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Mangelernährung und Sturzrisiko erkennen und damit Komplikationen vermeiden
Leading Opinions
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20.04.2017
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<p class="article-intro">Mangelernährung und Stürze gehen bei alten Menschen mit diversen Komplikationen einher. Wie wichtig es ist, Mangelernährung und Sturzrisiko bei älteren Menschen zu erkennen und wie man das macht, erklärte Dr. med. Natascha Katja Deloséa, Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin FMH, spez. Geriatrie, mit praktischen Beispielen an einem Workshop.</p>
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<p class="article-content"><p>Immer wieder treffe sie im ambulanten Bereich auf betagte, polymorbide Patienten mit Mangelernährung, berichtete Deloséa, seit Kurzem Hausärztin in Riggisberg. Im Alltag und bei den vielen Diagnosen, auf die eingegangen werden muss, ist es schwierig, auch auf dieses Problem zu achten und die richtigen Ernährungsempfehlungen zu geben. «Mangelernährung ist Realität bei geriatrischen Patienten, und sie ist häufig», sagte Deloséa. In Spital und Rehaklinik sind bis zu 50 % der geriatrischen Patienten mangelernährt, in Pflegeheimen bis zu 60 % und bei den zu Hause lebenden je nach Studie 15–60 % .</p> <h2>In frigo veritas</h2> <p>Junge Menschen sollten täglich 0,8g Eiweiss pro Kilogramm Körpergewicht zu sich nehmen. Für die über 65-Jährigen empfehlen die Europäische Geriatrische Gesellschaft und die Schweizerische Gesellschaft für Ernährungsmedizin deutlich mehr: 1,2–1,5g/kg KG/Tag. «Ältere Menschen haben einen höheren Proteinbedarf, um dem Muskelabbau entgegenzuwirken», erklärte Deloséa. «Insbesondere wenn der Betroffene unter Krankheiten leidet, die katabol wirken.» Bei diesen Patienten kann es rasch zu einer Sarkopenie kommen, die zu Gebrechlichkeit führt. Hinzu kommt, dass alte Menschen generell weniger Appetit haben und häufig unter Komorbiditäten wie Depressionen, Kauproblemen oder Polypharmazie leiden, die dazu führen, dass sie weniger essen. Mangelernährung lässt aber nicht nur die Muskelmasse schwinden, sie erhöht auch das Risiko für Infekte, Wundheilungsstörungen und Dekubitus. Die Betroffenen werden zunehmend gebrechlicher, sind immer weniger mobil und werden so immer abhängiger von Dritten. Eine Genfer Studie zeigte, dass Senioren (Durchschnittsalter 81 Jahre), die weniger als drei unterschiedliche Nahrungsmittel im Kühlschrank haben, im Vergleich mit Senioren mit einem gut gefüllten Kühlschrank ein deutlich höheres Risiko haben, in den nächsten vier Wochen hospitalisiert zu werden (31 % vs. 8 % ; p=0,042), und dass die Zeit bis zur nächsten Hospitalisation signifikant kürzer ist (31 vs. 100 Tage; p=0,002).<sup>1</sup> «In frigo veritas», kommentierte Deloséa. «Wir Ärzte denken bei unseren Patienten an alle möglichen Krankheiten, aber leider viel zu selten an die Ernährung. Während der Ausbildung wird uns leider auch nicht unbedingt erklärt, wie wichtig das wäre.» Die Angehörigen interessieren sich aber sehr für die Ernährung, und auch die Krankenkassen haben erkannt, dass mangelernährte Patienten mehr Kosten verursachen. Auch für Spitäler ist es interessant, solche Patienten zu erkennen. Kodiert der Arzt im Spital nämlich die Diagnose Mangelernährung und wird diese behandelt, erhält das Spital mehr Geld.<br /> Die Diagnose Mangelernährung kann mit einfachen Fragen und Untersuchungen in der Praxis gestellt werden, z.B. mit dem Mini-Nutritional-Assessment-Bogen (MNA), den es in vielen verschiedenen Sprachen und auch als App für das iPhone gibt.