten häufig im Auftreten schwerer venöser und arterieller Thromboembolien, zum Teil mit Todesfolge. HIT entwickelt sich in etwa 1 bis 3 % der mit Heparin behandelten Patienten.<sup>2</sup><br /> Die Einführung direkter oraler Antikoagulanzien hat bis anhin nicht zu einer spürbaren Reduktion der Therapie mit unfraktioniertem Heparin geführt. Im Gegenteil, die Entwicklung neuer Therapien wie zum Beispiel des perkutanen Aortenklappenersatzes (TAVI), der extrakorporalen Membranoxygenierung (ECMO) oder der Kunstherzen (VAD) hat das Spektrum von behandelten Patienten deutlich erweitert. Die Anzahl von Patienten, welche eine Heparin-Exposition erfahren, hat bis anhin daher nicht abgenommen. Die diagnostische Abgrenzung einer HIT von anderen Ursachen einer Thrombozytopenie ist jedoch weiterhin schwierig.<sup>3</sup> Der vorliegende Artikel beschreibt die vorhandenen diagnostischen Instrumente und diskutiert deren Limitationen.</p> <h2>Der 4T Score als klinisches Vorhersagemodell</h2> <p>Zur Abschätzung der klinischen Wahrscheinlichkeit wurden verschiedene Vorhersagemodelle entwickelt; der sogenannte 4T Score ist das am weitesten verbreitete und am besten evaluierte Instrument.<sup>1</sup> Die Vor- und Nachteile im Vergleich mit den anderen diagnostischen Tests sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Der 4T Score kann überall angewendet werden und benötigt keine etablierten Labormethoden. Nachteil ist, dass die Reproduzierbarkeit eingeschränkt ist und verschiedene Benutzer zu unterschiedlichen Resultaten kommen können.<sup>4</sup> Insbesondere unerfahrene Ärzte können hier eine HIT verpassen.<sup>1</sup> Selbst in Institutionen, in denen die Ärzte gut geschult sind und die Anwendung etabliert ist, beträgt die Sensitivität in der klinischen Praxis nur etwa 80 % .<sup>5</sup> Der 4T Score ist in Tabelle 2 dargestellt. Das Problem ist, dass in den heute angewendeten diagnostischen Algorithmen ein negativer 4T Score (≤3 Punkten) zu einem Verwerfen der HITHypothese führt (Abb. 1). Damit würde jeder fünfte Patient mit einer HIT verpasst.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Onko_1806_Weblinks_lo_onko_1806_s20_tab1+2.jpg" alt="" width="2151" height="2377" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Onko_1806_Weblinks_lo_onko_1806_s21_abb1.jpg" alt="" width="1458" height="1861" /></p> <h2>Immunologische Tests</h2> <p>Alle immunologischen Methoden haben gemeinsam, dass sie Antikörper gegen PF4-Heparin-Komplexe nachweisen. Die Sensitivität für die Diagnose einer HIT ist daher hoch bis sehr hoch.<sup>1</sup> Jedoch vermag nur ein Teil dieser Antikörper Thrombozyten zu aktivieren. Damit ist die Spezifität eingeschränkt und ein positiver Test bedeutet nur etwa in der Hälfte der Fälle eine manifeste HIT.<sup>1</sup> Verschiedene Methoden stehen zur Verfügung, um diese Antikörper nachzuweisen, die Eigenschaften sind in Tabelle 1 dargestellt. IgG-spezifische ELISA-Methoden («enzyme-linked immunosorbent assay») gelten als Standard für den Nachweis von PF4-Heparin- Komplexen.<sup>1</sup> Diese Methoden sind jedoch aufwendig, der Einsatz ist auf grössere Laboratorien beschränkt und der Test kann oft nur einmal pro Woche durchgeführt werden. Verschiedene Hersteller bieten entsprechende Kits an, welche jedoch in den diagnostischen Kriterien variieren.<sup>1</sup> Am etabliertesten ist GTI Diagnostics, Waukesha, WI, USA.<br /> Um diese Nachteile zu überwinden, wurden verschiedene «schnelle» Antikörpertests entwickelt.<sup>6</sup> Basierend auf dem Gelkartensystem der Blutgruppenbestimmung existiert ein sogenannter Schnelltest (PaGIA; Diamed, Cressier sur Morat, Schweiz), bei welchem das Vorhandensein von Antikörpern visuell abgelesen wird. Dieser Test ist preiswert und einfach anzuwenden und er kann auch in kleineren Laboratorien vorrätig gehalten werden.<sup>6</sup> Die Sensitivität ist hoch, aber die Interpretation ist untersucherabhängig. Ein weiterer Nachteil ist, dass quantitative Resultate (welche die Konzentration der Antikörper abbilden) nur eingeschränkt verfügbar sind. Nach dem Vorbild der Schwangerschaftstests wurde weiterhin ein «lateral-flow immunoassay» entwickelt, welcher ähnliche Charakteristika hat wie der PaGIA.