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Neurotoxizität bei Chemotherapie
Jatros
Autor:
Prim. Ass.-Prof. PD Dr. Stefan Oberndorfer
Klinische Abteilung für Neurologie<br/> Universitätsklinikum St. Pölten<br/> KLI – Klin. Neurologie und Neuropsychologie<br/> E-Mail: stefan.oberndorfer@stpoelten.lknoe.at
30
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24.09.2015
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<p class="article-intro">Die Neurotoxizität bei onkologischen Erkrankungen hat viele Gesichter. Als Ursache kommen direkte Schädigungen des Nervensystems durch den Tumor selbst oder durch seine Metastasen infrage. Ein weiterer in der Praxis relevanter Punkt sind die vor allem mit Chemo- oder Strahlentherapie assoziierten Neurotoxizitäten. Darüber hinaus können auch metabolisch-endokrinologische, aber auch infektiologische Komplikationen zu neurologischen Schädigungen führen. Eher selten kommt es bei onkologischen Erkrankungen zu paraneoplastischen, neuroimmunologischen Phänomenen.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>Die Chemotherapie-induzierte Toxizität des zentralen Nervensystems und die häufiger auftretende Chemotherapie-induzierte Toxizität des peripheren Nervensystems sind klinisch relevante Nebenwirkungen und in manchen Fällen sogar der dosislimitierende Faktor.</li> <li>Die meisten durch Chemotherapie auftretenden Neurotoxizitäten sind bei rechtzeitigem Absetzen der Therapie in der Regel reversibel.</li> <li>Für das rechtzeitige Erkennen einer Chemotherapie-bedingten Neurotoxizität ist vor allem im Bereich des peripheren Nervensystems der zeitliche Zusammenhang des Auftretens der typischen Beschwerden mit der kumulativen Dosis der verabreichten Substanz relevant.</li> <li>Substanzkombinationen können zu einer exponentiellen Zunahme der Neurotoxizi</li> </ul> </div> <p>Neben den häufig bei der Chemotherapie auftretenden Toxizitäten, wie Hämatotoxizität, Alopezie, Kardiotoxizität, Mukositis etc., stellt die Neurotoxizität eine wichtige und in manchen Fällen dosislimitierende Toxizität in der onkologischen Therapie dar. Diese potenziellen Chemotherapie-induzierten Neurotoxizitäten im Bereich des zentralen und peripheren Nervensystems (ZNS bzw. PNS) können zu schwerwiegenden neurologischen Funktionseinbußen sowie zu einer deutlichen Beeinträchtigung der Lebensqualität führen.</p> <h2>Neurotoxizitäten des Zentralnervensystems</h2> <p>ZNS-Toxizitäten treten bei der systemischen Verabreichung von Chemotherapie insgesamt aufgrund der bestehenden Blut-Hirn-Schranke zum Glück sehr selten auf. Der in der Literatur seit längerer Zeit beschriebene Begriff „Chemobrain“ ist eine aus neurologischer Sicht schwer zu definierende Begleiterscheinung bei Patienten unter laufender Chemotherapie. Unter dem etwas unscharfen Begriff „Chemobrain“ werden verschiedenste kognitive Dysfunktionen unter Chemotherapien beschrieben. Die pathophysiologische Ursache dieses Phänomens ist weitgehend ungeklärt. Die Hypothesen reichen von passageren Stoffwechselstörungen auf neuronaler Ebene bis hin zu Veränderungen epigenetischer Faktoren durch die verabreichten chemotherapeutischen Substanzen. Als Risikofaktoren für das Auftreten von ZNS-Toxizität gelten Chemotherapie im Hochdosisbereich, Alter <5 Jahren bzw. >60 Jahre sowie vorbestehende zerebrale Erkrankungen, wie z.B. eine vaskuläre Enzephalopathie. <br /> Bei einer Hochdosis-Methotrexat-Therapie wird einerseits eine akute Enzephalopathie mit Auftreten 24 bis 48 Stunden nach der Infusion beschrieben. Das klinische Spektrum reicht von epileptischen Anfällen, deliranten Zuständen bis zu multifokal-neurologischen Ausfällen. Dieses akute Syndrom ist in der Regel reversibel.