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„Nationales Zweitmeinungsnetzwerk Hodentumoren“ – Zwischenbilanz einer „Weltverbesserungsmaschine“ nach 10 Jahren Laufzeit
Urologik
Autor:
Prof. Dr. Mark Schrader
Urologische Klinik<br> Helios Klinikum Berlin<br> E-Mail: mark.schrader@helios-gesundheit.de
30
Min. Lesezeit
13.12.2018
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<p class="article-intro">Das „Nationale Zweitmeinungsnetzwerk Hodentumoren“ zielt darauf ab, die Qualität der Versorgung von Patienten mit Hodenkrebs flächendeckend in Deutschland zu verbessern. Wenn die Diagnose Hodenkrebs gestellt wurde, können sich die behandelnden Ärzte über das Zweitmeinungsnetzwerk bei der Therapieplanung von Hodentumorexperten beraten lassen. Seit 2006 sind mehr als 6500 Zweitmeinungen eingeholt worden. Aktuell beteiligen sich mehr als 30 Zweitmeinungszentren in Deutschland an dem Projekt sowie zwei Zentren in Österreich.</p>
<hr />
<p class="article-content"><h2>Einleitung</h2> <p>Die Datenlage zur Versorgungsqualität bei Keimzelltumoren in Deutschland ist stark eingeschränkt. Zur Leitlinienkonformität der Behandlung dieser Tumorerkrankung liegen keine systematisch erhobenen Daten vor. Hinsichtlich der Mortalitätsrate, die ein schlechter Messparameter der Versorgungsqualität bei Hodentumoren ist, unterstützen historische epidemiologische Daten die Vermutung, dass die Versorgungsqualität regional verbesserbar ist. <br />Aus diesem Grund wurde im Jahr 2007 von der German Testicular Cancer Study Group das „Zweitmeinungsprojekt Hodentumoren“ gegründet.<sup>1</sup> Das zentrale Element dieses Projektes ist ein deutschlandweites Angebot zur Konsultation von Zweitmeinungszentren vor der weiteren therapeutischen Weichenstellung. Mithilfe des Dialogs von behandelnden Urologen und Zweitmeinungszentren sollte eine bessere Versorgung von Hodentumorpatienten erreicht werden. Für schwierige Situationen sollte Beratung angeboten werden und in seltenen Situationen auch schlichtweg darauf hingewiesen werden, dass einzelne Patienten, beispielsweise mit komplexen Rezidiven, in Versorgungszentren vorgestellt werden sollten. <br />Nebeneffekt des Projektes war der Aufbau eines nationalen klinischen Hodentumorregisters, welches mittlerweile 25 % der in Deutschland neu diagnostizierten Fälle im Hinblick auf das Ausgangsstadium der Erkrankung, die durchgeführte Therapie und das Follow-up erfasst. Konnte ein solch altruistisches Projekt ohne die „klassischen Anreize“ – Geld, Steigerung der Patientenanzahl oder Schaffung von Wettbewerbsvorteilen – funktionieren? <br />Im Folgenden berichten wir über Ergebnisse des Projektes – nennen wir es spaßeshalber „die Weltverbesserungsmaschine“ – nach fast 10 Jahren Laufzeit und wir geben einen Ausblick auf die zukünftige Weiterentwicklung des bestehenden Systems.</p> <h2>Material und Methoden</h2> <p>Der Systemablauf des Zweitmeinungsprojektes gestaltet sich folgendermaßen: Nach einmaliger Nutzerregistrierung auf http://www.zm-hodentumor.de erfolgt eine Anonymisierung der Patientendaten. <br />Anschließend kann der klinische Primärdatensatz zu dem jeweiligen Patienten online in eine Datenmaske eingegeben werden. Dieser Datensatz ist auf wenige für die Therapieentscheidung relevante Datenfelder minimiert. Der Nutzer hat hiernach die Möglichkeit, eines von aktuell 34 Zweitmeinungszentren zu selektieren und die Anfrage an das gewählte Zentrum zu senden.<sup>2</sup> Der Arzt des jeweiligen Zweitmeinungszentrums gibt daraufhin eine Therapieempfehlung ab (Abb. 1).<sup>3</sup> <br />Das Projekt wird von einem Datenzentrum begleitet, welches 3 Monate nach Anfrage an ein Zweitmeinungszentrum recherchiert, welche Therapie schlussendlich erfolgte.<sup>1, 4</sup> Durch das Datenzentrum wird zudem 2 Jahre nach Zweitmeinungsanfrage ein Follow-up durchgeführt. Durch ein Audit erfolgt eine Kontrolle der Leitlinienkonformität von Zweitmeinungsempfehlungen. Als Parameter wurden in der aktuellen Zwischenauswertung bestimmt:</p> <ul> <li>geplante Therapie des Anfragenden („Erstmeinung“) versus Therapieempfehlung des Zweitmeinungszentrums („Zweitmeinung“),</li> <li>rezidiv- bzw. progressionsfreier Verlauf.