
«Kann man gleichzeitig glücklich und depressiv sein?»
Unsere Gesprächspartnerin:
Ursula Ganz-Blättler
Film- und Fernsehwissenschaftlerin
E-Mail: ganz-blaettler@swissonline.ch
Das Interview führte Ingeborg Morawetz, MA
Ursula Ganz-Blättler ist Film- und Fernsehwissenschaftlerin. Ihre Brustkrebserkrankung und die Nach- und Nebenwirkungen der onkologischen Therapie brachten sie zum SAKK-Patientenrat. In der «Patient Advocacy» kommt ihr nicht nur die eigene Erkrankung zugute, sondern auch geisteswissenschaftliche und soziologische Perspektiven.
Seit Januar 2016 sind Sie Patientenrätin bei der SAKK – was ist Ihre Vorgeschichte?
U. Ganz-Blättler: 2008 wurde bei mir ein «stinknormaler» Brustkrebs diagnostiziert. Persönlich war ich damals aber in einer ziemlich schwierigen Situation. Nach einem Leben als Filmjournalistin bin ich sehr spät noch einmal an die Universität zurückgegangen. Mich hat das horizontale Erzählen in Serien interessiert. Forschung dazu habe ich an die Uni gebracht und mit grosser Begeisterung vertreten und dazu eine Stelle als Dozentin entwickelt. Aus der wurde ich später verdrängt – und genau in dieser Situation bekam ich Brustkrebs. Mit Anfang 50 war auf einen Schlag alles kaputt. Das habe ich so empfunden, obwohl ich ein kämpferischer Mensch bin.
Der Brustkrebs selbst war unkompliziert. Nach der überstandenen Krebserkrankung wollte ich weiterarbeiten und ging wieder an die Uni, nach Norddeutschland. Aber dann bin ich in eine Depression geraten. Ich musste in die Schweiz zurück, habe für mehrere Jahre bei meiner alternden Mutter gelebt und mich schliesslich in die Psychiatrie einweisen lassen.
Dort konnte ich mich nach allem, was passiert war, langsam wieder aufbauen. Dann wurde bei mir die Diagnose «CrF», krebsbedingte Fatigue, gestellt.1 Aber auch diese Krise hat mich stärker gemacht. Heute bin ich sehr gelassen und glücklich.
Hatten Sie in den schwierigen Zeiten ausreichend Unterstützung?
U. Ganz-Blättler: Damals hatte ich das Gefühl, dass ich mit allem ein bisschen im Stich gelassen wurde. Alle Warnmechanismen haben versagt: Ich war eine Frau kurz vor Erreichen ihrer Ziele, kurz vor Abschluss der Habilitation, und ich wirkte stark und selbstständig. Niemand hat gesehen, dass ich eigentlich frustriert und wütend war. Auch die Fa-tigue wurde nicht erkannt, weil ich sie erfolgreich maskieren konnte. Und niemand hat mich gefragt, wie ich mit einer gescheiterten Existenz zurechtkomme. Mir wurde auch keine Reha finanziert. Im Nachhinein denke ich, dass meine Probleme dort vielleicht erkannt worden wären. Ich hätte die Onkopsychologie gebraucht, das weiss ich jetzt. Leider wurde mir auch nach Diagnose der Spätfolgen keine Invaliden(IV)-Rente genehmigt.
Das Gefühl, verkannt zu werden und in meiner Nachbehandlung keine adäquaten Orte gefunden zu haben, hat mich motiviert, in die «Patient Advocacy» zu gehen.
Wie hat Ihr Engagement seinen Anfang gefunden?
U. Ganz-Blättler: Eine Bekannte aus meiner Zeit als Journalistin ist Moderatorin bei Veranstaltungen von Patientenräten. Sie hat mich nach meiner Krebserkrankung gefragt, ob ich für einen Nachmittag mit erstsemestrigen Studierenden an der Uni Basel sprechen würde – sie sollten mit Patient:innen konfrontiert werden, die in ihrer Krankengeschichte andere Entscheidungen getroffen hatten, als zu erwarten war. «Unruly patients» werden diese Patient:innen genannt.
Denn mit einem positiven BRCA1-Befund war es für mich sonnenklar, dass ich gerne beide Brüste abnehmen lassen möchte. Das war 2011. Aber eine Mastektomie zu bekommen, war im Tessin erstaunlich schwierig, gerade weil ich keinen Brustaufbau danach wollte. Das zuständige Ärztegremium hat mich ein Jahr zurückgestellt, damit ich meine Entscheidung noch einmal gründlich überlege. Selbst meine Gynäkologin, die mich immer gut beraten hat, war dagegen. «Aber Sie finden doch noch mal einen netten Mann!», war ihr Kommentar. Doch ein netter Mann muss mich so nehmen, wie ich bin, mit oder ohne Brüste.
Am Ende habe ich selbstständig einen sehr guten plastischen Chirurgen gefunden. Erst dann hat es geklappt. Deswegen war ich zum Beispiel eine «unruly patient», eine widerspenstige Patientin.
Ich habe viele Jahre in den medizinischen Kursen mit Studierenden über meine Geschichte gesprochen. Sie konnten mir Fragen zu meinen Entscheidungen stellen. Heute mache ich so etwas seltener.
Was hat Sie zum SAKK-Patientenrat geführt? Wo engagieren Sie sich noch?
