© Getty Images/iStockphoto

Differenziertes Schilddrüsenkarzinom

Stellenwert der Radiojodtherapie in den aktuellen Guidelines

<p class="article-intro">Die Inzidenz differenzierter Schilddrüsenkarzinome nimmt seit einigen Jahren in Österreich und weltweit deutlich zu, die Mortalität ist (in Österreich) gleichzeitig geringgradig rückläufig. Die aktualisierten Leitlinien der amerikanischen Schilddrüsengesellschaft ATA versuchen diesem Umstand Rechnung zu tragen, um Nutzen und Risiko der therapeutischen Optionen im Gleichgewicht zu halten. Die nuklearmedizinische Gesellschaft in Europa und Österreich (EANM, OGNMB) sieht das Ergebnis v.a. in Bezug auf die Radiojodtherapie teilweise kritisch.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>Die ATA-Leitlinie 2015 hebt die Wichtigkeit der interdisziplin&auml;ren Entscheidung im Verlauf der Behandlung von Schilddr&uuml;senknoten und Schilddr&uuml;senkrebs hervor, besonders schon vor der Schilddr&uuml;senoperation.</li> <li>Die Empfehlung zur reduzierten Anwendung von Radiojod sowie die fehlende Empfehlung f&uuml;r rhTSH werden von der EANM und der OGNMB nicht uneingeschr&auml;nkt bef&uuml;rwortet.</li> </ul> </div> <p>Ob es sich hier um eine &bdquo;echte&ldquo; Inzidenzzunahme oder eher um eine Zunahme der Diagnosestellung handelt, wird derzeit intensiv diskutiert. Die Ursachen der steigenden Inzidenz liegen im zunehmenden Einsatz diagnostischer Verfahren (Schilddr&uuml;sensonografie, Feinnadelzytologie) sowie in der verbesserten histologischen Aufarbeitung von Schilddr&uuml;senpr&auml;paraten nach Thyreoidektomie. Der Einsatz der (subtotalen) Thyreoidektomie bei benignen Schilddr&uuml;senerkrankungen (Immunhyperthyreose, Struma nodosa) hat ebenfalls zu einer vermehrten Erfassung von klinisch stummen Schilddr&uuml;senkarzinomen als Zufallsbefund gef&uuml;hrt. Allerdings z&auml;hlt das Schilddr&uuml;senkarzinom auch in den USA, wo deutlich weniger schilddr&uuml;senchirurgische Eingriffe erfolgen, zu den Karzinomen mit der gr&ouml;&szlig;ten Inzidenzzunahme. Nichtsdestotrotz ist die absolute H&auml;ufigkeit in &Ouml;sterreich mit einer Zahl von ca. 900 F&auml;llen/Jahr nach wie vor sehr gering, mit einem gro&szlig;en Anteil an lokal beschr&auml;nkten, gut differenzierten Karzinomen mit ausgezeichneter Prognose (Abb. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Onko_1603_Weblinks_Seite80.jpg" alt="" width="795" height="406" /></p> <h2>2015 American Thyroid Association Management Guidelines</h2> <p>Im J&auml;nner 2016 erschien nun die vorweg hei&szlig; diskutierte Aktualisierung der Leitlinie der American Thyroid Association (ATA), die &bdquo;2015 American Thyroid Association Management Guidelines for Adult Patients with Thyroid Nodules and Differentiated Thyroid Cancer&ldquo;.