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„Die gute Absicht psychiatrischer Krisen“ – ein ressourcenorientierter Ansatz bei Depression und Burnout in der systemischen Psychotherapie

<p class="article-intro">Gemäß der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählt Stress zu den größten Gesundheitsrisiken des 21. Jahrhunderts. Damit einhergehende psychische Erkrankungen sind mittlerweile die häufigste Ursache der Erwerbsunfähigkeit. Im Rahmen unseres Artikels versuchen wir, der (üblichen) problemorientierten Zugangsweise zur depressiven Krise eine ressourcen- und potenzialorientierte Perspektive zu verleihen – jene der guten Absicht, die Lösungsversuche, die betroffene Klienten im Rahmen ihrer Problemsituation an den Tag legen, positiv beleuchtet.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>Gem&auml;&szlig; der Weltgesundheitsorganisation (WHO) z&auml;hlt Stress zu den gr&ouml;&szlig;ten Gesundheitsrisiken des 21. Jahrhunderts.</li> <li>Damit einhergehende psychische Erkrankungen sind mittlerweile die h&auml;ufigste Ursache der Erwerbsunf&auml;higkeit.</li> <li>Depression und Burnout sind zu allgegenw&auml;rtigen Begriffen unserer Gesellschaft geworden.</li> <li>Im Rahmen des systemischen Therapieansatzes wird auch die gute Absicht &ndash; die L&ouml;sungsversuche, die betroffene Klienten im Rahmen der Problemsituation an den Tag legen &ndash; beleuchtet.</li> <li>Systemische Psychotherapie in diesem Kontext fokussiert auf das Einnehmen verschiedener Perspektiven bzw. Blickwinkel, die Reflexion und Ver&auml;nderung von Wirklichkeitskonstruktion und das Finden von L&ouml;sungen sowie die Etablierung dieser im Alltag der Klienten.</li> </ul> </div> <p>In den Jahren unserer Adoleszenz sind wir zwar nicht zum ersten Mal, aber dennoch vermehrt mit herausfordernden Entwicklungsaufgaben konfrontiert. Gilt es doch, gesellschaftlich betrachtet, in diesen Jahren Identit&auml;t und Selbstwertgef&uuml;hl, Individualit&auml;t und Autonomie zu entwerfen. Vielfach geraten wir dabei in kleinere und gr&ouml;&szlig;ere Krisen bzw. versuchen mittels uns ad&auml;quat erscheinender L&ouml;sungsversuche zu kompensieren sowie Gef&uuml;hle abzuwehren. Dar&uuml;ber hinaus kennzeichnet diese Periode aber auch eine gro&szlig;e Chance, in Selbstbesinnung das Eigene zu entdecken und es anzunehmen. Nicht nur mit den Gro&szlig;artigkeiten, Talenten und Erfolgen, nein, auch mit den Schw&auml;chen, Engp&auml;ssen und Gebrechen werden wir konfrontiert: Wir suchen Wurzeln &ndash; biologische und biografische &ndash;, um das, was wir an M&ouml;glichkeiten in uns f&uuml;hlen, wirksam und stimmig zum Ausdruck zu bringen. Die kritischen Fragen sind: Wer bin ich eigentlich? Wo komme ich her? Wo ist mein Platz? Was ist der Sinn des ganzen Daseins? Die Bedrohung der Sinnhaftigkeit einer m&ouml;glichen existenziellen Einbettung m&uuml;ndet in manchen F&auml;llen in psychiatrischen Krisen bzw. aus unserer Perspektive systemischer Psychotherapeuten in L&ouml;sungsversuchen im Rahmen dieser Kontexte.