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Onko-­Sexologie

Sexologie für Krebspatienten

Trotz teilweise weitreichender Folgeprobleme blieb bislang die Sexualität von Krebspatienten wenig versorgt. Die Akzeptanz entsprechender Angebote ist erstaunlich hoch, wenn diese seitens der onkologischen Bezugspersonen empfohlen werden. Eine kompetente Versorgung der Sexualität von Krebsbetroffenen sollte innerhalb der onkologischen Routine zukünftig zum Standard werden.

Keypoints

  • Die Sexualität ist derzeit in der Schweiz bei onkologischen Patienten wenig versorgt.
  • Onko-sexologische Interventionen sind wirksam und werden von vielen Patienten angenommen.
  • Es bestehen Modelle, die ein kompetentes Ansprechen und Weiterversorgen dieses Lebensbereichs für onkologische Fachpersonen leiten können.
  • Patientengerechtes onko-sexologisches Fachwissen ist in verschiedenen Medien zugänglich und qualifizierte Fachpersonen sind in regional unterschiedlicher Dichte verfügbar.
  • Eine kompetente Versorgung der Sexualität bei Krebsbetroffenen innerhalb onkologischer Routine sollte zukünftig zum Standard werden.

Sexualität – mehr als «nice to have»

Eine Verminderung der Lebensqualität durch sexuelle Probleme nach Krebs ist bei Männern und Frauen unbestritten.1, 2 In einer Erhebung der Krebsliga Schweiz nannten 17 % der Patienten und 16 % der Partner ein Bedürfnis «nach Hilfe, um mit Veränderungen in ihrer Sexualität umzugehen », fühlten sich seitens ihrer Behandler jedoch weitgehend unversorgt.3 Die Unterlassung einer Versorgung bei vorhandenem Bedarf kann mit verminderter Lebensqualität,2, 4 Reue bezüglich des Behandlungsentscheids,5, 6 verstärkten psychischen Folgeproblemen und Beziehungsproblemen2, 4 verbunden sein. Nicht für jeden Patienten ist die Behebung einer sexualrelevanten Einschränkung wichtig. Entscheidend für einen Unterstützungsbedarf ist darum nicht die objektive Dysfunktion, sondern der durch die Sexualstörung entstehende subjektive Leidensdruck.

Kommunikationshürden zum Thema Sexualität

Schwierigkeiten im Bereich Sexualität werden kaum von den Patienten selbst angesprochen. Jeder zweite bis dritte Patient erwartet ein aktives Ansprechen des Themas durch den Arzt.6 Unüberprüfte A nnahmen bezüglich Alter, Geschlecht, Diagnose, Kultur oder Beziehungsstatus waren die Gründe für den Verzicht auf ein Ansprechen durch die Behandler in einer australischen Studie.7 Weitere Hindernisse, das Thema Sexualität in der Onkologie anzusprechen, sind:1, 3, 8

  • Eigene Unsicherheiten im Umgang mit dem Thema Sexualität
  • Mangel an Zeit und an geschützter Rahmung (Gespräche im Beisein anderer Patienten in Chemotherapieräumen oder bei stationären Aufenthalten)
  • Annahme, das Thema sollte seitens einer anderen involvierten Disziplin oder Person angesprochen werden
  • Ein Bedarf, für den ohnehin kein Angebot besteht (Mangel an qualifizierten Fachpersonen) oder für den es keine Therapien gibt (Mangel an Behandlungsoptionen), braucht nicht angesprochen zu werden.

Auswirkungen von Erkrankung oder Behandlung auf die Sexualität

Für zahlreiche Patientengruppen bestehen inzwischen Daten zu den Auswirkungen von Erkrankung oder Behandlung auf die Sexualfunktion.9, 10 Die Häufigkeit von sexuellen Beeinträchtigungen reicht von 20 % bis nahezu 100 % , je nach Patientenkollektiv, Krankheitsdiagnose und Art der Behandlung. Tabelle 1 gibt eine Übersicht über die verbreitetsten somatischen sexuellen Probleme.
Selten kommt auch gesteigertes sexuelles Verlangen vor, z.B. vor dem Hintergrund einer Enthemmung bei Tumoren des ZNS oder angesichts einer Verschiebung von Prioritäten oder Verabschiedung von moralischen Hemmfaktoren in Zusammenhang mit der Karzinomdiagnose. Ausführlichere Übersichten zu möglichen Folgeproblemen finden sich in Mamié11 sowie in Reismann & Gianotten.12

Psychosoziale Aspekte

Sexualstörungen entstehen in der Regel nicht durch eine einzige, isolierte Ursache, sondern sind ein komplexes biopsychosoziales Zusammenspiel.