<sup>1</sup> Diese wurden von allen mit der Diagnose und Therapie des Schilddr&uuml;senkarzinoms betrauten Fachgesellschaften und Fach&auml;rzten lange erwartet; einerseits, da die Publikation schon seit etwa 2 Jahren angek&uuml;ndigt war, und andererseits, da gro&szlig;e &Auml;nderungen erhofft wurden. Das Ergebnis sind 133 Seiten mit 101 Empfehlungen, basierend auf 1.078 Referenzpublikationen. Besonders das Kapitel &uuml;ber Radiojodbehandlung nach Thyreoidektomie wurde von den europ&auml;ischen (EANM) und auch &ouml;sterreichischen Nuklearmedizinern (OGNMB) neugierig herbeigesehnt. Zum einen aufgrund der Ergebnisse zweier randomisierter, multizentrischer Studien, die unterschiedliche Aktivit&auml;ten ebenso wie unterschiedliche Stimulationsmethoden bei Patienten mit differenziertem Schilddr&uuml;senkarzinom und niedrigem Rekurrenzrisiko untersuchten.<sup>2, 3</sup> Zu Recht wurden die Ergebnisse dieser Studien in die Leitlinie inkludiert. Zum anderen war die Spannung aufgrund der Tatsache gro&szlig;, dass kein Nuklearmediziner in der Autorenliste der Leitlinien zu finden ist.<br /> Sehr erfreulich ist die in den neuen Leitlinien dargestellte Differenzierung der erwarteten Wirkung der postoperativen Radiojodtherapie. Erstmals wird je nach postoperativ eingesch&auml;tztem Rezidivrisiko des Patienten (&bdquo;very low&ldquo;, &bdquo;low&ldquo;, &bdquo;intermediate&ldquo;, &bdquo;high&ldquo;) unterschieden, ob Radiojod zum Zweck der Ablation von Restschilddr&uuml;sengewebe, zur adjuvanten Therapie (Zerst&ouml;rung von nicht strukturell nachweisbaren Mikrometastasen/Mikroresiduen) oder zur effektiven Therapie (Zerst&ouml;rung, Stabilisierung von bekannten Tumorresten bzw. Metastasen) verabreicht wird. Dementsprechend finden sich auch unterschiedliche Aktivit&auml;tsempfehlungen.</p> <h2>Personalisierter Therapiepfad</h2> <p>Die interdisziplin&auml;re Entscheidung hat im Verlauf des Schilddr&uuml;senkarzinoms gro&szlig;en Stellenwert erhalten und v.a. soll sie deutlich fr&uuml;her stattfinden. Denn die totale Thyreoidektomie ist keinesfalls mehr die naturgegebene Operationsempfehlung bei zytologisch verifiziertem oder suspiziertem differenzierten Schilddr&uuml;senkarzinom (siehe Interview mit Assoz.-Prof. PD Dr. Reza Asari in Ausgabe 1 der <em>JATROS H&auml;matologie &amp; Onkologie</em> 2016). Sobald der therapeutische Weg in Richtung Lobektomie geht, ist naturgem&auml;&szlig; aber auch die Entscheidung gefallen, auf Radiojod zu verzichten. Dass diese Entscheidung eine interdisziplin&auml;re sein sollte, ist augenscheinlich. Da allerdings in unseren Breiten (&Ouml;sterreich, Deutschland, Schweiz, Italien) nach wie vor die Diagnose Schilddr&uuml;senkrebs oft erst im Verlauf der Operation einer multinodul&auml;ren Struma gestellt wird, ist die Interdisziplinarit&auml;t zur Auswahl des operativen Vorgehens oft nicht gegeben. In den erfahrenen H&auml;nden eines endokrinologisch spezialisierten Chirurgen kann aber jedenfalls erwartet werden, dass das optimale operative Vorgehen gew&auml;hlt wird und die Entscheidung &uuml;ber das weitere therapeutische Vorgehen dann interdisziplin&auml;r postoperativ getroffen werden kann.<br /> Das Ziel dieser Personalisierung in der Behandlung ist wie bei allen modernen Krebstherapien die Ausgewogenheit zwischen dem Nutzen einer Behandlung und dem Risiko, und zwar einerseits dem Risiko eines Fortschreitens/Wiederauftretens der Erkrankung, andererseits aber auch der Gesundheitsrisiken, die sich aus der Behandlung ergeben k&ouml;nnten.