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Stellenwert der Radiojodtherapie in den aktuellen Guidelines
Jatros
Autor:
Assoz.-Prof. Dr. Martha Hoffmann
Radiologie Center Wien<br> Lazarettgasse 25, 1090 Wien<br> <a href="http://www.radiology-center.com" target="_blank">www.radiology-center.com</a><br> E-Mail: mh@radiology-center.at
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14.07.2016
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<p class="article-intro">Die Inzidenz differenzierter Schilddrüsenkarzinome nimmt seit einigen Jahren in Österreich und weltweit deutlich zu, die Mortalität ist (in Österreich) gleichzeitig geringgradig rückläufig. Die aktualisierten Leitlinien der amerikanischen Schilddrüsengesellschaft ATA versuchen diesem Umstand Rechnung zu tragen, um Nutzen und Risiko der therapeutischen Optionen im Gleichgewicht zu halten. Die nuklearmedizinische Gesellschaft in Europa und Österreich (EANM, OGNMB) sieht das Ergebnis v.a. in Bezug auf die Radiojodtherapie teilweise kritisch.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>Die ATA-Leitlinie 2015 hebt die Wichtigkeit der interdisziplinären Entscheidung im Verlauf der Behandlung von Schilddrüsenknoten und Schilddrüsenkrebs hervor, besonders schon vor der Schilddrüsenoperation.</li> <li>Die Empfehlung zur reduzierten Anwendung von Radiojod sowie die fehlende Empfehlung für rhTSH werden von der EANM und der OGNMB nicht uneingeschränkt befürwortet.</li> </ul> </div> <p>Ob es sich hier um eine „echte“ Inzidenzzunahme oder eher um eine Zunahme der Diagnosestellung handelt, wird derzeit intensiv diskutiert. Die Ursachen der steigenden Inzidenz liegen im zunehmenden Einsatz diagnostischer Verfahren (Schilddrüsensonografie, Feinnadelzytologie) sowie in der verbesserten histologischen Aufarbeitung von Schilddrüsenpräparaten nach Thyreoidektomie. Der Einsatz der (subtotalen) Thyreoidektomie bei benignen Schilddrüsenerkrankungen (Immunhyperthyreose, Struma nodosa) hat ebenfalls zu einer vermehrten Erfassung von klinisch stummen Schilddrüsenkarzinomen als Zufallsbefund geführt. Allerdings zählt das Schilddrüsenkarzinom auch in den USA, wo deutlich weniger schilddrüsenchirurgische Eingriffe erfolgen, zu den Karzinomen mit der größten Inzidenzzunahme. Nichtsdestotrotz ist die absolute Häufigkeit in Österreich mit einer Zahl von ca. 900 Fällen/Jahr nach wie vor sehr gering, mit einem großen Anteil an lokal beschränkten, gut differenzierten Karzinomen mit ausgezeichneter Prognose (Abb. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Onko_1603_Weblinks_Seite80.jpg" alt="" width="795" height="406" /></p> <h2>2015 American Thyroid Association Management Guidelines</h2> <p>Im Jänner 2016 erschien nun die vorweg heiß diskutierte Aktualisierung der Leitlinie der American Thyroid Association (ATA), die „2015 American Thyroid Association Management Guidelines for Adult Patients with Thyroid Nodules and Differentiated Thyroid Cancer“.<sup>1</sup> Diese wurden von allen mit der Diagnose und Therapie des Schilddrüsenkarzinoms betrauten Fachgesellschaften und Fachärzten lange erwartet; einerseits, da die Publikation schon seit etwa 2 Jahren angekündigt war, und andererseits, da große Änderungen erhofft wurden. Das Ergebnis sind 133 Seiten mit 101 Empfehlungen, basierend auf 1.078 Referenzpublikationen. Besonders das Kapitel über Radiojodbehandlung nach Thyreoidektomie wurde von den europäischen (EANM) und auch österreichischen Nuklearmedizinern (OGNMB) neugierig herbeigesehnt. Zum einen aufgrund der Ergebnisse zweier randomisierter, multizentrischer Studien, die unterschiedliche Aktivitäten ebenso wie unterschiedliche Stimulationsmethoden bei Patienten mit differenziertem Schilddrüsenkarzinom und niedrigem Rekurrenzrisiko untersuchten.<sup>2, 3</sup> Zu Recht wurden die Ergebnisse dieser Studien in die Leitlinie inkludiert. Zum anderen war die Spannung aufgrund der Tatsache groß, dass kein Nuklearmediziner in der Autorenliste der Leitlinien zu finden ist.