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Less is more

Wandel im Denken: smarter medicine – Floskel oder sinnvolle Notwendigkeit?

Das Bewusstsein, dass viel Medizin nicht immer auch zu einer besseren Gesundheit führt, sondern – im Gegenteil – dem Patienten auch schaden kann, hat durch die «Smarter medicine»-Bewegung zugenommen. Am KHM-Kongress nannte Prof. Dr. med. Thomas Rosemann vom Institut für Hausarztmedizin an der Universität Zürich typische Beispiele für eine Über- oder Fehlversorgung in der Medizin und eine der wichtigsten Ursachen dafür.

In der Bevölkerung ist der Glaube, viel Medizin sei primär etwas Gutes, weit verbreitet. Dem widersprach Prof. Dr. med. Thomas Rosemann, Leiter des Instituts für Hausarztmedizin an der Universität Zürich: «Manchmal ist es smarter, weniger Medizin einzusetzen.»

Ein Beispiel für die medizinische Überversorgung ist die Zahl der Herzkatheteruntersuchungen in der Schweiz. «Es ist unbestritten, dass der Herzkatheter eine riesige Innovation darstellt, die insbesondere in Verbindung mit einer Stentimplantation sehr vielen Menschen das Leben gerettet hat», betonte der Referent. Um herauszufinden, in welchen Fällen eine Herzkatheteruntersuchung indiziert ist, gibt es klare Leitlinien.1 Diese empfehlen zunächst eine Basisdiagnostik und anschliessend die Bestimmung der Vortestwahrscheinlichkeit. Die Indikation für einen Herzkatheter ist bei einer Vortestwahrscheinlichkeit von mehr als 85% gegeben.

In der Praxis ist das Vorgehen jedoch oft ein anderes, wie eine retrospektive Untersuchung bei Versicherten der Krankenversicherung Helsana zeigte. Bei 37,5% der 2714 Versicherten mit einer elektiven Herzkatheteruntersuchung war zuvor keiner der nichtinvasiven und risikoärmeren Vortests durchgeführt worden, die Informationen über die Wahrscheinlichkeit einer koronaren Ischämie hätten liefern können, wie zum Beispiel ein Belastungs-EKG, eine Echokardiografie oder ein Koronar-CT.2 Der Eindruck, dass in der Schweiz zu viele unnötige Herzkatheteruntersuchungen durchgeführt werden, wird durch eine Analyse in Schweizer Spitälern verstärkt, die bei bis zu 60% der Patienten keinen interventionspflichtigen Befund ergab. «Dieser Anteil müsste bei korrekter Bestimmung der Vortestwahrscheinlichkeit viel kleiner sein», sagte Rosemann. Ein weiteres Indiz für die Fehlversorgung ist die hohe Variation an Herzkatheteruntersuchungen. «Im Normalfall würde man annehmen, die Häufigkeit eines Eingriffs unterliege innerhalb eines Landes oder in einer Population keinen grossen Schwankungen.» In der Schweiz ist die Variation jedoch hoch und korreliert mit der Anzahl von Kardiologen in einer Region. Anders ausgedrückt: Es existiert eine angebotsinduzierte Nachfrage.

Fehlversorgung in der Orthopädie häufig

Eine der höchsten Raten an nichtindizierten Eingriffen wird im Fachgebiet der Orthopädie verzeichnet. Der Hintergrund hierfür ist vermutlich die früher verbreitete mechanistische Vorstellung vom Bewegungsapparat. Damit verbunden ist nämlich der Glaube, dass die Korrektur von mittels Bildgebung nachgewiesenen Veränderungen auch zu einer Beseitigung allfälliger Symptome führt. Dass dies oft nicht der Fall ist, zeigt sich u.a. am Beispiel des arthroskopischen «Knorpelshaving» bei Kniearthrose. Im Jahr 2002 erschien im New England Journal of Medicine eine wegweisende prospektive Studie. Diese bestand neben den beiden Vergleichsarmen mit arthroskopischer Knorpelentfernung und arthroskopischer Lavage erstmals auch aus einem Kontrollarm mit Placebochirurgie.3 Nach einer zweijährigen Beobachtungszeit ergaben sich in Bezug auf Schmerzen und Funktion keine Unterschiede zwischen den beiden verglichenen Interventionen und der Placebochirurgie. Das Resultat führte dazu, dass die therapeutische Arthroskopie in Deutschland aus dem Katalog gestrichen und nicht mehr von den Krankenversicherern rückvergütet wurde. Von dieser Regelung ausgenommen sind Privatpatienten.