</p> <h2>Biografisch betrachtet gehen wir von drei Krisen und ihren L&ouml;sungsversuchen aus:</h2> <ol> <li>Die Angst vor dem Erwachsenwerden &ndash; Abwehr durch den psychotischen L&ouml;sungsversuch</li> <li>Die Angst vor dem Aufbruch in das Erwachsenenleben &ndash; Abwehr durch den manischen L&ouml;sungsversuch</li> <li>Die Angst vor dem Erwachsensein &ndash; Abwehr durch den depressiven L&ouml;sungsversuch</li> </ol> <h2>Der depressive L&ouml;sungsversuch</h2> <p>Letztere und im Rahmen dieses Artikels n&auml;her betrachtete Krise und damit einhergehende L&ouml;sungsversuche sind typischerweise im Alter zwischen 25 und 45 Jahren verortet, die mit den zentralen Aufgaben des Erwachsenenlebens einhergehen. Der erste depressive L&ouml;sungsversuch kann aber auch erst sp&auml;ter in der sogenannten &bdquo;R&uuml;ckbildungsphase&ldquo; ab 45 Jahren auftreten. In diesem Lebensabschnitt werden die eigenen Kinder meist selbstst&auml;ndig, Partnerschaften ver&auml;ndern sich oder enden, es mangelt an beruflichen Perspektiven. Kurz gefasst: Das aktuelle Tun geht nicht (mehr) mit den eigenen Werten und Ma&szlig;st&auml;ben einher. Unsere Klienten berichten dann h&auml;ufig von sich &auml;hnelnden Gef&uuml;hlslagen wie: &bdquo;Alles erscheint sinnlos, ich f&uuml;hle mich v&ouml;llig leer, wie ausgebrannt.&ldquo; <br />Auch k&ouml;nnte man an dieser Stelle die Parallele zur &bdquo;Midlife-Crisis&ldquo; heranziehen, in der das Alte ebenfalls nicht mehr zu stimmen scheint und entweder das Neue noch nicht da ist oder die neue Realit&auml;t einfach nicht akzeptiert werden kann. Damit einhergehende Gef&uuml;hle werden dann h&auml;ufig mittels einer Vielzahl an Aktivit&auml;ten wie beispielsweise nicht mehr ganz altersad&auml;quatem Extremsport, Sex oder schnellen Autos hypomanisch abgewehrt. <br />Es gibt das erstmalige Auftreten des depressiven L&ouml;sungsversuches, aber auch dann im fortgeschrittenen Alter &ndash; die sogenannte &bdquo;Altersdepression&ldquo;. In diesem Lebensabschnitt sterben immer mehr von den fr&uuml;heren Gef&auml;hrten, Freunden und Partnern. Die (Lebens-)Aufgaben scheinen alle erledigt, viele k&ouml;rperliche Beschwerden treten auf und nichts scheint mehr so wie fr&uuml;her. Unsere Klienten berichten im Rahmen der gemeinsamen Sitzungen dann immer wieder von &auml;hnlichen Herausforderungen: &bdquo;Ich falle allen nur mehr zur Last, ich kann so vieles nicht mehr machen, ich falle mir selber zur Last, ich bin einsam, sehe keinen Sinn und wei&szlig; nicht, wof&uuml;r ich noch lebe.&ldquo; <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Neuro_1605_Weblinks_seite43.jpg" alt="" width="723" height="863" /></p> <h2>Parallelen zwischen Burnout und Depression</h2> <p>Egal in welchem Lebensabschnitt ein depressiver L&ouml;sungsversuch stattfindet, die Grunddisposition der Burnout-Pers&ouml;nlichkeit und der der depressiven scheinen &auml;hnlich im Au&szlig;en orientiert zu sein. Die Betroffenen stellen sich in beiden F&auml;llen dieselbe zentrale Frage: &bdquo;Wie &ndash; glaube ich &ndash; muss ich sein, um Anerkennung zu bekommen und um geliebt zu werden?&ldquo; Auch die Wege dorthin scheinen nur geringf&uuml;gig unterschiedlich zu sein. <br />Im einen Fall (Burnout) durch einen selbstverleugnenden Leistungsanspruch, dem ich mich unterwerfe. Im anderen Fall (Depression) durch Anpassung oder Unterwerfung unter die Machtverh&auml;ltnisse einer Partnerschaft oder einer selbstverleugnenden beruflichen Situation. In beiden F&auml;llen resultiert daraus eine pers&ouml;nliche &Uuml;berforderung, weil die Situation nicht den inneren Gegebenheiten des Selbst entspricht. <br />Hier zeigt sich aufgrund der Gender-Rollen in unserer Gesellschaft eine statistische Spezifizierung: Burnout h&auml;ufiger bei den &bdquo;aktiven&ldquo; M&auml;nnern, Depression eher bei den &bdquo;passiven&ldquo; Frauen. In beiden F&auml;llen werden Gef&uuml;hle