<br /> Gefürchteter sind die Spättoxizitäten im Hochdosisbereich unter Methotrexat, vor allem in Kombination mit intra- thekaler Verabreichung bzw. mit Strahlentherapie. Die Spät-ZNS-Toxizität ist nicht reversibel und mündet oft in einem ausgeprägten demenziellen Zustandsbild.<br /> Die gelegentliche intrathekale Verabreichung von Chemotherapien, wie z.B. von AraC, Etoposid oder Methotrexat, kann zu lokalen ZNS-Toxizitäten führen. In diesem Zusammenhang zu nennen sind Myelopathien, Leukenzephalopathien, Radikulitis, Arachnoiditis etc. Eine akzidentielle intrathekale Verabreichung z.B. von Vincristin, wie leider des Öfteren schon vorgekommen, endet in der Regel tödlich.<br /> Einige alkylierende Substanzen, wie ACNU, BCNU, CCNU oder Ifosfamid, weisen eine geringe Blut-Hirn-Schrankengängigkeit auf. Die genauen bzw. die einzelnen ZNS-Toxizitäten dieser Substanzen in Abhängigkeit von der Dosis sind jedoch nicht bekannt. Ein wesentlicher Faktor scheint möglicherweise die konkomitante Verabreichung mit Strahlentherapie zu sein. Bei der Gabe von Ifosfamid im Hochdosisbereich sind in ca. 5 % der Fälle akute – in der Regel reversible – Enzephalopathien beschrieben. Einen Hochrisikobereich bezüglich der ZNS-Toxizität stellt die Therapie des primären ZNS-Lymphoms dar. Hier zeigt sich eine eher geringe Toxizität bei einzelnen Therapieansätzen, z.B. bei Methotrexat, entweder intra­thekal oder systemisch verabreicht, allerdings eine exponentiell erhöhte Toxizität bei Kombination der einzelnen Methoden, vor allem in Kombination mit Strahlentherapie.<br /> Über die zentrale Neurotoxizität von „zielgerichteten Therapien“ ist bislang noch wenig bekannt. Beschrieben sind hier einerseits zerebrovaskuläre Komplikationen von antiangiogenen Therapien, wie z.B. mit dem monoklonalen Antikörper Bevacizumab oder dem Tyrosinkinaseinhibitor Sunitinib. Unter diesen Therapien kann das Risiko für ischämische, aber auch hämorrhagische Insulte erhöht sein. Das posteriore reversible Enzephalopathie-Syndrom (PRES) – eine neurologische Komplikation mit Bewusstseinstrübung, epileptischen Anfällen und fokal-neurologischen Ausfällen – kann ebenfalls akut nach Verabreichung von Bevacizumab oder Sunitinib auftreten. Das PRES ist bei entsprechender symptomatischer Behandlung reversibel. In diesem Kontext zu erwähnen ist auch die potenzielle Gefahr einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML) unter Rituximab-Therapie – eine seltenere, aber häufig progrediente und tödlich verlaufende Komplikation.</p> <h2>Komplikationen im Bereich des peripheren Nervensystems</h2> <p>Die Chemotherapie-induzierten Komplikationen des peripheren Nervensystems werden im Allgemeinen als Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie (CIPNP) zusammengefasst. Das PNS ist im Vergleich zum ZNS durch die fehlende Blut-Hirn-Schranke toxischen Substanzen wie z.B. Chemotherapeutika stärker ausgesetzt und deshalb ist die Prävalenz der CIPNP bei Weitem höher. Ca. 5 % aller Patienten entwickeln eine Chemotherapie-induzierte Neuropathie unter einer Monotherapie; bei Polychemotherapien steigt die Wahrscheinlichkeit rapide auf bis zu 40 % an.<br /> Zu den Substanzen, unter denen ca. 30 % der Patienten eine Chemotherapie-induzierte Neuropathie entwickeln, zählen Bortezomib, Docetaxel, Oxaliplatin, Paclitaxel und Thalidomid. <br /> Substanzen, die in ca. 10 bis 30 % der Fälle Chemotherapie-induzierte Neuropathien auslösen, sind z.B. Alemtuzumab, Altretamin, Capecitabin, Carboplatin, Cisplatin, Dacarbacin, Vincristin, Vinblastin.