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70 Jahre Glukokortikoide: eine Standortbestimmung
Leading Opinions
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22.11.2018
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<p class="article-intro">Die europäische Fachgesellschaft EULAR empfiehlt, bei Patienten mit rheumatoider Arthritis konventionelle Basismedikamente immer zu Beginn und bei Wechsel der Therapie mit einem Glukokortikoid (GC) zu kombinieren.<sup>1</sup> Prof. Dr. med. Frank Buttgereit von der Charité in Berlin erklärte auf dem SGR-Jahreskongress in Interlaken die Hintergründe, die zu der Empfehlung geführt haben, und wie GC heute korrekt eingesetzt werden.</p>
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<p class="article-content"><p>Im Jahr 1948, also vor genau 70 Jahren, wurde die erste Patientin mit Kortison behandelt. «Die GC übertreffen daher viele andere Medikamente hinsichtlich der Anzahl behandelter Patienten und der Vielzahl klinischer Anwendungen», sagte Prof. Buttgereit. Eine amerikanische Studie zeigte beispielsweise, dass 20 % der ambulant behandelten Patienten ein GC aus unterschiedlichen Gründen und von Ärzten verschiedener Fachrichtungen verschrieben bekommen (Abb. 1).<sup>2</sup> Und in Deutschland werden bei 44 % der RA-Patienten GC mehr oder weniger kontinuierlich eingesetzt.<sup>3</sup> «Trotz des medizinischen Fortschritts und der Biologika wäre es auch heute ohne GC nach wie vor nicht immer möglich, gute Medizin zu machen», so der Experte.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Ortho_1804_Weblinks_lo_ortho_1804_s52_abb1.jpg" alt="" width="1417" height="891" /></p> <h2>GC hemmen auch radiografische Progression</h2> <p>GC werden vor allem wegen ihrer rasch einsetzenden antiinflammatorischen und immunsuppressiven Wirkung bei verschiedenen entzündlichen Autoimmunerkrankungen eingesetzt. «Zusammen mit den anderen Basistherapeutika helfen GC mit, die radiografische Progression zu vermindern », erläuterte Buttgereit. Dies überrasche vielleicht auf den ersten Blick, da GC-Therapien ja eher mit vermehrtem Knochenabbau in Verbindung gebracht werden. Doch betrachte man den Wirkmechanismus, werde schnell klar, warum GC tatsächlich auch die radiografische Progression vermindern. Wie aus der Biologikaforschung bekannt ist, sind bei einer Entzündung Zytokine wie TNF-α und IL-1 lokal erhöht. Diese Moleküle stimulieren die Osteoblasten und T-Zellen, RANK-Ligand zu bilden und an den RANK-Rezeptor auf den Präosteoklasten zu binden. Dadurch differenzieren sich mehr Vorläuferzellen zu den knochenabbauenden Osteoklasten. «GC unterbrechen diese Kaskade, indem sie Entzündungsmediatoren wie TNF-α und IL-1 hemmen», so Buttgereit. Und diese Inhibition vermindere schliesslich die radiografische Progression.<sup>4, 5</sup><br /> GC machen zudem Therapien mit Basismedikamenten wie Methotrexat besser verträglich. Die europäische Fachgesellschaft EULAR empfiehlt deshalb seit 2016, immer wenn eine Therapie mit einem konventionellen DMARD gestartet oder die Behandlung mit einem Basistherapeutikum geändert wird, kurzzeitig ein GC dazuzugeben.<sup>1</sup></p> <h2>1,5-fach erhöhtes Risiko für Wirbelkörperbrüche</h2> <p>«Selbstverständlich verursachen GC mitunter auch erhebliche unerwünschte Nebenwirkungen», führte Prof. Buttgereit aus. Insbesondere in höherer Dosierung und bei längerer Anwendung fördern diese Medikamente zum Beispiel Infektionen und verändern den Metabolismus, was Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Katarakt, Depression, Myopathie und Osteoporose fördert.<br /> Wie gross das Problem des Knochenabbaus unter einer GC-Therapie tatsächlich ist, untersuchte vor einiger Zeit eine asiatische Gruppe in einer randomisierten kontrollierten Studie mit 413 Teilnehmern, darunter 208 mit RA und 205 ohne RA. Die Analyse ergab: Patienten mit RA hatten 1,5-mal häufiger Wirbelkörperfrakturen als die Kontrollgruppe. «Das ist erheblich », kommentierte der Experte. Die Mehrzahl der 90 RA-Patienten mit Wirbelkörperbrüchen, nämlich 56,7 % , hatte zudem drei und mehr Wirbelkörperfrakturen; bei der Population ohne RA mit Brüchen war es ein Viertel. Unter den RAPatienten war ausserdem der Schweregrad der Brüche deutlich ausgeprägter als in der Kontrollgruppe.