verleugnet und unterdr&uuml;ckt. Gef&uuml;hle, die aber notwendig w&auml;ren zur Handlungsorientierung &ndash; d.h., die wesentlich w&auml;ren, um den eigenen Bed&uuml;rfnissen zu folgen und sie umzusetzen. In beiden F&auml;llen besteht also ein Konflikt zwischen dem Innen und dem Au&szlig;en, den eigenen Ma&szlig;st&auml;ben und den Werten der Umwelt. <br />Im Falle einer Depression bzw. eines Burnouts ist es die Suche des Individuums nach dem eigenen Ma&szlig;stab (der im Inneren der Pers&ouml;nlichkeit befindlichen Werte), mit dem es sich von den Ma&szlig;st&auml;ben, die von au&szlig;en gesetzt werden, abgrenzen muss. Wenn ein &bdquo;Ich&ldquo; sich vor allem nach irgendwelchen &auml;u&szlig;eren Ma&szlig;st&auml;ben ausrichtet, m&uuml;ssen diese sich zwangsl&auml;ufig irgendwann als krank machend erweisen. Die Krise ist daher notwendig bzw. wird an dieser Stelle die gute Absicht der Krise und des im Rahmen der Krise an den Tag gelegten Verhaltens erkennbar. Jeder Krise ist immanent, dass sie f&uuml;r das System vernichtend ausgehen kann. K&ouml;nnen Krisen nicht erfolgreich bearbeitet werden, f&uuml;hren sie zur Zerst&ouml;rung der Integrit&auml;t einer Pers&ouml;nlichkeit bis hin zum Tod. <br />Krisen k&ouml;nnen aber auch gut ausgehen, wenn es gelingt, sie zu bearbeiten. Dann f&uuml;hren sie zu einer Neuorientierung und zur St&auml;rkung des Ich. Daher meinen wir, dass auch Depression und Burnout die Chance der pers&ouml;nlichen Weiterentwicklung er&ouml;ffnen: Die Heldin, der Held muss auf den jeweiligen Stufen ihres/seines Entwicklungsweges unterschiedliche Aufgaben bew&auml;ltigen. Antworten auf die pers&ouml;nlichen Herausforderungen sind aber im Au&szlig;en nicht zu finden. Es geht dabei immer um die Innen- statt um die Au&szlig;enorientierung, damit die n&auml;chste Stufe erreicht werden kann. Im konkreten Fall geht es um die Kehrtwende: statt Liebe und Anerkennung im Au&szlig;en durch Leistung erk&auml;mpfen zu wollen, sie durch Selbstakzeptanz und Selbstliebe in sich zu finden. Ohne den Zusammenbruch im depressiven L&ouml;sungsversuch bzw. im Burnout werden bei den Betroffenen eine solche grundlegende Umkehr der Perspektive und die daraus resultierende pers&ouml;nliche Differenzierung nicht so leicht stattfinden. Vereinfacht dargestellt richten wir daher unseren Fokus im Rahmen unseres systemischen Psychotherapieansatzes auf folgende anzustrebende Grundhaltung: &bdquo;Ich bin gut, so wie ich bin, aber nicht, weil ich etwas leiste.&ldquo; Die moralische Erlaubnis, &bdquo;nichts&ldquo; bzw. &bdquo;weniger&ldquo; zu tun, ist dabei schon die &bdquo;halbe Miete&ldquo;.</p> <h2>Hinter der Fassade &ndash; die gute Absicht der Krise</h2> <p>Eine Krise bedroht immer die Identit&auml;t eines Individuums und stellt den Sinn dessen Lebens infrage. Daher ist die Angst eine H&uuml;terin der Schwelle. Die Fragen, die im Rahmen des Therapieprozesses auftauchen, sind: &bdquo;Bin ich noch jemand, wenn ich nichts mehr leiste, wenn ich nicht dem Selbstbild des ,erfolgreichenʻ Mitarbeiters oder der/dem ,liebendenʻ Ehefrau/Ehemann entspreche? Wer bin ich denn dann? Bin ich dann &uuml;berhaupt noch jemand? Worin liegt der Sinn meines Seins, wenn ich zu nichts (mehr) gut bin?