<br /> Sehr erfreulich ist die in den neuen Leitlinien dargestellte Differenzierung der erwarteten Wirkung der postoperativen Radiojodtherapie. Erstmals wird je nach postoperativ eingeschätztem Rezidivrisiko des Patienten („very low“, „low“, „intermediate“, „high“) unterschieden, ob Radiojod zum Zweck der Ablation von Restschilddrüsengewebe, zur adjuvanten Therapie (Zerstörung von nicht strukturell nachweisbaren Mikrometastasen/Mikroresiduen) oder zur effektiven Therapie (Zerstörung, Stabilisierung von bekannten Tumorresten bzw. Metastasen) verabreicht wird. Dementsprechend finden sich auch unterschiedliche Aktivitätsempfehlungen.</p> <h2>Personalisierter Therapiepfad</h2> <p>Die interdisziplinäre Entscheidung hat im Verlauf des Schilddrüsenkarzinoms großen Stellenwert erhalten und v.a. soll sie deutlich früher stattfinden. Denn die totale Thyreoidektomie ist keinesfalls mehr die naturgegebene Operationsempfehlung bei zytologisch verifiziertem oder suspiziertem differenzierten Schilddrüsenkarzinom (siehe Interview mit Assoz.-Prof. PD Dr. Reza Asari in Ausgabe 1 der <em>JATROS Hämatologie & Onkologie</em> 2016). Sobald der therapeutische Weg in Richtung Lobektomie geht, ist naturgemäß aber auch die Entscheidung gefallen, auf Radiojod zu verzichten. Dass diese Entscheidung eine interdisziplinäre sein sollte, ist augenscheinlich. Da allerdings in unseren Breiten (Österreich, Deutschland, Schweiz, Italien) nach wie vor die Diagnose Schilddrüsenkrebs oft erst im Verlauf der Operation einer multinodulären Struma gestellt wird, ist die Interdisziplinarität zur Auswahl des operativen Vorgehens oft nicht gegeben. In den erfahrenen Händen eines endokrinologisch spezialisierten Chirurgen kann aber jedenfalls erwartet werden, dass das optimale operative Vorgehen gewählt wird und die Entscheidung über das weitere therapeutische Vorgehen dann interdisziplinär postoperativ getroffen werden kann.<br /> Das Ziel dieser Personalisierung in der Behandlung ist wie bei allen modernen Krebstherapien die Ausgewogenheit zwischen dem Nutzen einer Behandlung und dem Risiko, und zwar einerseits dem Risiko eines Fortschreitens/Wiederauftretens der Erkrankung, andererseits aber auch der Gesundheitsrisiken, die sich aus der Behandlung ergeben könnten.<br /> Bei Patienten mit sehr niedrigem Rezidivrisiko – das sind Patienten mit uni- oder multifokalen, papillären Mikrokarzinomen bzw. Patienten mit minimal invasiv wachsenden follikulären Karzinomen (ohne Gefäßinvasion) – wird deshalb die Lobektomie/Hemi­thyreoidektomie als ausreichend empfohlen, eine Radiojodtherapie wird bei diesen Patienten nicht durchgeführt.<br /> Als Patienten mit niedrigem Rezidivrisiko werden solche mit Tumorgrößen >1cm bis 4cm zusammengefasst, ohne extrathyreoidale Ausdehnung und ohne signifikante Lymphknotenbeteiligung. Für diese wird in der ATA-Leitlinie nun die Empfehlung ausgesprochen, Radiojod nicht routinemäßig anzuwenden.<br /> Dies ist bei genauerer Betrachtung als das Ende des Ablationskonzepts zu sehen. Die Leitlinie bezieht sich mit dieser Empfehlung, auf die Radiojod­ablation zu verzichten, auf Registerbeobachtungen bzw. Kohortenstudien sowie auf die zwei oben erwähnten internationalen, multizentrischen, randomisierten Studien, die zwei unterschiedliche Aktivitäten von Radiojod zur Behandlung von Niedrigrisikopatienten verglichen und keinen signifikanten Unterschied im Ablationserfolg erbrachten. Die Langzeitergebnisse hinsichtlich des echten Ansprechens bzw. der Progression fehlen naturgemäß noch. Folgestudien zum Vergleich – kein Radiojod versus 1,1 bzw. 3,7GBq – laufen überhaupt gerade erst an. Die Zuversicht über das erwartete Ergebnis dieser Studie findet sich also bereits in Empfehlung Nr. 51, die für diese Niedrigrisikopatienten – und dazu zählen auch Patienten mit Tumorgrößen bis 4cm – eine routinemäßige postoperative Radiojodtherapie nicht mehr empfiehlt. Die Evidenz wird mit niedrig angegeben, die Empfehlung als schwach bezeichnet.