
«Hoffnung auf gezieltere Diagnostik»
Unser Gesprächspartner:
PD Dr. med. Mike Becker
Oberarzt in der Klinik für Rheumatologie im Universitätsspital Zürich, spezialisiert auf entzündliche Systemerkrankungen, insbesondere Vaskulitiden und Kollagenosen
Das Interview führte Dr. med. Felicitas Witte
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Forscher aus Granada haben drei neue Genloci gefunden, die mit einer Riesenzellarteriitis assoziiert sind.1 Der Ansatz ist vielversprechend, eine genetische Testung zurzeit aber noch nicht sinnvoll, erklärt Dr. med. Mike Becker aus Zürich.
Herr Dr. Becker, haben die Ergebnisse Sie überrascht?
M. Becker: Die Studie ist sicher ein Fortschritt im Verständnis der Pathogenese der Riesenzellarteriitis. Überraschend dabei ist, dass angesichts der schon bekannten Assoziationen nochmals drei neue signifikante gefunden wurden.
Welche Konsequenzen für den Praxisalltag ergeben sich?
M. Becker: Ich denke, für eine schnelle Umsetzung in die Praxis eignen sich diese Ergebnisse nicht. Genetische Testungen sind aufwendig und teuer und haben nur dann Sinn, wenn es eine Konsequenz für Diagnostik und/oder Therapie gibt. Das ist hier noch nicht gegeben. Man darf zudem nicht vergessen, dass nur ein kleiner Teil der Riesenzellarteriitiden durch die Genetik erklärt wird. In der Studie waren es nur 15,1%; wenn die HLA-Gene herausgerechnet wurden, sogar nur 13,4%.1
Was halten Sie vom Studienaufbau?
M. Becker: Die Stärke der Studie ist die grosse Anzahl von Patienten aus unterschiedlichen Zentren. Auch ist eine angemessene statistische Analyse durchgeführt worden. Wie so häufig bei grossen genetischen Untersuchungen gibt es aber leider keine detaillierte Beschreibung der Kohorte und die Autoren haben auch nicht nach Einflussfaktoren in der Kohorte gesucht. Wir wissen, dass sich die Klinik unterscheiden kann, etwa haben manche Patienten mit Riesenzellarteriitis eine kraniale Beteiligung und andere eine Grossgefässvaskulitis im Bereich der Aorta und ihrer Abgänge. Da keine Subgruppen-Analysen gemacht wurden, könnten entsprechende Assoziationen verpasst worden sein. Denn wenn man statistisch signifikante Assoziationen in einer Population sucht, die die verschiedenen Subgruppen a, b und c enthält, und nur für die Subgruppe a eine statistische Signifikanz vorliegt, kann das in der Gesamtpopulation untergehen. Da die untersuchte Kohorte wahrscheinlich mehrere Subgruppen enthält, etwa die kraniale RZA und Patienten mit thorakoabdominellem Befall, können Assoziationen, die nur mit einer Form verbunden sind, nicht entdeckt worden sein.
Wie interpretieren Sie die gefundenen Genloci?
M. Becker: Die Studie hat dank der grossen Anzahl an Probanden viele genetische Assoziationen gezeigt, von denen einige durch ihre besondere Signifikanz beziehungsweise statistisch starke Assoziation herausstechen. Da gibt es zum einen eine Reihe von HLA-Genen, allen voran HLA-DQA1, die in Immunreaktionen auf Gewebe involviert sind, etwa im Rahmen einer Abstossungsreaktion nach Transplantationen. Dies zeigt, dass das Immunsystem eine Rolle spielt bei der Pathogenese der Erkrankung. Bestätigt wird dies durch eine Analyse der Nicht-HLA-Gene. Die meisten dieser Gene sind verwickelt in die Regulation von Immunzellen, etwa T-Helferzellen, B-Zellen, neutrophilen Granulozyten, Monozyten und natürlichen Killerzellen (NK-Zellen). Letztere gehören wie die neutrophilen Granulozyten und Monozyten/Makrophagen zum angeborenen Immunsystem. Einer der neu gefundenen Genloci, CCD25C, codiert für ein Protein, das bei der Erkennung von durch neutrophile Granulozyten freigesetzten «Netzen» aus Proteinen und DNA eine Rolle spielt. Dieser Prozess findet unter anderem auch bei der ANCA-assoziierten Vaskulitis statt.2 Andere, schon bekannte Genloci sind das Plasminogen-Gen, das Vitronectin-Gen und das Lactadherin-Gen. Alle spielen eine Rolle bei Umbauvorgängen der Gefässwand. Vitronectin kann an Plasminogen binden und die Gefässneubildung beeinflussen, ebenso wirkt Lactadherin auf die Gefässbildung.3,4 Hier ist ebenfalls das angeborene Immunsystem beteiligt. Das beleuchtet noch einmal interessante Aspekte der Pathogenese der Erkrankung und lässt hoffen, dass zukünftig durch gezieltere Diagnostik oder Therapie – etwa in Form von Markern, die eine Aktivierung des angeborenen Immunsystems anzeigen, und dort ansetzenden Medikamenten – die Erkrankung besser zu erkennen und behandeln ist.