<br /> Im Wesentlichen führen die chemotherapeutischen Substanzen zu einer axonalen und seltener zu einer demyelinisierenden Neuropathie. Die Toxizitäten haben in der Regel einen kumulativen Zusammenhang und treten zumeist im Verlauf der Therapie auf. Akuttoxizitäten sind selten, jedoch in der Regel auch weitgehend reversibel. Zu beachten ist, dass bei Patienten mit präexistenten Polyneuropathien (hereditären oder diabetischen Neuropathien) eventuell eine verstärkte Neurotoxizität unter Chemotherapie im Bereich des PNS auftreten kann. <br /> Prinzipiell ist die Neurotoxizität im Bereich des PNS distal-symmetrisch lokalisiert, mit Beginn im Bereich der Zehen und Fußsohlen. Im weiteren Verlauf können sich die Beschwerden socken- und strumpfförmig ausbreiten. Bei Fortschreiten der Symptome können in weiterer Folge auch Finger bzw. Hände handschuhförmig ebenfalls symmetrisch betroffen sein. In der Regel kommt es zu sensorischen Defiziten wie Parästhesien, Hypästhesien und Hypalgesien, seltener sind schmerzhafte Missempfindungen. Motorische oder autonome Ausfälle sind bei Chemotherapie-induzierten Neuropathien eine Seltenheit. In der klinischen Diagnose stellt der zeitliche Zusammenhang der auftretenden Beschwerden mit der verabreichten Chemotherapie in Zusammenschau mit der kumulativen Dosis die wesentliche Säule dar. Eine klinisch-neurologische Untersuchung, etwaige Skalen und Scores, wie der Total Neuropathy Score (TNS) oder die CTC(Common Toxicity Criteria)-Skala des NCI (National Cancer Institute), sowie in ausgewählten Fällen eine elektrophysiologische Untersuchung können in der Diagnostik hilfreich sein.</p> <h2>Platine</h2> <p><strong>1. Cisplatin</strong><br /> Bei Cisplatin ist eine periphere Neurotoxizität bei einer kumulativen Dosis von 300 bis 400mg/m² zu erwarten. In der Regel treten die ersten neuropathischen Beschwerden nach drei bis sechs Monaten Therapie auf. Vorsicht ist bei Kombinationstherapien angebracht. Die klinische Ausprägung zeigt vorwiegend eine sensible Neuropathie mit Ataxie und das sogenannte Coasting-Phänomen. Das Coasting-Phänomen beschreibt das Andauern bzw. auch die Zunahme der neuropathischen Beschwerden bis zu einigen Wochen über das Therapieende hinaus. <br /> <br /> <strong>2. Carboplatin</strong><br /> Carboplatin ist insgesamt weniger neurotoxisch als Cisplatin, verursacht jedoch ähnliche Beschwerden und eine erhöhte Neurotoxizität ist vor allem in Kombination mit Paclitaxel beschrieben.<br /> <br /> <strong>3. Oxaliplatin</strong><br /> Oxaliplatin hat neben seiner kumulativen Neurotoxizität auch eine Akuttoxizität. Diese besteht einerseits aus ca. 30 bis 60 Minuten nach Infusion auftretenden Muskelkrämpfen und Faszikulationen und andererseits aus einige Stunden bis Tage andauernden Kälte-induzierten Schluckbeschwerden bzw. oropharyngealen Parästhesien und Dysästhesien, die sich auch gelegentlich auf alle Extremitäten ausbreiten können. Diese Form der Akuttoxizität ist reversibel.<br /> Nach einer eigenen Untersuchung an einer Kohorte mit gastrointestinalen Tumoren unter Oxaliplatin-Therapie entwickelten bis zum 6. Zyklus insgesamt 88 % eine Chemotherapie-induzierte Neuropathie und 60 % der Patienten beschrieben eine akute Neurotoxizität.</p> <h2>Alkaloide – Vincristin</h2> <p>Im Gegensatz zu Platinen können sich bei Verabreichung von Vincristin schon innerhalb der ersten drei Monate neben hauptsächlich sensorischen auch motorische Neuropathien entwickeln. Zusätzlich charakteristisch für Vincristin sind Muskelkrämpfe. Selten kommt es unter Vincristin zu autonomen Störungen mit Darmfunktionsstörungen bis zum paralytischen Ileus. Ebenfalls selten sind Hirnnervenbeteiligungen (Nervus abducens und Nervus facialis) beschrieben.