Körperbild, Selbstwert, Identität
Die Selbstdefinition der eigenen Attraktivität beeinflusst, ob sich eine Person dem Partner sexuell zeigt/zumutet. Hier sind üblicherweise Männer empfindlicher auf Veränderungen ihrer Funktionsfähigkeit: Ist diese beschädigt oder nicht mehr in gewohnter Weise verfügbar, führt dies zu Verunsicherung, Selbstwert- und Identitätskrisen und in der Folge nicht selten zu Rückzug und depressiver Entwicklung. Bei Frauen zeigen sich entsprechende Prozesse, wenn sie sich selbst als nicht mehr attraktiv einschätzen. Körperbildveränderungen können hier ebenfalls zu Verunsicherung, Selbstwert- und Identitätskrisen führen.

Auswirkung auf PartnerInnen
Die Belastungswerte von Partnern und besonders von Partnerinnen von Krebspatienten13 sind vergleichbar mit jenen der Patienten. Auch bei ihnen sind Angst und Depressionswerte erhöht; beides geht mit einer Abnahme der Libido einher.

Coping
Die Neuerschliessung der Sexualität nach einer Krebserkrankung ist in den meisten Fällen mit verändertem Erleben, veränderter Funktionsfähigkeit, Gefühlen von Trauer, Vulnerabilität, Verunsicherung und Versagensangst verbunden. Eine verbreitete Strategie im Umgang damit ist Vermeidung, was jedoch zur Aufrechterhaltung der Symptomatik beiträgt. Im klinischen Alltag besteht darum eine Sexualberatung/-therapie zu Beginn oft darin, den Betroffenen die Konsequenzen des vermeidenden Verhaltens sichtbar zu machen und gemeinsam abzuwägen, ob eine Konfrontation mit dem unliebsamen Erleben sich im Dienste einer Neuerschliessung der Sexualität lohnen könnte.

Eine erfolgreiche sexualmedizinischtherapeutische Behandlung basiert auf einer Erfassung der Gesamtsituation und der relevanten Wirkfaktoren und leitet daraus ein massgeschneidertes Therapiekonzept ab.

Sexuelle Probleme nach Krebs – somatisch-funktionelle Lösungsansätze

Es besteht eine Vielzahl von Möglichkeiten, eine eingeschränkte Sexualfunktion auf somatisch-funktioneller Ebene zu kompensieren.14, 15 Nicht selten greifen diese zu kurz, indem sie nicht ausreichend wirksam sind oder von den Betroffenen nicht angenommen werden.16, 17 Bei medizinisch- funktionellen Lösungsansätzen sollte darum die psychosoziale Dimension umfassend mitversorgt werden.

Lösungsansätze psychosozial/spirituell

Bei vielen sexuellen Problemen in der Onkologie spielen auch psychologische und soziale Faktoren eine wesentliche Rolle. Mit den vorhandenen Hilfsmitteln ist eine Einschränkung oft nicht vollumfänglich kompensierbar. Es braucht darum die Bereitschaft, sich der Veränderung für sich selbst und gemeinsam mit dem Partner zu stellen. Das eigene Leiden an der Situation anzuerkennen und fachliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen, ist der erste Schritt einer erfolgreichen Bewältigung. Strategien der Vermeidung aufzuweichen, sich mit einem veränderten Körper auseinanderzusetzen und ihn wieder mit positiven Erlebnissen zu besetzen, kann als wichtiger Prozess auf dem Weg der Rehabilitation mit einem Durchleben unterschiedlichster Gefühle wie Trauer, Schmerz, Scham, Angst, Verunsicherung oder Kränkung einhergehen. Eine qualifizierte psychotherapeutische Begleitung, in welcher die Gefühle anerkannt, vom Therapeuten mitausgehalten, dosiert und immer wieder in Verbindung zu Ressourcen, zu den Stärken und dem Potenzial der Betroffenen gebracht werden, ist darum hoch indiziert. Auch in Paarsettings ist das Durchleben verschiedenster Gefühle ein wichtiger Prozess für die gemeinsame Verarbeitung. Mit einer Neuentdeckung der Sexualität nach Krebs ist aber meist auch eine Adaption verbunden.18 Wie möchten wir unsere Sexualität neu gestalten und welche Hilfsmittel passen dabei? Eine wichtige Kraft für Progression ist häufig die Neugier; kann diese geweckt werden, verlieren die vermeidenden, die ausweichenden Kräfte an Boden. Eine vertiefte Beschreibung der unterschiedlichen therapeutischen Ansätze mit Bezugnahme auf deren Relevanz im onkologischen Kontext findet sich in Mamié, 2017.19
Bei Männern führte bereits eine psychoedukative Unterstützung zur Weiterführung des partnerschaftlichen Körperkontaktes und Zärtlichkeitsaustausches bei eingeschränkter erektiler Funktionsfähigkeit zu einer höheren sexuellen Zufriedenheit.18 Frauen konnten im Rahmen einer psychosozialen Unterstützung leichter über ihr Erleben, ihre Gefühle, ihre Befürchtungen und Unsicherheiten mit ihren Männern sprechen und damit vermehrt Verständnis und Intimität als wichtige Voraussetzung für Zufriedenheit in der Beziehung und sexuelles Interesse herstellen.20