<br /> Bei Patienten mit sehr niedrigem Rezidivrisiko &ndash; das sind Patienten mit uni- oder multifokalen, papill&auml;ren Mikrokarzinomen bzw. Patienten mit minimal invasiv wachsenden follikul&auml;ren Karzinomen (ohne Gef&auml;&szlig;invasion) &ndash; wird deshalb die Lobektomie/Hemi&shy;thyreoidektomie als ausreichend empfohlen, eine Radiojodtherapie wird bei diesen Patienten nicht durchgef&uuml;hrt.<br /> Als Patienten mit niedrigem Rezidivrisiko werden solche mit Tumorgr&ouml;&szlig;en &gt;1cm bis 4cm zusammengefasst, ohne extrathyreoidale Ausdehnung und ohne signifikante Lymphknotenbeteiligung. F&uuml;r diese wird in der ATA-Leitlinie nun die Empfehlung ausgesprochen, Radiojod nicht routinem&auml;&szlig;ig anzuwenden.<br /> Dies ist bei genauerer Betrachtung als das Ende des Ablationskonzepts zu sehen. Die Leitlinie bezieht sich mit dieser Empfehlung, auf die Radiojod&shy;ablation zu verzichten, auf Registerbeobachtungen bzw. Kohortenstudien sowie auf die zwei oben erw&auml;hnten internationalen, multizentrischen, randomisierten Studien, die zwei unterschiedliche Aktivit&auml;ten von Radiojod zur Behandlung von Niedrigrisikopatienten verglichen und keinen signifikanten Unterschied im Ablationserfolg erbrachten. Die Langzeitergebnisse hinsichtlich des echten Ansprechens bzw. der Progression fehlen naturgem&auml;&szlig; noch. Folgestudien zum Vergleich &ndash; kein Radiojod versus 1,1 bzw. 3,7GBq &ndash; laufen &uuml;berhaupt gerade erst an. Die Zuversicht &uuml;ber das erwartete Ergebnis dieser Studie findet sich also bereits in Empfehlung Nr. 51, die f&uuml;r diese Niedrigrisikopatienten &ndash; und dazu z&auml;hlen auch Patienten mit Tumorgr&ouml;&szlig;en bis 4cm &ndash; eine routinem&auml;&szlig;ige postoperative Radiojodtherapie nicht mehr empfiehlt. Die Evidenz wird mit niedrig angegeben, die Empfehlung als schwach bezeichnet.<br /> Beim Patienten mit mittlerem (&bdquo;intermediate&ldquo;) Rezidivrisiko ist es dem Fachspezialisten, genauer gesagt wohl dem Tumorboard, &uuml;berlassen, ob Radiojod verabreicht wird: Hier wird ein &bdquo;consider&ldquo; als Empfehlung ausgegeben. Als Entscheidungsgrundlage dient der postoperative Status, d.h. postoperatives Thyreoglobulin, histopathologische Charakteristika und vieles mehr. Auch hier basiert die &bdquo;schwache&ldquo; Empfehlung auf nur geringer Evidenzlage.<br /> Die Radiojodtherapie bleibt bei Patienten mit hohem Rezidivrisiko wie in der ATA-Leitlinie aus dem Jahr 2009 uneingeschr&auml;nkt empfohlen.<sup>4</sup> Unver&auml;ndert im Vergleich zu dieser Leitlinie wird weiterhin keine routinem&auml;&szlig;ige Dosimetrie zur Bestimmung der zu gebenden Aktivit&auml;t angeraten.<sup>5</sup></p> <h2>Kritik an Leitlinien</h2> <p>Die europ&auml;ische nuklearmedizinische Gesellschaft (EANM), deren Leitlinie zur Radiojodtherapie aus dem Jahr 2008 stammt, hat sich entschlossen, den aktualisierten Leitlinien der ATA nicht uneingeschr&auml;nkt zuzustimmen.