&ldquo; Wobei das &bdquo;F&uuml;r-etwas-gut-Sein&ldquo; immer nach den Ma&szlig;st&auml;ben unserer Entwicklung definiert ist. <br />Die erfolgreiche Bearbeitung einer Krise braucht daher einen neu definierten &bdquo;Sinn&ldquo;. Doch davor lauern m&ouml;glicherweise noch andere &Auml;ngste &ndash; daher fragen wir im Rahmen des Therapieprozesses sehr genau nach der guten Absicht des jeweiligen L&ouml;sungsversuchs (der dann leider selbst wieder zum Problem geworden ist). Es k&ouml;nnte sein, dass diese Anpassung an vermeintliche oder tats&auml;chliche Anspr&uuml;che an das Au&szlig;en Schutz vor eigenen systemsprengenden Gef&uuml;hlen und Bed&uuml;rfnissen bietet, die als &bdquo;anarchistisch&ldquo; bewertet und abgewehrt werden. Oder die hypomanischen Aktivit&auml;ten im Au&szlig;en sch&uuml;tzen vielleicht vor einem pl&ouml;tzlichen Nichtstun &ndash; dem als depressive Leere gef&uuml;rchteten Innenraum &ndash;, sch&uuml;tzen m&ouml;glicherweise vor den Gef&uuml;hlen der als &bdquo;Sinnlosigkeit&ldquo; erlebten Leere des Nichtstuns. Sie sch&uuml;tzen vielleicht vor der &bdquo;langen Weile&ldquo; und vor der Angst, in einem Meer bedrohlicher Gef&uuml;hle zu versinken. <br />Die sogenannte &bdquo;Wochenenddepression&ldquo; nach einer &bdquo;stressigen&ldquo; Arbeitswoche zeigt, wie sehr die &bdquo;&Uuml;berlastungsdepression&ldquo; und das Burnout ineinanderflie&szlig;en. Oftmals treten die Symptome erst in der Entlastung von einer stressigen Situation und in der Entspannung auf, weswegen gleich wiederum viele Freizeitaktivit&auml;ten und Events n&ouml;tig sind. Es kann dann wie eine &bdquo;traumatische&ldquo; Krise aussehen, wenn schlie&szlig;lich irgendein unvorhergesehenes Ereignis den bereits vorhandenen Spannungszustand so erh&ouml;ht, dass es zu einem pl&ouml;tzlichen psychischen Zusammenbruch f&uuml;hrt. Oder es kann eine Krise sein, die &ndash; f&uuml;r alle anderen offensichtlich &ndash; &bdquo;gut vorbereitet&ldquo; wird und sich langsam entwickelt. Die beschriebene Pr&auml;disposition bleibt letztlich die gleiche.</p> <h2>Therapieziele bei Depression und Burnout im systemischen Psychotherapieprozess</h2> <p>Als systemische Psychotherapeuten geht es uns um das Einnehmen verschiedener Perspektiven bzw. Blickwinkel, um die Reflexion und Ver&auml;nderung von Wirklichkeitskonstruktion und das Finden von L&ouml;sungen sowie die Etablierung dieser im Alltag unserer Klienten. Im Rahmen unseres ressourcenorientierten Therapieansatzes stehen folgende drei Therapieziele im Vordergrund:</p> <ul> <li>Kurzfristiges Therapieziel: Identifikation und Reflexion der guten Absicht des individuellen Verhaltens bzw. der L&ouml;sungsversuche der Klienten unter Betrachtung der eigenen Werte, Glaubenss&auml;tze und Wurzeln (Herkunft) sowie die der Systeme, in denen die Betroffenen interagieren. Wie definieren die Klienten Erfolg und Leistung und wie deckt sich das mit den Definitionen und den Bewertungen am Arbeitsplatz und innerhalb der Familie?</li> <li>Mittelfristiges Ziel: Im weiteren Therapieprozess versuchen wir mit den Klienten gemeinsam Hilfe zur Selbsthilfe zu generieren. Mit dem Ziel, dass Betroffene fr&uuml;hzeitig auf erste Anzeichen bzw. negative Ver&auml;nderungen aufmerksam werden und mittels individuell entwickelter Strategien reagieren k&ouml;nnen.</li> <li>Langfristiges Ziel: Am Ende des Therapieprozesses steht eine nachhaltige Ver&auml;nderung von Kommunikations- und Verhaltensmustern, die von Klienten als nicht mehr passend erlebt werden, im Vordergrund. Also eine Neubewertung des Selbstbildes hinsichtlich Erfolg und Leistung, die schrittweise in den Alltag der Klienten integriert wird.</li> </ul></p>
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