
Betroffenheit oder Gefährdung erkennen und Hilfe leisten
Autorin:
Denise Schwegler
Projektverantwortliche Mädchenbeschneidung (FGM/C)
Caritas Schweiz
Luzern
E-Mail: dschwegler@caritas.ch
Die weibliche Genitalbeschneidung (FGM/C) ist infolge der Migration aus praktizierenden Ländern auch in der Schweiz eine Realität. Insbesondere Gesundheitsfachpersonen kommen mit betroffenen oder gefährdeten Mädchen und Frauen in Kontakt. Kinder- und Jugendgynäkolog:innen können sowohl in der Versorgung wie auch in der Prävention eine wichtige Rolle spielen.
Eine globale Problematik, welche auch die Schweiz betrifft
Weltweit sind mehr als 230 Millionen Mädchen und Frauen von weiblicher Genitalbeschneidung («female genital mutilation/cutting», FGM/C) betroffen. Die weibliche Genitalbeschneidung wird vor allem in westlichen, östlichen und nordöstlichen Regionen Afrikas praktiziert, ist aber auch in einigen Ländern des Nahen Ostens und Asiens verbreitet. FGM/C ist also nicht – wie häufig vermutet – ein ausschliesslich afrikanisches Problem, sondern ein globales Phänomen, das in einer tief verankerten Geschlechterungleichheit verschiedenster Gesellschaften wurzelt.
In der Schweiz hat das Thema FGM/C in den letzten Jahren durch die Migration von Menschen aus Ländern mit hohen Beschneidungsraten an Bedeutung gewonnen. Heute leben in der Schweiz schätzungsweise 24600 Frauen und Mädchen, die von einer Genitalbeschneidung betroffen oder bedroht sind. Die meisten von ihnen stammen aus Eritrea, Somalia, Äthiopien, Ägypten, Indonesien, der Elfenbeinküste, Guinea und dem Sudan.
Die rechtliche Situation
Die Schweiz verfügt seit 2012 über einen expliziten Strafartikel, welcher jegliche Form der weiblichen Genitalbeschneidung verbietet. Als Strafe wird eine Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren angedroht. Nach schweizerischem Recht ist auch zu bestrafen, wer die Tat im Ausland begangen hat – unabhängig davon, ob die Praktik am Ort des Geschehens strafbar ist oder ob die beschuldigte Person zum Tatzeitpunkt einen Bezug zur Schweiz hatte. Diese – europaweit einzigartige – Regelung birgt Tücken. Es besteht die Gefahr, dass betroffene Mädchen und Frauen, welche lange vor Einreise in die Schweiz in ihrem Herkunftsland beschnitten wurden, aus Angst vor einem Strafverfahren keine Beratung oder medizinische Hilfe in Anspruch nehmen. Auch der Europarat kritisierte die Schweiz unlängst aufgrund des weiten Anwendungsbereiches von Art. 124 des Strafgesetzbuches.
Prävention: Es braucht mehr als ein Verbot
Um weibliche Genitalbeschneidung effektiv bekämpfen zu können, ist ein strafrechtliches Verbot unabdingbar – repressive Massnahmen allein sind jedoch nicht ausreichend. Das Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz engagiert sich deswegen mit einem breiten Mix an Massnahmen im Bereich Beratung, Prävention und Bildung, um die psychosoziale und medizinische Versorgung von Betroffenen zu gewährleisten und Mädchen zu schützen. Es berät Betroffene und Fachpersonen, baut regionale Anlaufstellen auf und betreibt Präventionsarbeit in den Migrationsgemeinschaften. Dabei arbeitet das Netzwerk eng mit sogenannten Multiplikator:innen zusammen (Abb. 1). Dies sind Frauen und Männer, welche selbst aus den entsprechenden Migrationsgemeinschaften stammen und als Türöffner:innen fungieren: In ihrer Muttersprache führen sie Präventionsveranstaltungen durch und vermitteln zwischen betroffenen Gemeinschaften und Fachstellen. Zudem gilt es, jene Fachpersonen für die Thematik zu sensibilisieren, welche mit betroffenen oder gefährdeten Mädchen und Frauen in Kontakt kommen – dies betrifft insbesondere Fachpersonen aus dem Gesundheitsbereich. Deswegen führt das Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz Fortbildungsveranstaltungen für Fachpersonen aus dem Sozial-, dem Gesundheits- und dem Migrationsbereich durch. Das Netzwerk wird vom Bundesamt für Gesundheit, dem Staatssekretariat für Migration und dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann finanziell unterstützt.