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2015_Jatros_Onko_1504_Weblinks_Seite167.jpg" alt="" width="913" height="357" /></p> <h2>Taxane</h2> <p><strong>Paclitaxel</strong><br /> Eine eindeutige dosisabhängige Neurotoxizität ist für Paclitaxel nicht klar belegt. Die ersten Symptome einer peripheren neurologischen Toxizität treten in der Regel erst zwei bis drei Tage nach der Therapie auf. Die Symptome umfassen in erster Linie Myalgien (bis 60 % ) sowie sensorische Symptome im distal-symmetrischen Bereich der Hände und der Füße. Auch bei Paclitaxel sind Darmfunktionsstörungen beschrieben. Die sensomotorischen Symptome bzw. Myalgien sind nach Absetzen der Therapie in der Regel reversibel.<br /> <br /> <strong>Docetaxel</strong><br /> Die Neurotoxizität von Docetaxel ist ähnlich wie bei Paclitaxel, insgesamt aber weniger ausgeprägt.<br /> <br /> <strong>Thalidomid</strong><br /> Die Thalidomid-induzierte Neuropathie präsentiert sich in Form einer sensorischen, axonalen, selten auch motorischen Neuropathie. Diese betrifft nach nur 6-monatiger Therapiedauer bereits ca. 70 % der Patienten. Aus diesem Grund wird eine Therapie mit Thalidomid nicht für länger als 6 Monate empfohlen.</p> <h2>Proteasominhibitoren</h2> <p><strong>Bortezomib</strong><br /> Die Inzidenz der Chemotherapie-induzierten Polyneuropathie unter Bortezomib liegt bei ca. 30 % und in ca. 12 % der Fälle ist die Chemotherapie-induzierte Neuropathie der dosislimitierende Faktor. Nach Absetzen von Bortezomib kommt es in der Regel zu einer klinischen Besserung und in den meisten Fällen zu einer Remission der Neuropathie. Die vorwiegend sensorische Neuropathie bei Bortezomib ist häufig von neuropathischen Schmerzen begleitet und nicht selten der dosislimitierende Faktor der Therapie.<br /> <br /> <strong>Carfilzomib</strong><br /> Carfilzomib kann ebenfalls eine schmerzhafte sensorische Neuropathie verursachen. Diese tritt jedoch insgesamt weniger häufig auf als unter Bortezomib.<br /> <br /> In Tab. 1 ist die zu erwartende kumulative Dosis bis zum Auftreten einer Chemotherapie-induzierten Polyneuropathie (CIPNP) bei einzelnen chemotherapeutischen Substanzen angeführt.</p> <h2>Kombination von Chemotherapien mit zielgerichteten Therapien</h2> <p>Bei Kombination von Bevacizumab und Paclitaxel ist eine vermehrte Toxizität im Sinne einer CIPNP beschrieben. Ebenso trifft dies auf die Kombination von Trastuzumab und Paclitaxel zu. Bei Trastuzumab mit Paclitaxel ist die CIPNP der wichtigste dosislimitierende Faktor.</p> <h2>Symptomatische Therapie der Chemotherapie-induzierten Neuropathie</h2> <p>Die Therapie der Wahl bei CIPNP ist das Absetzen der Chemotherapie. Eine symptomatische Therapie, vor allem bei schmerzhaften Neuropathien, kann mit Antikonvulsiva, wie z.B. Gabapentin, Pregabalin, Carbamazepin etc., versucht werden. Bei Taxan-induzierten Neuropathien gibt es in der Literatur Hinweise auf eine mögliche Verbesserung der neuropathischen Beschwerden durch Acetyl-L-Carnitin. Die Akuttoxizität, ausgelöst durch Oxaliplatin, kann mit einer prophylaktischen Verabreichung von Kalzium- oder Magnesiumsalzen abgemildert werden.</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: ÖGHO-Kongress 2015,
Vortrag „Neurotoxizität bei Chemotherapie“
am 23. April 2014 im Rahmen
der Session „ZNS-Malignome“,
23.–25. April 2015, Salzburg
</p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p>Literatur beim Verfasser</p>
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