Obsolet geworden ist auch die arthroskopische Behandlung bei degenerativem Meniskusschaden. Eine im Jahr 2017 erschienene Studie, die den Nutzen und die Risiken der arthroskopischen Meniskusentfernung mit einer konservativen Therapie verglich, zeigte im Langzeitverlauf keinen Unterschied bezüglich Schmerzen und Funktion.4 Im Unterschied zur arthroskopischen Intervention waren unter der konservativen Behandlung keine Komplikationen wie venöse Thromboembolien oder Infektionen aufgetreten. In Deutschland wurde die Behandlung in der Zwischenzeit aus dem Leistungskatalog gestrichen. In der Schweiz wird die arthroskopische Behandlung bei degenerativen Meniskusschäden auch weiterhin durchgeführt, wie eine Untersuchung der Helsana Versicherung zeigte. Im Übrigen konnte auch bei der Behandlung von traumatischen Meniskusverletzungen nach 12 Monaten in Bezug auf Schmerz und Funktion kein Unterschied zwischen einer arthroskopischen Behandlung und Physiotherapie nachgewiesen werden.5

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Abb. 1: Bei vielen Knieproblemen führt die konservative Behandlung zu einem vergleichbaren Resultat wie die chirurgische Intervention

Dünn ist gemäss dem Referenten zudem die Evidenz für eine Kreuzbandplastik. Ein systematischer Review inkl. Metaanalyse zeigte, dass es in Bezug auf die (selbst angegebene) Kniefunktion keinen Unterschied machte, ob die primäre Versorgung eine operative oder konservative war.6

Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine multizentrische, randomisierte, placebokontrollierte Parallelgruppenstudie bei Patienten mit subakromialem Impingementsyndrom. Wie das sechsmonatige Follow-up zeigte, hatten die verglichenen Behandlungen, arthroskopische Dekompression versus keine Therapie, keinen klinisch relevanten Unterschied zur Folge.7

Dass ein höherer Aufwand nicht unbedingt zu einem grösseren Erfolg führt, zeigt sich am Beispiel von Rückenschmerzen. «Wie man weiss, lassen funktionelle Einschränkungen und Schmerzen, unabhängig von der Behandlung, mit der Zeit nach», so Rosemann. Nach etwa 20 Tagen hätten ca. 15–20% der Betroffenen noch Beschwerden. Ein Vergleich zwischen den behandelnden Ärzten zeigt, dass Orthopäden mit signifikant mehr diagnostischen Massnahmen wie bildgebenden Verfahren und Hospitalisationen das gleiche Ergebnis erreichten wie Hausärzte. Rosemann plädierte dafür, mit der Diagnostik bei Rückenschmerzen insgesamt zurückhaltend zu sein. Als Begründung verwies er auf die Ergebnisse eines systematischen Reviews, der gezeigt hatte, dass degenerative Wirbelsäulenveränderungen wie Bandscheibenprotrusionen/Bulges etc. mit dem Alter zunehmen und oftmals asymptomatisch sind.8 «Klagen Patienten über Rückenschmerzen, wird dann oft eine Kausalität hergestellt und entsprechend behandelt», so der Referent.

Überversorgung ist auch in der Hausarztmedizin ein Thema

Zur Über- und Fehlversorgung kommt es aber nicht nur in der Facharztmedizin, sondern auch in der hausärztlichen Versorgung. Ein Beispiel dafür ist die Verschreibung von Vitamin D zur Prävention von Knochenfrakturen, malignen Tumoren und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. «Wissenschaftlich ist längst erwiesen, dass die Supplementierung von Vitamin D keinen positiven Effekt auf das Frakturrisiko hat», sagte Rosemann und verwies auf die Ergebnisse einer grossen Metaanalyse mit mehr als 50000 Teilnehmenden zwischen 52 und 80 Jahren.9