Wann ist das Ansprechen des Themas sinnvoll?

Es besteht ein Mangel an Evidenz zur abschliessenden Beantwortung dieser Frage – darum muss die Antwort individuell beim Patienten erfragt werden. In den amerikanischen Guidelines wird eine regelmässige Befragung zur Sexualfunktion vor, während und nach einer onkologischen Therapie und bei Bedarf eine adäquate Versorgung entsprechender Symptome bzw. eine Zuweisung zu onko-sexologischen und ggf. gynäkologischen oder urologischen Fachpersonen empfohlen. Eine gleichzeitige Versorgung der psychosozialen und der somatischen Dimension verspricht den grössten Erfolg.21 In einer französischen Studie22 äusserten 51 % der Befragten die Bereitschaft, eine onko-sexologische Fachperson zu konsultieren, falls ihnen dies seitens ihres versorgenden Facharztes empfohlen würde.
Für onkologische Fachpersonen ist aber auch wichtig, zu wissen, dass nicht alle von sexuellen Problemen Betroffenen an der vorhandenen Symptomatik leiden und eine Veränderung bzw. eine Behandlung der Situation wünschen. Vor dem Hintergrund eines «Informed-consent-Anspruchs » ist es angemessen, einen Entscheid über den Umgang mit einer sexuellen Funktionseinschränkung und den entsprechenden Folgen in Kommunikation und Kooperation mit dem Patienten zu treffen.

Wie kann das Thema angesprochen werden?

Für ein Ansprechen des Themas Sexualität kann das im Folgenden vorgestellte vierstufige PLISSIT-Modell23 als Orientierungshilfe dienen. Eine Zuweisung zu einer onko-sexologischen Fachperson kann je nach Fragestellung bereits ab der zweiten Stufe erfolgen.

Permission
Der erste Schritt ist, die Erlaubnis zu signalisieren, über Sexualität zu sprechen. Das kann mit einer offenen Frage geschehen: Wie geht es Ihnen in Bezug auf die Sexualität seit der Erkrankung/Behandlung?

Limited Information
In dieser zweiten Stufe sexualmedizinischer Versorgung werden Informationen zu physiologischen Aspekten der individuellen Situation mitgeteilt.

Specific Suggestions
In der dritten Stufe werden konkrete Empfehlungen oder Vorschläge zum Umgang mit dem vom Patienten geschilderten Problem eingebracht.

Intensive Therapy
In der vierten Stufe wird eingebracht, dass das vorhandene Problem mit dem Fachwissen der eigenen Disziplin oder im zur Verfügung stehenden Rahmen nicht ausreichend behandelt werden kann, es aber entsprechende Fachpersonen gibt. Die Unterstützung besteht dann in der Triagierung durch Verweis auf weiterführende Informationsquellen und/oder Weitergabe entsprechender Kontaktadressen.

Onko-sexologische Angebote

Inzwischen besteht eine Evidenz24 für den Nutzen onko-sexologischer Interventionen auf die Sexualfunktion, die Beziehungsqualität und die Lebensqualität. Schweizweit sind sexualmedizinisch/ -therapeutisch ausgebildete Fachpersonen vorhanden, jedoch nicht immer flächendeckend verfügbar. In den meisten Fällen wird sich eine Intervention auf einige Sitzungen beschränken; ein Anreiseweg sollte darum für die Patienten kein unüberwindbares Hindernis darstellen. Als jüngste Initiative bietet die Krebsliga Schweiz ab März 2019 im Rahmen des Krebstelefons eine gesonderte Mailsprechstunde zum Thema Sexualität nach Krebs an. Die Broschüren der Krebsliga Schweiz (Männliche Sexualität 2016; Weibliche Sexualität 2015) sind in den aktuellen Versionen empfehlenswert. Sie behandeln umfassend und für Betroffene verständlich die Auswirkungen unterschiedlicher Therapien auf die Sexualität; psychologische und beziehungsdynamische Aspekte werden jedoch eher oberflächlich abgebildet.