FGM/C als Thematik in der Kinder- und Jugendgynäkologie
Gynäkolog:innen sind in der Schweiz jene Fachpersonen, welche laut einer Studie von UNICEF Schweiz & Liechtenstein am häufigsten in Kontakt mit betroffenen Mädchen und Frauen Kontakt kommen. Dabei können Kinder- und Jugendgynäkolog:innen eine wichtige Rolle hinsichtlich des Schutzes und der Versorgung spielen, sind sie doch zuständig für die Betreuung von gynäkologischen Erkrankungen und Fragestellungen bei kleinen und heranwachsenden Mädchen. Aber wie können eine allfällige Betroffenheit oder eine Gefährdung erkannt werden? Wie gestaltet sich das weitere Vorgehen? Praktische Handlungsanweisungen für den klinischen Arbeitsalltag bieten die «Interdisziplinären Empfehlungen für Gesundheitsfachpersonen zu FGM/C», die im Jahr 2023 erschienen sind.
Hinweise auf eine mögliche Gefährdung oder Betroffenheit
Bei FGM/C geht die Gefährdung von Personen aus dem sozialen Nahbereich des Mädchens aus – doch kann FGM/C als isolierte Gefährdungssituation vorkommen, ohne dass es weitere Anhaltspunkte für Gewalt gibt. Folgende Indikatoren können darauf hinweisen, dass ein Mädchen möglicherweise gefährdet ist:
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Das Mädchen stammt aus einem Land oder einer Gemeinschaft, die FGM/C praktiziert.
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In der Familie mütterlicher- oder väterlicherseits wird FGM/C praktiziert.
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Die Familie äussert eine positive oder bagatellisierende Haltung gegenüber FGM/C.
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Eine Reise ins Herkunftsland oder in ein anderes Land ist geplant.
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Es besteht Druck vonseiten der Familienangehörigen oder der Community, eine FGM/C vorzunehmen; eine spezielle Behandlung wird erwähnt.
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Das Risiko einer Gefährdung des Mädchens ist generell höher, wenn nach der Geburt eine Reinfibulation (Wiederherstellung der Infibulation, also das erneute Vernähen der Vulva bis auf eine kleine Öffnung), gewünscht wird.
Zusätzliche Indikatoren, die darauf hinweisen können, dass eine FGM/C möglicherweise bereits erfolgt ist:
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Mögliche gesundheitliche Folgen bei Kleinkindern: Wunden im Bereich der Vulva, unklare genitale Befunde oder unklare Anatomie, schmerzhafte oder langsame Miktion, Schmerzen beim Wickeln
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Mögliche gesundheitliche Folgen bei älteren Mädchen: häufiger und langer Gang auf die Toilette, Schmerzen während der Menstruation, Probleme beim Gehen, Sitzen oder Stehen, Verweigerung der Teilnahme an sportlichen Aktivitäten aufgrund von Schmerzen (im Vulva-, Genital- oder Beckenbereich)
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Längere Absenzen (ohne ärztliche Bescheinigung)
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Weigerung, einen/eine Pädiater:in oder Gynäkologen/Gynäkologin aufzusuchen
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Veränderung im Verhalten oder in der Befindlichkeit des Mädchens
Handeln – aber wie?