<br /> Beim Patienten mit mittlerem („intermediate“) Rezidivrisiko ist es dem Fachspezialisten, genauer gesagt wohl dem Tumorboard, überlassen, ob Radiojod verabreicht wird: Hier wird ein „consider“ als Empfehlung ausgegeben. Als Entscheidungsgrundlage dient der postoperative Status, d.h. postoperatives Thyreoglobulin, histopathologische Charakteristika und vieles mehr. Auch hier basiert die „schwache“ Empfehlung auf nur geringer Evidenzlage.<br /> Die Radiojodtherapie bleibt bei Patienten mit hohem Rezidivrisiko wie in der ATA-Leitlinie aus dem Jahr 2009 uneingeschränkt empfohlen.<sup>4</sup> Unverändert im Vergleich zu dieser Leitlinie wird weiterhin keine routinemäßige Dosimetrie zur Bestimmung der zu gebenden Aktivität angeraten.<sup>5</sup></p> <h2>Kritik an Leitlinien</h2> <p>Die europäische nuklearmedizinische Gesellschaft (EANM), deren Leitlinie zur Radiojodtherapie aus dem Jahr 2008 stammt, hat sich entschlossen, den aktualisierten Leitlinien der ATA nicht uneingeschränkt zuzustimmen.<sup>5, 6</sup> Die oben erwähnten Reduzierungen in der Empfehlung zur Durchführung einer Radiojodtherapie bei Patienten mit niedrigem und mittlerem Rezidivrisiko auf der Basis einer nur sehr eingeschränkten Evidenzlage waren Gründe für die Entscheidung, die amerikanischen Leitlinien nicht uneingeschränkt im europäischen Raum – teilweise in historischen Jodmangelgebieten – eins zu eins zu empfehlen.<br /> Ein weiterer Kritikpunkt für die Mitglieder des Thyroid Committee der EANM ist die fehlende Empfehlung zur exogenen TSH-Stimulation. Dass Lebensqualität bei Patienten mit Schilddrüsenkarzinom ein stiefmütterlich behandeltes Thema darstellt, wurde im Rahmen der 32. Jahrestagung der ACO-ASSO 2015 berichtet.<sup>7, 8</sup> Die TSH-Stimulation mit rhTSH hat, so steht es auch in den ATA-Guidelines, in Bezug auf therapieassoziierte Lebensqualität im Vergleich zur endogenen Stimulation, die eine hypothyreote Stoffwechsellage mit vielen unangenehmen Symptomen hervorruft, eindeutig die Nase vorn. Trotzdem wird die Stimulation mit rhTSH lediglich als Alternative zur Hypothyreose in Betracht gezogen.<br /> Die aktualisierte amerikanische Leitlinie ist ausgezeichnet recherchiert, gut strukturiert und wird Fachärzte verschiedenster Disziplinen (Endokrinologen, Schilddrüsenchirurgen, Pathologen, Nuklearmediziner, Hämatoonkologen) bei der Betreuung von Schilddrüsenkarzinompatienten unterstützen. Wie sehr den amerikanischen Empfehlungen auch in Österreich bzw. in Europa gefolgt wird und ob dies im Endeffekt zum Vor- oder Nachteil des Patienten geschieht, wird sich zeigen.</p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Haugen BR et al: 2015 American Thyroid Association Management Guidelines for Adult Patients with Thyroid Nodules and Differentiated Thyroid Cancer. The American Thyroid Association Guidelines Task Force on Thyroid Nodules and Differentiated Thyroid Cancer. Thyroid 2016; 26(1): 1-133<br /><strong>2</strong> Mallick U et al: Ablation with low-dose radioiodine and thyrotropin alfa in thyroid cancer. N Engl J Med 2012; 366: 1674-85<br /><strong>3</strong> Schlumberger M et al: Strategies of radioiodine ablation in patients with low-risk thyroid cancer. N Engl J Med 2012; 366: 1663-73<br /><strong>4</strong> Cooper DS et al: Revised American Thyroid Association management guidelines for patients with thyroid nodules and differentiated thyroid cancer. Thyroid 2009; 19: 1167-214<br /><strong>5</strong> Luster M et al: Guidelines for radioiodine therapy of differentiated thyroid cancer. Eur J Nucl Med Mol Imaging 2008; 35: 1941-59<br /><strong>6</strong> Verburg FA et al: Why the European Association of Nuclear Medicine has declined to endorse the 2015 American Thyroid Association management guidelines for adult patients with thyroid nodules and differentiated thyroid cancer. Eur J Nucl Med Mol Imaging. 2016 Feb [Epub ahead of print]<br /><strong>7</strong> Singer S et al: Quality of life in patients with thyroid cancer compared with the general population. Thyroid 2012; 22(2): 117-124<br /><strong>8</strong> Gamper E: Jatros Hämatologie & Onkologie 1/2016; 170-172</p>
</div>
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