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Aktualisierte DVO-Leitlinie

«Eine umfassende und niederschwellige Prävention ist zeitgemäss»

Der Dachverband Osteologie (DVO) hat im September 2023 eine überarbeitete Version der Osteoporose-Leitlinie herausgegeben.1 Sie fasst die aktuelle Evidenz zu Prophylaxe, Diagnostik und Therapie bei postmenopausalen Frauen und bei Männern ab dem 50. Lebensjahr zusammen. Prof. Dr. med. Heike Bischoff-Ferrari aus Zürich kommentiert die Neuerungen der Leitlinie.

Was halten Sie von der neuen Leitlinie?

H. Bischoff-Ferrari: Aus meiner Sicht ist das eine gelungene Verbesserung, um mehr Menschen mit dem Risiko für eine Osteoporose zu erreichen, damit wir zu einem früheren Zeitpunkt präventive Massnahmen einleiten können.

Welche Neuerungen halten Sie für besonders wichtig?

H. Bischoff-Ferrari: Angesichts der sich schnell verändernden Demografie – ab 2050 wird nahezu jeder dritte Mensch in Europa 65 Jahre und älter sein2 – ist der betonte Fokus auf Prävention und Früherkennung in den neuen Richtlinien zentral und kosteneffizient. Für den älteren Erwachsenen wird zudem das Thema Sturz als grösster Risikofaktor für Knochenbrüche im Alter hervorgehoben und ein Case-Finding für Stürze empfohlen. Dazu wird die bisherige Empfehlung von Vitamin D und Kalzium bestätigt und um eine ausreichende Proteinzufuhr ergänzt, die relevant ist für die Muskel- und Knochengesundheit. Wertvoll und neu ist zudem die Empfehlung eines individualisierten Trainingsprogramms zur Verbesserung von Kraft, Balance und Koordination im Rahmen der Osteoporosetherapie. Weiter betont die neue Leitlinie das «imminente», sprich unmittelbare Risiko für weitere Knochenbrüche, wenn ein Patient schon einmal eine Wirbelkörperfraktur oder Schenkelhalsfraktur oder zwei oder mehr Stürze innerhalb der zurückliegenden zwölf Monate hatte oder mehr als 5mg Prednisolon täglich über mehr als drei Monate lang innerhalb der letzten zwölf Monate einnahm. Dieses Risiko zu betonen finde ich enorm wichtig, weil damit Hochrisikopatienten eher erkannt und damit besser behandelt werden können.

Inwiefern verändert die Leitlinie jetzt Ihre Praxis?

H. Bischoff-Ferrari: Als Osteoporoseexpertin und Altersmedizinerin mit einem Fokus auf Prävention kommt mir die Empfehlung sehr entgegen. Dazu hat die neue Leitlinie einen betont systemischen Blick auf die Osteoporose und empfiehlt Massnahmen, die insgesamt die gesunde Langlebigkeit fördern, als wichtiges Ziel der modernen Prävention. So gehe ich seit Längerem in der Praxis vor.

Welche Neuerungen sind Ihrer Meinung nach nicht optimal?

H. Bischoff-Ferrari: Die Leitlinie schlägt einen neuen Risikorechner vor, der bezüglich Komponenten und Interaktionen der Risikofaktoren gut recherchiert wurde, jedoch noch validiert werden muss. Um dieses neue Tool anzuwenden, muss man geschult werden. Hier wäre eine digitale Version wertvoll und wird sicherlich folgen. Abgesehen davon bezieht sich der Risikorechner auf das 3-Jahre-Frakturrisiko im Vergleich zum breit genutzten und validierten FRAX-Tool, welches das 10-Jahre-Frakturrisiko vorhersagt.

Kritisieren Sie, dass das Risiko nun nur mehr für drei Jahre berechnet wird?

H. Bischoff-Ferrari:Grundsätzlich hat die Risikorechnung auf das 3-Jahre-Frakturrisiko klinisch gesehen und für die Motivation der betroffenen Patienten eine höhere Relevanz bezogen auf die Umsetzung von präventiven Massnahmen verglichen mit einer 10-Jahres-Risikorechnung. Das breit genutzte und validierte FRAX-Tool bezieht sich auf das 10-Jahres-Frakturrisiko. Für die Praxis ist daher wichtig, dass der neue DVO-Risikorechner wie in der Leitlinie beschrieben validiert wird, auch gegenüber dem FRAX-Tool.