Ausblick

Der Einbezug psychoonkologischer Psychotherapeuten in der Onkologie ist inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden. Die Versorgung der Sexualität sollte ebenfalls zu einem selbstverständlichen Angebot einer umfassenden onkologischen Behandlung werden. Eine integrierte Versorgung der Zukunft bietet anerkannt sexualtherapeutisch ausgebildete Fachpersonen im Rahmen eines psychoonkologisch- psychotherapeutischen Angebots innerhalb der Onkologie oder im Rahmen eines Versorgernetzwerks mit niedrigschwelliger Möglichkeit für interdisziplinären Informationsaustausch an. Gleichzeitig kann durch die sexualtherapeutische Fachperson eine fächerübergreifende Versorgung anderer prominent mit Sexualität assoziierter Kliniken wie der Gynäkologie und der Urologie geleistet werden.

1 Denlinger C et al.: Survivorship: Sexual dysfunction (Female), Version 1.2013. J Nat Compr Canc Netw 2014; 12(2): 184-192 2 Denlinger C et al.: Survivorship: Sexual dysfunction (Male), Version 1.2013. J Nat Compr Canc Netw 2014; 12(3): 356-363 3 Navarra S et al.: Psychosoziale Onkologie in der Schweiz. Krebsliga Schweiz 2005 4 Penson D et al.: The effect of erectile dysfunction on quality of life following treatment for localized prostate cancer. Rev Urol 2001; 3: 113-119 5 Guilts C et al.: Treatment regret and quality of life following radical prostatectomy. Support Care Cancer 2013; 12: 21(12) 6 Buddeberg C et al.: Management eines Tabus. Expect Studie: Therapie der erektilen Dysfunktion aus der Sicht von Ärzten und Patienten. ARS Medici 2007; 14: 689-693 7 Hordern A und Street A: Communicating about patient sexuality and intimacy after cancer: mismatched expectations and unmet needs. Med J Aust 2007; 186: 224-227 8 Hautamäki-Lamminen K et al.: Identifying cancer patients with greater need for information about sexual issues. Eur J Oncol Nurs 2013; 17: 9-15 9 Bober S und Sachez Varela V: Sexuality in adult cancer survivors: challenges and Intervention. J Clin Oncol 2012; 30: 3712-3719 10 Ntekim A: Sexual dysfunction among cancer survivors. In: Goshtasebi A (Hrsg.): Sexual dysfunctions – special issues. InTechOpen 2011 11 Mamié S: Onko-Sexologie. Schweizer Krebsbulletin 2017; 02: 160-162 12 Reisman Y, Gianotten W (Hrsg.) (2017). Cancer, intimacy and sexuality. Springer 2017 13 Künzler A et al.: Who cares, who bears, who benefits? Female spouses vicariously carry the burden after cancer diagnosis. Psychol Health 2011; 26: 337-352 14 Ahrendt HJ und Friedrich C: Sexualmedizin in der Gynäkologie. Heidelberg: Springer 2015 15 Michel MS et al.: Die Urologie, Band 1 und 2. Heidelberg: Springer 2016 16 Corona G et al.: First-generation phosphodiesterase type 5 inhibitors dropout: a comprehensive review and meta-analysis. Andrology 2016; 4: 1002-1009 17 Capogrosso P et al.: Postprostatectomy erectile dysfunction: a review. World J Mens Health 2016; 34(2): 73-88 18 Barsky Reese J: Coping with sexual concerns after cancer. Curr Opin Oncol 2011; 23: 313-21 19 Mamié S: Onko- Sexologie 2; Behandlungsoptionen bei sexuellen Folgeproblemen nach Krebs. Schweizer Krebsbulletin 2017; 03: 256-9 20 Heinrichs N et al.: Bewältigung einer gynäkologischen Krebserkrankung in der Partnerschaft: ein psychoonkologisches Behandlungsprogramm für Paare. Göttingen: Hogrefe 2007 21 Schover LR et al.: A randomized trial of internet-based versus traditional sexual counseling for couples after localized prostate cancer treatment. Cancer 2012; 118: 500-9 22 Almont T et al.: Sexual quality of life and needs for sexology care of cancer patients admitted for radiotherapy: a 3-month cross-sectional study in a regional comprehensive reference cancer center. J Sex Med 2017; 14: 566-576 23 Annon JS: PLISSIT-Modell. In: Corsini RJ (Hrsg.): Handbuch der Psychotherapie. Weinheim: Beltz 1983 24 Brotto LA et al.: Psychological interventions for the sexual sequelae of cancer: a review of the literature. J Cancer Surviv 2010; 4: 346-60

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