Die Anlaufstellen des Netzwerkes gegen Mädchenbeschneidung Schweiz beraten Fachpersonen, wie in Situationen einer möglichen Gefährdung oder Betroffenheit vorgegangen werden soll. Grundsätzlich ist es für die Beurteilung eines individuellen Risikos notwendig, das Gespräch mit den Eltern zu suchen. Je nach Risikoeinschätzung können unterschiedliche Massnahmen ergriffen werden: Ist das Risiko niedrig, kann eine Sensibilisierung der Eltern ausreichend sein; sollte sich der Verdacht einer Beschneidung erhärten, ist eine Meldung an die Kindesschutzbehörden angezeigt. Nur in unmittelbaren Notfällen soll direkt die Polizei eingeschaltetwerden.
Ist eine FGM/C bereits erfolgt, so steht die psychosoziale und gesundheitliche Versorgung des Mädchens im Vordergrund. Dabei gilt es, die Bedürfnisse der Patientin abzuklären. Nebst der Behandlung verschiedener infektiöser, hämorrhagischer Komplikationen kann etwa eine Defibulation – die chirurgische Öffnung der Infibulationsnarbe – helfen, die infolge einer FGM/C des Typs III versursachten gesundheitlichen Beschwerden zu lindern. Es ist entscheidend, dass die Information und Begleitung des Mädchens auf eine nicht stigmatisierende Weise erfolgen; eine psychologische Begleitung des Mädchens kann hilfreich sein.
Das tabuisierte Thema ansprechen
Gynäkolog:innen können eine Schlüsselrolle spielen, was die Versorgung und den Schutz von betroffenen bzw. gefährdeten Mädchen und Frauen anbelangt. Auch wenn die Ansprache dieser tabuisierten Thematik manchmal schwerfällt – tun Sie es! Sie leisten damit einen Beitrag, den Zugang von Mädchen und Frauen zu Gesundheits- und Hilfsangeboten zu verbessern. Als Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz stehen wir Ihnen gerne beratend zur Seite.
Das Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz
Nationale Anlaufstelle des Netzwerkes gegen Mädchenbeschneidung Schweiz/Caritas Schweiz
Denise Schwegler und Simone Giger
Tel.: 041 419 23 55
E-Mail: beratung@maedchenbeschneidung.ch
Literatur:
● UNICEF (2024): Female Genital Mutilation: A global concern. Aufgerufen am 19.03.2025 unter: https://data.unicef.org/resources/female-genital-mutilation-a-global-concern-2024/ ● Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (Büro BASS) (2023): Weibliche Genitalverstümmelung: Einschätzung der Massnahmen des Netzwerks gegen Mädchenbeschneidung Schweiz, Analyse der Situation in den Kantonen und Verbesserung der Datenlage. Aufgerufen am 19.03.2025 unter: https://www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/nat-gesundheitsstrategien/nat-programm-migration-und-gesundheit/chancengleichheit-in-der-gesundheitsversorgung/massnahmen-gegen-weibliche-genitalverstuemmelung/evaluation-massnahmen-gegen-fgm-2023.pdf.download.pdf/Evaluation%20der%20Massnahmen%20gegen%20FGM%202023.pdf ● GREVIO (2022): Baseline Evalutation Report Switzerland. Aufgerufen am 18.03.2025 unter: https://rm.coe.int/grevio-inf-2022-27-eng-final-draft-report-on-switzerland-publication/1680a8fc73 ● Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz, SGGG gynécologie Suisse et al. (2023): Weibliche Genitalbeschneidung (FGM/C) – Interdisziplinäre Empfehlungen für Gesundheitsfachpersonen. Aufgerufen am 19.03.2025 unter: https://www.maedchenbeschneidung.ch/public/documents/Netzwerk-Dokumente/2023_Empfehlungen_FGMC.pdf ● Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz (2020): Risikomanagement und Interventionsstrategien. Aufgerufen am 10.03.2025 unter: https://www.maedchenbeschneidung.ch/public/documents/2020/2022_Risikomanagement_Kindesschutz_DE.pdf ●WHO (2024): Types of female genital mutilation. Aufgerufen am 24.03.2024 unter: https://www.who.int/teams/sexual-and-reproductive-health-and-research-(srh)/areas-of-work/female-genital-mutilation/types-of-female-genital-mutilation
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