<br /> Kürzlich wurden zwei weitere Antikörpertests entwickelt, ein Chemilumineszenz- Immunoassay (HemosIL AcuStar HIT-Ab) und ein Latex-Agglutinationstest (HemosIL HIT-Ab). Vorteil beider Tests ist, dass die Durchführung der Analysen automatisierbar ist. AcuStar HIT-Ab ist ein «particle-based immunoassay» basierend auf einer Zweistufen-Chemilumineszenztechnik.<sup>7</sup> Der Test wird auf dem ACLAcuStar- Gerät angewendet, welches vor allem in immunologischen Laboren verbreitet ist. Es werden quantitative Ergebnisse ausgegeben, die Verarbeitungszeit ist kurz und der Test kann 24 Stunden am Tag angeboten werden. Eine Reihe von klinischen Evaluationsstudien wurde durchgeführt, welche eine hohe Sensitivität und eine gute Spezifität zeigten.<sup>7</sup> In der täglichen Praxis fanden sich jedoch gelegentliche Fälle von falsch-negativen Ergebnissen. Der HemosIL-HIT-Ab-Test ist auf den Gerinnungsgeräten von Instrumentation Laboratory einsetzbar, welche ebenso in einigen Laboren angewendet werden (Instrumentation Laboratory, Bedford, MA, USA). Die Charakteristika sind vergleichbar mit dem HemosIL HITAb, jedoch sind die klinischen Daten limitiert.<sup>8</sup></p> <h2>Funktionelle Tests: Heparin-induzierte Thrombozytenaktivierung (HIPA)</h2> <p>Nur eine Subgruppe von PF4/Heparin- Antikörpern vermag Thrombozyten zu aktivieren und eine klinisch manifeste HIT auszulösen.<sup>2</sup> Diese können mit funktionellen Tests nachgewiesen werden, welche daher als Goldstandard für die Diagnose der HIT gelten. Mit einem guten funktionellen Test kann in praktisch allen Fällen eine vermutete HIT bestätigt oder ausgeschlossen werden. Jedoch gibt es grosse Unterschiede zwischen den verschiedenen Tests. Die besten Verfahren arbeiten mit gewaschenen Spenderthrombozyten und vermeiden damit Einflüsse des Spenderplasmas auf die Reaktion. Dazu zählen der «serotonin release assay» (SRA) und die Heparin-induzierte Thrombozytenaktivierung (HIPA). Die diagnostischen Eigenschaften von SRA und HIPA sind deutlich besser als diejenigen anderer verfügbarer funktioneller Tests.<sup>1</sup> Ein wesentlicher Nachteil ist jedoch, dass sie aufgrund des grossen Aufwandes und der notwendigen Expertise nur an wenigen Zentren weltweit verfügbar sind. Zudem werden sie häufig nur einmal pro Woche oder sogar seltener durchgeführt. Der klinisch wichtige, aber heikle Entscheid, ob die Antikoagulation umgestellt werden muss, kann initial daher nicht unter Einbezug der funktionellen Tests erfolgen.<br /> Am Inselspital Bern wurde vor wenigen Monaten HIPA implementiert und die Genauigkeit in einer eigens durchgeführten Studie bestätigt. Damit steht zum ersten Mal ein Goldstandard-Test in der Schweiz zur Verfügung. Ab Oktober 2018 wird der Test zweimal pro Woche angeboten (in Zukunft ist dreimal pro Woche geplant), die Auftragsformulare können unter der folgenden Adresse heruntergeladen werden: http://www.zlm.insel.ch/ de/dienstleistungen/auftraege. Damit besteht für alle Schweizer Spitäler und Laboratorien die Möglichkeit, innerhalb von wenigen Tagen eine HIT definitiv ein- oder auszuschliessen.</p> <h2>Diagnostische Algorithmen</h2> <p>Der aktuell empfohlene diagnostische Algorithmus für die Diagnose der HIT ist in Abbildung 1 dargestellt. Zuerst wird die klinische Wahrscheinlichkeit anhand des 4T Score bestimmt. Wenn die klinische Wahrscheinlichkeit niedrig ist, wird die Möglichkeit einer HIT verworfen und es werden keine weiteren Tests durchgeführt (die Probleme bei diesem Schritt werden unten diskutiert). Bei hohem oder intermediärem Risiko wird ein Antikörpertest durchgeführt. Wenn dieser positiv ist, wird empfohlen, Heparin zu stoppen und einen funktionellen Test (HIPA) durchzuführen. Da jedoch nicht auf das Ergebnis gewartet werden kann, muss bereits jetzt mit einem alternativen Antikoagulanz gestartet werden. Nach Eingang des Ergebnisses von HIPA/SRA kann dieser Entscheid revidiert werden.