</li> </ul> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Urologik_Uro_1804_Weblinks_s39_abb1.jpg" alt="" width="1454" height="916" /></p> <h2>Ergebnisse</h2> <p>Eine Zwischenbilanz des Zweitmeinungsprojektes schloss insgesamt 2515 der bis dato über 6800 Zweitmeinungsanfragen (Stand 11/2018) ein.<sup>5</sup> Ein Vergleich mit den Krebsregisterdaten des Robert- Koch-Institutes zeigt, dass im Jahr 2015 bei 884 Zweitmeinungsanfragen/Jahr und ca. 4000 Neuerkrankungen/Jahr mehr als 20 % der Hodentumorpatienten in Deutschland im Rahmen des Zweitmeinungsprojektes vorgestellt werden (Abb. 2). Im Vergleich zu populationsbezogenen Daten waren Nichtseminome (47,1 % ) gegenüber Seminomen (47,8 % ) leicht überrepräsentiert. Unterschiedliche Raten gibt es auch für metastasierte Stadien und lokalisierte Stadien (klinisches Stadium I: 59 % vs. klinisches Stadium II–III: 37 % ). <br />Nebeneffekt des Netzwerkes war der Aufbau eines nationalen klinischen Hodentumorregisters, welches 2016 25 % der in Deutschland neu diagnostizierten Fälle im Hinblick auf Ausgangsstadium der Erkrankung, durchgeführte Therapie und Follow-up erfasste. <br />Die 2515 Zweitmeinungsanfragen kamen von insgesamt 536 verschiedenen Ärzten. Die Rücklaufquote für die Therapieangaben betrug 77 % (1328/1737) und 72 % (575/800) für das 2-Jahres-Followup. In einer Ende 2012 durchgeführten Umfrage unter Anwendern der Zweitmeinungsplattform zeigte sich, dass fast die Hälfte der Primärbehandler niedergelassene Urologen sind, in etwa 25 % als Oberarzt und 25 % als Assistenzarzt oder Chefarzt an einer Klinik tätig sind.<sup>6</sup> <br />Die Auswertung der Therapievorschläge ergab bei mehr als 30 % der Fälle eine Diskrepanz zwischen Erstmeinung und Zweitmeinung. Es zeigte sich unabhängig von der Tumorhistologie ein signifikant erhöhter Prozentsatz diskrepanter Empfehlungen bei zunehmendem Tumorstadium (χ<sup>2</sup>-Test nach Pearson; <0,001) (Tab. 1). In 40 % der Fälle beinhaltete eine diskrepante Zweitmeinung einen weniger intensiven Therapievorschlag als vom Anfragenden intendiert, in 16 % dagegen war der Therapievorschlag der Zweitmeinung therapieintensiver als die ursprünglich geplante Behandlung. Insgesamt führte etwa jede 6. Zweitmeinung zu einer relevanten Änderung des vorgeschlagenen Therapieumfanges, wobei eine Reduktion in etwa dreimal häufiger war als eine Intensivierung der Therapie. <br />Das progressionsfreie Überleben lag im Gesamtkollektiv bei 90,0 % , stratifiziert nach Tumorstadien bei 93 % im Stadium I, 91,4 % im Stadium IIa/IIb und 77,2 % im Stadium ≥IIc und entsprach damit weitestgehend aktuellen Studienergebnissen (Abb. 3).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Urologik_Uro_1804_Weblinks_s39_abb2.jpg" alt="" width="1473" height="857" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Urologik_Uro_1804_Weblinks_s39_tab1.jpg" alt="" width="1419" height="733" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Urologik_Uro_1804_Weblinks_s39_abb3.jpg" alt="" width="1459" height="917" /></p> <h2>Diskussion</h2> <p>Das Zweitmeinungsangebot für testikuläre Keimzelltumoren wurde, mit mehr als 5000 eingeholten Zweitmeinungen, umfangreich in Anspruch genommen. Dies ist insbesondere beachtenswert, als das Angebot anfangs starker Kritik ausgesetzt war. Zum einen, da es die bestehende Versorgungsqualität indirekt infrage stellte, zum anderen, da gemutmaßt wurde, dass die Intention sei, Patientenströme umzuleiten. Beide Kritikpunkte erwiesen sich als unbegründet. Genauso unbegründet war die Sorge, sich durch die Einholung einer Zweitmeinung vor dem Patienten als inkompetent darzustellen. Das Gegenteil war der Fall! Patienten wertschätzten die Versicherung, den eigenen Therapieplan durch einen Kollegen gegenlesen zu lassen. <br />Die zahlreichen Diskrepanzen von Erstund Zweitmeinung sprechen für einen hohen Konsultationsbedarf, insbesondere bei schwierigen Fällen. Die Zweitmeinungsplattform ist nach der aktuellen Zwischenbilanz in der Lage, Übertherapie bei Hodentumorpatienten zu reduzieren. Im Rahmen der Überarbeitung der Onlineplattform im April 2014 wurde für Hodentumorrezidivfälle ein eigener Eingabepfad eingerichtet. Dies soll die Vorstellung solcher Fälle erleichtern, wenngleich die Onlineplattform hier mitunter an ihre Grenzen stößt und eher als Anknüpfungspunkt an ein institutionelles Behandlungszentrum mit entsprechender Erfahrung dienen kann. <br />Die hohe Akzeptanz des Projektes und die