<sup>6</sup></p> <h2>Nur so viel und so lange wie nötig</h2> <p>Die Kunst in Praxis und Klinik besteht deshalb darin, die entzündungshemmende Wirkung von GC zu nutzen, ohne den Patienten zu schaden. «GC sollten daher immer in so geringer Dosis und so kurz wie möglich und nötig eingesetzt werden», betonte Buttgereit. Tatsächlich hat beim Einsatz der GC in den letzten Jahrzehnten ein Umdenken stattgefunden. In Deutschland beispielsweise wurden 1996 noch 55 % der RA-Patienten mit GC behandelt, 2016 nur noch 44 % . Auch die Dosis konnte deutlich reduziert werden. So hat sich einerseits der Anteil der RA-Patienten, die täglich weniger als 5mg GC bekommen, in den letzten Jahren deutlich erhöht und andererseits der Anteil derjenigen, die täglich mehr als 7,5mg erhalten, deutlich reduziert. Doch es gibt eine Ausnahme: «Patienten mit einer frisch diagnostizierten RA werden heute aufgrund der Empfehlungen in den Leitlinien deutlich häufiger mit GC behandelt als früher», so Buttgereit. Ihr Anteil stieg zwischen 1996 und 2016 von 44 % auf 55 % .</p> <h2>Unerwünschten Wirkungen vorbeugen</h2> <p>Gibt es eine sichere Dosis für GC? Und wenn ja, welche ist tatsächlich sicher? Diese Fragen untersuchte eine EULAR-Arbeitsgruppe unter der Leitung von Prof. Buttgereit.<sup>7</sup> Das Ergebnis:</p> <ul> <li>Werden Patienten, beispielsweise mit RA, dauerhaft mit täglich 5mg oder weniger Prednisolon-Äquivalent behandelt, überwiegt bei der grossen Mehrzahl der Nutzen.</li> <li>Werden Patienten mit täglich 10mg oder mehr behandelt, überwiegt hingegen bei der Mehrzahl der Patienten der Schaden.</li> </ul> <p>«Bei Tagesdosen zwischen 5mg und 10mg lässt sich das Nutzen-Risiko-Verhältnis allerdings nur differenziert beurteilen », sagte Prof. Buttgereit. Denn in diesem Zwischenbereich komme es nicht mehr nur auf die Dosis an, sondern auch auf die An- und Abwesenheit von bestimmten Risiken und protektiven Faktoren. In der Klinik und in der Praxis ist es deshalb wichtig, beim Patienten protektive Faktoren zu fördern und möglichen negativen Folgen mit geeigneten Massnahmen vorzubeugen. Plakativ formuliert: Eine 72-jährige Patientin, die über längere Zeit 7,5mg Prednisolon einnehmen muss, hat ein deutlich niedrigeres Knochenbruchrisiko, wenn sie sich kalziumreich ernährt, regelmässig Sport treibt, ihre Muskeln kräftig erhält und eine Vitamin-D-Supplementation und ein Bisphosphonat erhält. Anders verhält es sich bei einer gleichaltrigen Patientin, die ebenfalls täglich die gleiche Menge GC dauerhaft einnehmen muss, aber zusätzlich ein sehr niedriges Körpergewicht, eine niedrige Knochendichte, eine positive Familienanamnese für Osteoporose, selber schon Frakturen hat und wegen einer Laktoseintoleranz auch keine Milchprodukte zu sich nimmt.</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: SGR/SGAI-Kongress, 30.–31. August 2018, Interlaken
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Smolen JS et al.: EULAR recommendations for the management of rheumatoid arthritis with synthetic and biological disease-modifying antirheumatic drugs: 2016 update. Ann Rheum Dis 2017; 76(6): 960-77 <strong>2</strong> Waljee AK et al.: Short term use of oral corticosteroids and related harms among adults in the United States: population based cohort study. BMJ 2017; 357: 1415 <strong>3</strong> Thiele K et al.: Current use of glucocorticoids in patients with rheumatoid arthritis in Germany. Arthritis Rheum 2005; 53(5): 740-7 <strong>4</strong> Rizzoli R, Biver E: Glucocorticoid-induced osteoporosis: who to treat with what agent? Nat Rev Rheum 2015; 11: 98- 105 <strong>5</strong> Buttgereit F et al.: Inflammation, glucocorticoids and risk of cardiovascular disease. Nat Clin Pract Rheumatol 2009; 5: 18-19 <strong>6</strong> Okano T et al.: High frequency of vertebral fracture and low bone quality in patients with rheumatoid arthritis – results from TOMORROW study. Mod Rheumatol 2017; 27(3): 398-404 <strong>7</strong> Strehl C et al.: Defining conditions where long-term glucocorticoid treatment has an acceptably low level of harm to facilitate implementation of existing recommendations: viewpoints from an EULAR task force. Ann Rheum Dis 2016; 75(6): 952-7</p>
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