<br /> Dieses Vorgehen ist jedoch mit mehreren Problemen verbunden. Zum einen ist der klinische 4T Score benutzerabhängig. In der klinischen Praxis beträgt die Sensitivität maximal 80 % .<sup>5</sup> Unter Anwendung des diagnostischen Algorithmus wird also mindestens jeder fünfte Patient mit einer HIT verpasst. Zum anderen wird nicht zwischen verschiedenen Antikörpertests unterschieden, obwohl deren diagnostische Charakteristika unterschiedlich sind.<sup>8</sup> In unserer klinischen Praxis würden wir – abweichend vom Algorithmus – bei hoher klinischer Wahrscheinlichkeit und negativem Immunoessay eine HIT noch nicht definitiv ausschliessen und einen weiteren Immunoassay durchführen bzw. das Ergebnis des HIPA-Tests abwarten. Ein dritter Punkt ist, dass die Konzentration der Antikörper praktisch nicht berücksichtigt wird, obwohl diese einen wichtigen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit einer HIT hat. Ein vierter Punkt ist, dass ein funktioneller Test, insbesondere SRA/HIPA, oft nicht oder nur mit erheblicher Zeitverzögerung verfügbar ist.</p> <h2>Ausblick</h2> <p>Verschiedene Konzepte werden aktuell verfolgt, um die o.g. Probleme zu umgehen und das diagnostische Vorgehen bei Verdacht auf HIT zu verbessern. Neue funktionelle Tests sind in Entwicklung, welche einfacher durchzuführen sind, auch in kleinen Institutionen implementiert werden können und rund um die Uhr einsetzbar wären. Jedoch zeigten die bisher durchgeführten klinischen Evaluationen weniger gute Ergebnisse im Vergleich mit SRA oder HIPA. Diagnostische Instrumente wurden entwickelt, welche mittels des Bayes-Theorem die klinische Wahrscheinlichkeit mit dem quantitativen Ergebnis kombinieren. Die Vorhersagekraft auch dieser Instrumente war bis anhin jedoch limitiert.<sup>9</sup> Eine weitere erfolgversprechende Option sind Vorhersagemodelle («clinical prediction models »), welche eine Reihe von klinischen und labormässigen Variablen kombinieren. Derartige Algorithmen sind gut bekannt zum Beispiel in der Vorhersage von zerebralen ischämischen Ereignissen beim Vorhofflimmern (CHA<sub>2</sub>DS<sub>2</sub>-VASc Score). Im Inselspital Bern führen wir derzeit eine grosse, internationale Kohortenstudie zur Entwicklung eines Vorhersagemodells zur Diagnose der HIT durch, an der sich interessierte Institutionen gerne beteiligen können (https://www. isth.org/page/toradihit).</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Nagler M, Bakchoul T: Clinical and laboratory tests for the diagnosis of heparin-induced thrombocytopenia. Thromb Haemost 2016; 116(5): 823-34 <strong>2</strong> Greinacher A: Clinical practice. Heparin-induced thrombocytopenia. N Engl J Med 2015; 373(3): 252-61 <strong>3</strong> Alberio L: My patient is thrombocytopenic! Is (s)he? Why? And what shall I do? A practical approach to thrombocytopenia. Hamostaseologie 2013; 33(2): 83-94 <strong>4</strong> Nagler M et al.: P rospective evaluation of the interobserver reliability of the 4Ts score in patients with suspected heparin-induced thrombocytopenia. J Thromb Haemost 2012; 10(1): 151-2 <strong>5</strong> Linkins LA et al.: Combination of 4Ts score and PF4/H-PaGIA for diagnosis and management of heparin-induced thrombocytopenia: prospective cohort study. Blood 2015; 126(5): 597- 603 <strong>6</strong> Bankova A et al.: Rapid immunoassays for diagnosis of heparin-induced thrombocytopenia: comparison of diagnostic accuracy, reproducibility, and costs in clinical practice. PLoS One 2017; 12(6): e0178289 <strong>7</strong> Nagler M, Cuker A: Profile of Instrumentation Laboratory's HemosIL(R) AcuStar HIT-Ab(PF4-H) assay for diagnosis of heparin-induced thrombocytopenia. Expert Rev Mol Diagn 2017; 17(5): 419-26 <strong>8</strong> Nagler M et al.: Diagnostic value of immunoassays for heparin-induced thrombocytopenia: a systematic review and meta-analysis. Blood 2016; 127(5): 546- 57 <strong>9</strong> Raschke RA et al.: Clinical effectiveness of a Bayesian algorithm for the diagnosis and management of heparin- induced thrombocytopenia. J Thromb Haemost 2017; 15(8): 1640-5</p>
</div>
</p>
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