Auf die Entstehung invasiver Tumoren und Herz-Kreislauf-Erkrankungen hat die Einnahme von Vitamin D ebenfalls keinen Effekt, wie eine Studie im New England Journal of Medicine zeigte.10 Im Jahr 2017 entstanden allein durch die Verschreibung von Vitamin-D-haltigen Präparaten und die Bestimmung von Vitamin-D-Spiegeln Krankenversicherungskosten von mehr als 130 Millionen Franken. Basierend auf den Ergebnissen eines Health Technology Assessment hat das Bundesamt für Gesundheit per 1. Juli 2022 eine Limitatio für die Kostenübernahme von Vitamin-D-Analysen eingeführt.

Ein weiteres viel diskutiertes Thema ist die Eisensubstitution. «Die Evidenz für den Nutzen der Eisensubstitution ist schwach», sagte Rosemann. Die Studien seien grösstenteils von den Herstellern der Eisenprodukte finanziert worden. Und selbst in diesen Studien zeigten sich ausgeprägte Placeboeffekte.11 Ein Effekt der Eisensubstitution auf die Müdigkeit ist erst bei Serum-Ferritinwerten <15ng/ml zu erwarten, das zeigte eine Studie bei prämenopausalen Frauen.12

Die oben genannten Massnahmen sind nur einige Beispiele aus einzelnen Fachdisziplinen: «Überversorgung gibt es in allen Bereichen der Medizin», sagte Rosemann. Mehr Medizin sei nicht immer besser, oft gelte: «Less is more.» In vielen Fällen sind die Treiber für eine Überversorgung monetäre Fehlanreize: Gemacht wird, was vergütet wird und umgekehrt. Die Überversorgung im Gesundheitssystem führt zu einer hohen finanziellen Belastung und kann den Patienten darüber hinaus gesundheitlich schaden. «Die Hausärzte haben hier als Anwälte der Patienten eine wichtige Rolle.»

26. Fortbildungstagung des Kollegiums für Hausarztmedizin, 20. bis 21. Juni 2024, Luzern

1 Nationale Versorgungsleitlinie (NVL) Chronische KHK 2022. Einsehbar unter: www.awmf.org 2 Chmiel C et al.: Appropriateness of diagnostic coronary angiography as a measure of cardiac ischemia testing in non-emergency patients - a retrospective cross-sectional analysis. PLoS One 2015; 10: e 0117172 3 Moseley JB et al.: A controlled trial of arthroscopic surgery for osteoarthritis of the knee. N Engl J Med 2002; 347: 81-8 4 Siemieniuk RAC et al.: Arthroscopic surgery for degenerative knee arthritis and meniscal tears: a clinical practice guideline. BMJ 2017; 357: j1982 5 Katz JN et al.: Surgery versus physical therapy for a meniscal tear and osteoarthritis. N Engl J Med 2013; 368: 1675-84 6 Saueressig T et al.: Primary surgery versus primary rehabilitation for treating anterior cruciate ligament injuries: a living systematic review and meta-analysis. Br J Sports Med 2022; 56: 1241-51 7 Beard DJ et al.: Arthroscopic subacromial decompression for subacromial shoulder pain (CSAW): a multicentre, pragmatic, parallel group, placebo-controlled, three-group, randomised surgical trial. Lancet 2018; 391: 329-38 8 Brinjikji W et al.: Systematic literature review of imaging features of spinal degeneration in asymptomatic populations. AJNR Am J Neuroradiol 2015; 36: 811-6 9 Zhao JG et al.: Association between calcium or vitamin D supplementation and fracture incidence in community-dwelling older adults: a systematic review and meta-analysis. JAMA 2017; 2466-82 10 Manson JE et al.: Vitamin D supplements and prevention of cancer and cardiovascular disease. N Engl J Med 2019; 380: 33-44 11 Favrat B et al.: Evaluation of a single dose of ferric carboxymaltose in fatigued, iron-deficient women--PREFER a randomized, placebo-controlled study. PLoS One 2014; 9: e94217 12 Krayenbuehl PA et al.: Intravenous iron for the treatment of fatigue in nonanemic, premenopausal women with low serum ferritin concentration. Blood 2011; 118: 3222-7

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