Warum hat man bisher nur wenige Genloci identifizieren können?
M. Becker: Wahrscheinlich liegt das daran, dass bei der Riesenzellarteriitis mehrere unterschiedliche Faktoren zusammenkommen müssen, bis die Krankheit ausbricht. Gäbe es eindeutige krankheitsauslösende Gene, hätte man sie wahrscheinlich schon gefunden. Es gibt andere Vaskulitiden, die eine eindeutige Assoziation zu einem genetischen Marker haben. Die Genveränderung führt dann dort dazu, dass die Krankheit ausbricht. Das ist zum Beispiel der Fall bei einer genetisch determinierten Form der Polyarteriitis nodosa. Mutationen auf beiden Allelen des Adenosin-Deaminase-2-Gens führen zu einem Mangel der Adenosin-Deaminase 2. Als Konsequenz wird zu wenig Adenosin in Inosin umgewandelt, und der erhöhte Spiegel von Adenosin hat diverse Effekte auf das Immunsystem.5
Werden wir in Zukunft die Riesenzellarteriitis mit einem Gentest diagnostizieren?
M. Becker: Eine genetische Diagnostik halte ich nicht für sinnvoll, dazu ist der Anteil der genetischen Determination zu gering. Sollten sich in der Zukunft Subgruppen von Patienten finden, bei denen sehr viel mehr Fälle durch eine oder mehrere genetische Assoziationen erklärt werden können, wäre das anders.
Führen Sie am Unispital Gentestungen bei Patienten mit Riesenzellarteriitis durch?
M. Becker: Nein, nur in seltenen Fällen, wenn der Verdacht auf ein VEXAS-Syndrom besteht. Ansonsten hat dies weder diagnostisch noch therapeutisch Konsequenzen und weder Kosten noch Aufwand wären zu rechtfertigen. Womöglich könnte sich das aber in Zukunft ändern: Auf dem 21. Internationalen Vaskulitis-Workshop im April in Barcelona hat Peter Grayson von den National Institutes of Health in den USA einen genetischen Biomarker vorgestellt,6 nämlich den «single nucleotide polymorphism» (SNP) rs2228145 des Interleukin-6-Rezeptors, der das Ansprechen auf Tocilizumab vorhersagte und möglicherweise bei der Entscheidung für oder gegen dieses Medikament helfen könnte. Allerdings sind die Daten noch nicht publiziert und sie müssten dann noch in prospektiven Studien bestätigt werden.
Literatur:
1 Borrego-Yaniz G et al.: Risk loci involved in giant cell arteritis susceptibility: a genome-wide association study. Lancet Rheumatol 2024; 6(6): e374-83 2 Shiratori-Aso S, Nakazawa D: The involvement of NETs in ANCA-associated vasculitis. Front Immunol 2023; 14: 1261151 3 Wu J et al.: Plasminogen activator inhibitor-1 inhibits angiogenic signaling by uncoupling vascular endothelial growth factor receptor-2-αVβ3 integrin cross talk. Arterioscler Thromb Vasc Biol 2015; 35(1): 111-20 4 Silvestre J-S et al.: Lactadherin promotes VEGF-dependent neovascularization. Nat Med 2005; 11(5): 499-506 5 Grim A et al.: Deficiency of adenosine deaminase 2: clinical manifestations, diagnosis, and treatment. Rheum Dis Clin North Am 2023; 49(4): 773-87 6 Programm des 21. Internationalen Vaskulitis-Workshops in Barcelona, 7.–10.4.; verfügbar unter https://vasculitis-barcelona2024.com/images/site/VASCULITIS-PROGRAMME.pdf (zuletzt aufgerufen am 15.7.2024)
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