<sup>2</sup> Erreicht ein Patient im MNA weniger als 11 Punkte, hat er ein erhöhtes Risiko für Mangelernährung; erreicht er weniger als 7 Punkte, ist er bereits mangelernährt. Je nach Ausprägung der Mangelernährung wird sie im ICD-Code unterschiedlich verschlüsselt (Tab. 1). «Für die Krankenkassen ist es wichtig, dass man den Ernährungszustand genau dokumentiert, also etwa Gewicht bei Erstdiagnose, Essmengen, Gewichtsverlauf, damit die Kasse die Codierungen nachvollziehen kann.» Seit Januar 2013 kann man bei den Kassen im ambulanten Bereich eine Kostengutsprache für den Einsatz von oralen Nahrungssupplementen beantragen. Die Formulare kann man unter www.geskes. ch (Homecare > Kostengutsprache-Gesuche) herunterladen.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Innere_1702_Weblinks_s8_tab1.jpg" alt="" width="1445" height="396" /></p> <h2>Ein Mythos: Sturz wegen Synkope</h2> <p>Ein weiteres Problem in der täglichen Praxis mit geriatrischen Patienten ist das Sturzrisiko. 80 000 Menschen über 65 Jahre stürzen pro Jahr in der Schweiz. 1300 Menschen sterben an den Folgen eines Sturzes, 90 % von ihnen sind älter als 65. Die Versorgung dieser Menschen verursacht pro Jahr Kosten von 1,4 Milliarden Franken.<sup>3</sup> «Oft vermutet man, der Patient sei wegen einer Synkope gestürzt, und ordnet alle möglichen Untersuchungen an», so Deloséa. Synkopen sind aber selten, viel häufiger stürzen Senioren wegen umgebungsassoziierter Faktoren oder wegen Gang- und Gleichgewichtsstörungen (Tab. 2). Diverse intrinsische und extrinsische Faktoren führen dazu, dass ältere Menschen eher stürzen (Tab. 3). Muskelschwäche – und hier sieht man, wie wichtig eine adäquate Ernährung ist – erhöht das Sturzrisiko um das 4,4-Fache, eine Gang- resp. Gleichgewichtsstörung um das 3-Fache. «Holt man einen Patienten aus dem Wartezimmer, kann man schon eine erste Ganganalyse machen», sagt Deloséa, «und zwar indem man hinter ihm zum Sprechzimmer geht.» Auch die Gehgeschwindigkeit hat einen Einfluss auf das Sturzrisiko: Beträgt sie weniger als 24m/ min ist das Sturzrisiko signifikant erhöht. Die Gehgeschwindigkeit kann man mit dem «Timed up & go»-Test prüfen: Der Patient sitzt auf einem Stuhl mit Armlehne und wird aufgefordert, aufzustehen, drei Meter hin- und zurückzugehen und sich wieder hinzusetzen. Er darf dabei sein gewohntes Hilfsmittel verwenden, etwa einen Rollator, und seine gewohnten Schuhe. Braucht der Patient dafür mehr als 14 Sekunden, hat er ein erhöhtes Sturzrisiko. Für eine strukturierte Ganganalyse wird der Patient während des «Timed up & go»-Tests von vorn und von der Seite gefilmt. Es werden drei Durchgänge gemacht, einmal mit und einmal ohne Hilfsmittel, und beim dritten Durchgang soll der Patient beim Gehen die Monate rückwärts aufsagen.<br /> «Die Gangsicherheit lässt sich mit dem Training von Gleichgewicht und Dual- Task-Situationen verbessern», so Deloséa, «das habe ich in der ambulanten geriatrischen Rehabilitation, wo die Patienten über 3 bis 4 Monate zweimal pro Woche trainieren, immer wieder beobachten können. »</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Innere_1702_Weblinks_s8_tab2.jpg" alt="" width="1445" height="528" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Innere_1702_Weblinks_s8_tab3.jpg" alt="" width="1444" height="1150" /></p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: SwissFamilyDocs Conference 2016, Montreux
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<p><strong>1</strong> Boumendjel N et al: Refrigerator content and hospital admission in old people. Lancet 2000; 356: 563 <strong>2</strong> www. mna-elderly.com <strong>3</strong> www.bfu.ch <strong>4</strong> Rubenstein LZ: Falls in older people: epidemiology, risk factors and strategies for prevention. Age Ageing 2006; 35 (Suppl 2): ii37-41</p>
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