<sup>5,&nbsp;6</sup> Die oben erw&auml;hnten Reduzierungen in der Empfehlung zur Durchf&uuml;hrung einer Radiojodtherapie bei Patienten mit niedrigem und mittlerem Rezidivrisiko auf der Basis einer nur sehr eingeschr&auml;nkten Evidenzlage waren Gr&uuml;nde f&uuml;r die Entscheidung, die amerikanischen Leitlinien nicht uneingeschr&auml;nkt im europ&auml;ischen Raum &ndash; teilweise in historischen Jodmangelgebieten &ndash; eins zu eins zu empfehlen.<br /> Ein weiterer Kritikpunkt f&uuml;r die Mitglieder des Thyroid Committee der EANM ist die fehlende Empfehlung zur exogenen TSH-Stimulation. Dass Lebensqualit&auml;t bei Patienten mit Schilddr&uuml;senkarzinom ein stiefm&uuml;tterlich behandeltes Thema darstellt, wurde im Rahmen der 32. Jahrestagung der ACO-ASSO 2015 berichtet.<sup>7,&nbsp;8</sup> Die TSH-Stimulation mit rhTSH hat, so steht es auch in den ATA-Guidelines, in Bezug auf therapieassoziierte Lebensqualit&auml;t im Vergleich zur endogenen Stimulation, die eine hypothyreote Stoffwechsellage mit vielen unangenehmen Symptomen hervorruft, eindeutig die Nase vorn. Trotzdem wird die Stimulation mit rhTSH lediglich als Alternative zur Hypothyreose in Betracht gezogen.<br /> Die aktualisierte amerikanische Leitlinie ist ausgezeichnet recherchiert, gut strukturiert und wird Fach&auml;rzte verschiedenster Disziplinen (Endokrinologen, Schilddr&uuml;senchirurgen, Pathologen, Nuklearmediziner, H&auml;matoonkologen) bei der Betreuung von Schilddr&uuml;senkarzinompatienten unterst&uuml;tzen. Wie sehr den amerikanischen Empfehlungen auch in &Ouml;sterreich bzw. in Europa gefolgt wird und ob dies im Endeffekt zum Vor- oder Nachteil des Patienten geschieht, wird sich zeigen.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Haugen BR et al: 2015 American Thyroid Association Management Guidelines for Adult Patients with Thyroid Nodules and Differentiated Thyroid Cancer. The American Thyroid Association Guidelines Task Force on Thyroid Nodules and Differentiated Thyroid Cancer. Thyroid 2016; 26(1): 1-133<br /><strong>2</strong> Mallick U et al: Ablation with low-dose radioiodine and thyrotropin alfa in thyroid cancer. N Engl J Med 2012; 366: 1674-85<br /><strong>3</strong> Schlumberger M et al: Strategies of radioiodine ablation in patients with low-risk thyroid cancer. N Engl J Med 2012; 366: 1663-73<br /><strong>4</strong> Cooper DS et al: Revised American Thyroid Association management guidelines for patients with thyroid nodules and differentiated thyroid cancer. Thyroid 2009; 19: 1167-214<br /><strong>5</strong> Luster M et al: Guidelines for radioiodine therapy of differentiated thyroid cancer. Eur J Nucl Med Mol Imaging 2008; 35: 1941-59<br /><strong>6</strong> Verburg FA et al: Why the European Association of Nuclear Medicine has declined to endorse the 2015 American Thyroid Association management guidelines for adult patients with thyroid nodules and differentiated thyroid cancer. Eur J Nucl Med Mol Imaging. 2016 Feb [Epub ahead of print]<br /><strong>7</strong> Singer S et al: Quality of life in patients with thyroid cancer compared with the general population. Thyroid 2012; 22(2): 117-124<br /><strong>8</strong> Gamper E: Jatros H&auml;matologie &amp; Onkologie 1/2016; 170-172</p> </div> </p>
Back to top