Welchen Risikorechner nutzen Sie in der Praxis?

H. Bischoff-Ferrari: Ich benutze bislang den FRAX, plus ein umfassendes Assessment bezüglich Sturzrisiko, Ernährung und Begleiterkrankungen. Was die Entscheidung für eine medikamentöse Therapie der Osteoporose betrifft, stütze ich mich auf die 2020 überarbeitete Leitlinie der Schweizerischen Vereinigung gegen die Osteoporose (SVGO),3 die bereits den Aspekt des frühzeitigen imminenten beziehungsweise hohen Frakturrisikos, zum Beispiel bei Vorhandensein einer vertebralen Fraktur oder Hüftfraktur, berücksichtigt.

In den letzten Jahren wurde immer wieder über Vitamin D diskutiert, manche Patienten sind verunsichert und zweifeln die Evidenz an. Was sagen Sie Ihren Patienten?

H. Bischoff-Ferrari: Aus meiner Sicht ist auch dieser Teil der Richtlinie gelungen. Bezüglich Frakturreduktion bezieht sich die Empfehlung auf die Metaanalyse aus acht hochqualitativen randomisierten Studien aus dem Jahr 2016 von Weaver et al.4 Die Autoren zeigen, dass Vitamin D in Kombination mit Kalziumzufuhr das Hüftbruchrisiko um 30% senkt und das Risiko für jegliche Fraktur um 15%. Sehr wichtig ist zudem, dass die neue DVO-Leitlinie die tägliche Vitamin-D-Zufuhr empfiehlt, weil wir bei älteren Menschen mit Risiko für Frakturen in der täglichen Dosierung von Vitamin D einen Schutz sehen. Hingegen warnt die Leitlinie, analog zu den 2012 erarbeiteten Vitamin-D-Empfehlungen der Eidgenössischen Ernährungskommission,5 vor intermittierenden Megadosierungen von Vitamin D bei vulnerablen Menschen mit Frakturrisiko. Hintergrund sind Studien, die bei der Bolusgabe von Vitamin D eine Zunahme des Sturz- und Frakturrisikos zeigten.6 Ein ähnliches Muster sehen wir bei akuten Atemwegsinfekten. Hier ergab eine zusammenfassende Arbeit von 46 hochqualitativen Interventionsstudien inklusive unserer DO-HEALTH-Daten, dass die tägliche Dosis Vitamin D einen schützenden Effekt zeigte und die Bolusdosierung keinen Benefit bot.7 Wir haben diese gegenteilige Wirkung von täglichen Gaben versus Bolusgaben von Vitamin D in einer zusammenfassenden Arbeit 2021 bezüglich der erklärenden Mechanismen erläutert.6

Wie erklären Sie sich diese unterschiedlichen Effekte von Vitamin D?

H. Bischoff-Ferrari: Eine Erklärung ist, dass der Körper bei zu hohen Vitamin-D-Gaben gegenregulierende Mechanismen in Gang setzt, die VitaminD akut abbauen und dann eher zu einem Vitamin-D-Mangel führen.

Was halten Sie von den in der DVO-Leitlinie erwähnten Managed-Care-Modellen?

H. Bischoff-Ferrari: Die Managed-Care-Modelle beziehen sich auf Programme, die Menschen mit Frakturen nachhaltig und individualisiert unterstützen sollen, mit Fokus auf Sturzprävention. Obgleich es hier noch mehr Forschung und Belege braucht, unterstützen erste Evaluationen die Kosteneffektivität dieser Programme und zeigen eine verbesserte Lebensqualität. Anhand meiner klinischen Erfahrung sind Knochenbrüche ein einschneidendes Ereignis. Eine unmittelbare und nachhaltige Unterstützung ist daher enorm wertvoll für den betroffenen Menschen und auch für das Gesundheitssystem, weil das Risiko für dauerhafte funktionelle Einschränkungen und Folgefrakturen hoch ist. Eine umfassende und niederschwellige Osteoporoseprävention – wie in der neuen Richtlinie vorgeschlagen – ist zeitgemäss und unterstützt in allen Dimensionen, damit Menschen länger gesund und aktiv bleiben können.