ermutigenden Daten der Zwischenbilanz sind für die Techniker Krankenkasse Anlass, sich in Zukunft an der Finanzierung des Netzwerkes zu beteiligen. In diesem Kontext werden erstmalig in Deutschland Urologen systematisch dazu aufgefordert, eine Zweitmeinung einzuholen. Patienten werden ebenfalls gezielt auf dieses Angebot aufmerksam gemacht werden. Die Einholung wie auch die Abgabe der Zweitmeinung und das Followup werden seitens der TK in Zukunft extrabudgetär honoriert werden. Die TK hat jedoch bereits festgelegt, dass dieses Projekt nach einer einjährigen Anlaufphase auch für weitere Kassen geöffnet werden wird. <br />In diesem Kontext wird eine Erweiterung der onkologischen Daten um den Sozialdatensatz angestrebt. <br />Bemerkenswert unterstreicht dieses Projekt, wie hoch die Motivation trotz fehlender pekuniärer Anreize bei den teilnehmenden Ärzten war. <br />Im Förderzeitraum der Deutschen Krebshilfe von 2007 bis 2015 bestanden keinerlei materielle Anreize für die teilnehmenden Ärzte. Die im Gesundheitssystem üblichen „Incentives“ – finanzielle Honorierung, Zunahme der Patientenanzahl, Wettbewerbsvorteil – wurden gesellschaftsuntypisch nicht eingefordert. Das Hauptmotiv für die Teilnahme der Ärzte war die Möglichkeit, niedrigschwellig den eigenen Therapieplan von einem Zweitmeinungskollegen für zutreffend erklären zu lassen bzw. bei eigener Unsicherheit Unterstützung bei der Erstellung eines Therapieplanes einzuholen.</p> <h2>Zusammenfassung</h2> <p>Wenn die Diagnose Hodenkrebs gestellt wurde, können sich behandelnde Ärzte über das Zweitmeinungsnetzwerk bei der Therapieplanung von Hodentumorexperten beraten lassen. Ärzte und Zweitmeinungszentren kommunizieren über eine interaktive Internetplattform. Der behandelnde Arzt übermittelt die klinischen Angaben seines Patienten, seinen Therapieplan sowie eventuelle Detailfragen. Das Zweitmeinungszentrum gleicht den Therapievorschlag des Arztes mit der aktuell geltenden Behandlungsleitlinie ab und geht auf die gestellten Fragen ein. <br />Anschließend stimmt es entweder dem Vorschlag des Arztes zu oder empfiehlt eine alternative Therapie. Ein Datenzentrum begleitet das Projekt und verfolgt die Krankheitsverläufe. <br />Im Jahr 2017 wurde jeder dritte Patient mit Erstdiagnose Hodenkrebs in Deutschland in diesem Netzwerk bei einem Zweitmeinungszentrum vorgestellt. Ärzte können das Portal, unabhängig von der Krankenversicherung, für jeden Patienten nutzen. Weder für den anfragenden Arzt noch für den Patienten fallen bei diesem Non-Profit-Projekt Kosten an. Mit der Techniker Krankenkasse und der Hanseatischen Krankenkasse liegen seit 1. 7. 2017 Verträge gemäß §§ 140 ff. SGB V vor. <br />Wir sehen dieses Netzwerk als Möglichkeit, bei einer Erkrankung mit geringer Inzidenz die Versorgungsqualität durch ein flächendeckendes niedrigschwelliges Angebot von Expertenwissen systematisch zu verbessern. Wir sind der Ansicht, dass dieses Projekt ein Rollenmodell für andere Erkrankungen sein kann.</p> <p><strong>Funding:</strong> <br />Gefördert durch die Deutsche Krebshilfe e.V., Janssen/Johnson & Johnson, Gert und Susanna Mayer Stiftung, Techniker Krankenkasse, AQUA-Institut</p> <p><strong>Interessenkonflikte:</strong> <br />Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.</p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Schrader M et al.: Burden or relief: do second-opinion centers influence the quality of care delivered to patients with testicular germ cell cancer? Eur Urol 2009; 57(5): 867-72 <strong>2</strong> Studienstatistik der Arbeitsgemeinschaft Urologische Onkologie, http://www.auo-online.de <strong>3</strong> Busch J et al.: What is most important is what comes across: urological guidelines from the target group‘s point of view. Urologe 2010; 49(1): 75-80 <strong>4</strong> Weissbach L et al.: Interdisciplinary consensus conference on „diagnosis and therapy of testicular tumors“. Urologe 1997; 36(4): 362-8 <strong>5</strong> Zengerling F et al.: National second opinion network for testicular cancer patients - transferring guidelines into practice! Aktuelle Urol 2014; 45(6): 454-6 <strong>6</strong> Zengerling F et al.: National second-opinion network for testicular cancer patients. Results of a user survey. Urologe 2013; 52(9): 1290-5</p>
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