<< Jeder Arzt, jede Ärztin kann etwas dafür tun, um Konsequenzen einer Osteoporose zu verhindern.>>
H. Bischoff-Ferrari , Zürich
Kann jeder niedergelassene Orthopäde und Rheumatologe Patienten mit Osteoporose behandeln?

H. Bischoff-Ferrari: Die Früherkennung, Prävention und Behandlung der Osteoporose sind aufgrund ihrer Häufigkeit eine wichtige Aufgabe der Hausarztmedizin, der Rheumatologie und Orthopädie, der Altersmedizin und Alterstraumatologie wie auch weiterer Fachdisziplinen, die sich mit Osteoporose befassen, etwa Endokrinologie. Die SVGO-Website bietet Fortbildungsprogramme, Tools zur Erfassung von Risikofaktoren und Schulungsmaterial an.8

Was raten Sie Ihren niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen: Sollte man öfter auf Osteoporose screenen?

H. Bischoff-Ferrari:Jeder Arzt, jede Ärztin kann etwas dafür tun, um Konsequenzen einer Osteoporose – in der Regel Knochenbrüche – zu verhindern, egal ob in der Praxis oder in der Klinik. Und dazu gehört ein Screening. Mit der sich nun schnell verändernden Demografie mit einer quasi Verdoppelung der Zahl von Menschen im Alter 65+ bis 2050 werden Osteoporose, Stürze und Frakturen zunehmen. Gleichzeitig zeigte eine Schweizer Übersichtsarbeit von Suhm et al., dass die Primär- und Sekundärprävention von Fragilitätsfrakturen in der Schweiz unzureichend ist, da schätzungsweise weniger als 10% der Personen mit Osteoporose und nur 20% der Personen mit Frakturen nach geringem Trauma Medikamente gegen Osteoporose erhalten.9 Daher unterstützt die neue DVO-Leitlinie eine niederschwellige Case-Finding-Strategie bezüglich Osteoporose und Stürzen. Letzteres wird zudem in der 2022 publizierten globalen Leitlinie zur Sturzprävention und -behandlung empfohlen.10 Stürze werden von Menschen als Zeichen von Gebrechlichkeit verdrängt oder vergessen. Trotzdem ist jeder Sturz ein Warnsignal für weitere Stürze und Hauptrisikofaktor eines Knochenbruchs bei Menschen im Alter 65+. Die globale Sturzleitlinie 2022 und die neue DVO-Leitlinie stimmen überein, dass mit einer umfassenden Risikoabklärung und einer davon abgeleiteten multifaktoriellen individualisierten Behandlung Stürze vermieden werden können.

1 DVO: S3-Leitlinie Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Osteoporose bei postmenopausalen Frauen und bei Männern ab dem 50. Lebensjahr. AWMF-Register-Nr.: 183/001 2 https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/STAT_05_48 3 Ferrari S et al.: 2020 recommendations for osteoporosis treatment according to fracture risk from the Swiss Association against Osteoporosis (SVGO). Swiss Med Wkly 2020; 150: w20352 4 Weaver CM et al.: Calcium plus vitamin D supplementation and risk of fractures: an updated meta-analysis from the National Osteoporosis Foundation. Osteoporos Int 2016; 27: 367-76 5 www.blv.admin.ch/blv/de/home/das-blv/organisation/kommissionen/eek/vitamin-d-mangel.html 6 Mazess RB et al.: Vitamin D: bolus is bogus - a narrative review. JBMR Plus 2021; 5: e10567 7 Jollife DA et al.: Vitamin D supplementation to prevent acute respiratory infections: a systematic review and meta-analysis of aggregate data from randomised controlled trials. Lancet Diabetes Endocrinol 2021; 9(5): 276-92 8 www.svgo.ch 9 Suhm N et al. : Management of fragility fractures in Switzerland: results of a nationwide survey. Swiss Med Wkly 2008; 138: 674-83 10 Montero-Odasso M et al.: World guidelines for falls prevention and management for older adults: a global initiative. Age Ageing 2022; 51(9): afac205

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