U. Ganz-Blättler: Als CrF-Betroffene kann ich keine Selbsthilfeorganisation gründen oder eine eigene Gruppe leiten. Aber über Rosmarie Pfau, die schon vor mir im SAKK-Patientenrat war, bin ich zur SAKK gekommen. Ich habe mich beworben und wurde genommen. Ich habe es nie bereut.
In Basel bin ich auch noch beim «Oncoplastic Breast Consortium», dem OPBC, dabei. Das ist die Schnittstelle zwischen Brustkrebschirurgie und ästhetischer Chirurgie. Dazu hat mich der Arzt Walter P. Weber gebracht. Dank ihm gab es auch ein internationales Meeting zur Frage der Narbengestaltung bei Mastektomien. Das war mutig von ihm. Wenn ästhetische Chirurg:innen gezwungen werden, sich mit dem Nicht-Brustaufbau ernsthaft zu beschäftigen, ist das innovativ.
Was sind Ihre Ziele als «Patient Advocate»?
U. Ganz-Blättler: Meine Motivation ist einerseits, dass ich den Ärzt:innen etwas mitgeben möchte, nämlich Rückendeckung beim Entwickeln von ganzheitlichen Ansätzen. Mit meiner journalistischen Erfahrung kann ich ausserdem dabei unterstützen, medizinische Sprache für Patient:innen verständlich zu übersetzen. Dann habe ich natürlich den Wunsch, Fatigue-Betroffenen zu helfen. Als CrF-Betroffene brauche ich aber selber Gesunde, die mir helfen, zum Beispiel bei allem Administrativen.
Gerade bin ich an einem Wendepunkt. Ich bin jetzt so lange in der «Patient Advocacy» dabei, dass ich mich eher auf Dinge fokussieren möchte, die in die soziologische Richtung gehen. Auf der einen Seite ist es wichtig, dass bei den medizinischen Studien wieder neue Leute dazukommen. Auf der anderen Seite wollte ich schon immer die naive Patientin in solchen Studien sein – ich wollte nie zur medizinischen Fachfrau werden. Natürlich wäre ich auch gerne in Begleitstudien von Fatigue-Betroffenen dabei, da besteht auf jeden Fall Bedarf und Potenzial.
Gerade gibt es mehrere interessante Studien zur Überbehandlung, an denen ich als Patientenrätin beteiligt bin. Im einen Fall sollen Hausärzt:innen dabei unterstützt werden, Überbehandlung zu vermeiden, zu erkennen und zu melden.
Natürlich werde ich auch älter und die Fatigue nimmt zu – aber im Moment brennt mein Herz noch für alles, was mit Nachbehandlungen zu tun hat. Und mein Fokus verschiebt sich von der Medizin zum Gesamtkontext.
Was hätte bei Ihrer eigenen Krebserkrankung anders laufen sollen?
U. Ganz-Blättler: Eigentlich hatte ich einen guten Draht zu meinen Ärzt:innen. Es stand für mich nie ausser Frage, mich den schulmedizinischen Vorschlägen anzuschliessen. Ich habe eine Chemotherapie mit präventiver Strahlentherapie gemacht. Leider hat mich niemand mit der Möglichkeit von dauerhaften Neben- und Nachwirkungen konfrontiert. Ich wusste nicht, dass mich Folgen der Therapie auch viele Jahre später einholen können.
Als dann die Depression und die Fa-tigue auftraten, fiel ich wie in Zeitlupe in ein riesiges Loch. Und das hat mich selber überrascht, weil ich als «cancer survivor» eigentlich guten Mutes war. Ich habe mich zu der Zeit gefragt: Kann man gleichzeitig glücklich und depressiv sein?
Wie haben Sie gelernt, mit den Neben- und Nachwirkungen umzugehen?
U. Ganz-Blättler: Mit der Erkenntnis, dass ich eine chronische Fatigue und eine wiederkehrende Depression habe, ging es eindeutig bergauf und ich konnte besser mit meiner Lage umgehen. Meine Situation wurde auch leichter, als ich schließlich erbte und mir um meinen Lebensunterhalt keine Sorgen mehr machen musste.
Ich habe dann auch schnell gemerkt, dass ich in der Schweiz nicht die einzige CrF-Betroffene bin. Über die Krebsliga Ostschweiz habe ich die wunderbare Sarah Stoll kennengelernt. Sie war damals die Einzige, die sich fachlich mit Fatigue beschäftigt hat. Sie hat die Betroffenen in der Schweiz ausfindig gemacht und ihnen geholfen. Mittlerweile bin ich Co-Direktorin der Fatigue-Gesprächsgruppe der Krebsliga Ostschweiz.
Die Fatigue ist bei mir glücklicherweise nicht stark ausgeprägt – mein Glas ist halb voll. Ich komme aus einer Familie mit vielen Beeinträchtigungen. Das hat mir früh beigebracht, dass Gesundheit als relativ betrachtet werden sollte. Manchmal denke ich, dass Fatigue-Betroffene eigentlich gute Vorbilder wären, um eine bessere Work-Life-Balance hinzubekommen.
Als Patientenrätin in der Onkologie habe ich aber auch eine beneidenswerte Rolle: Die Onkologie hat viele Ressourcen und bekommt viel Aufmerksamkeit. Das geht Menschen mit chronischen Erkrankungen, die keinen onkologischen Hintergrund haben, nicht so.
Welche Rolle spielte das BRCA-Testergebnis in Ihrer Diagnose?
U. Ganz-Blättler: Aus meiner Familiengeschichte kenne ich die Entscheidungen, die mit den Ergebnissen genetischer Tests einhergehen. Bei uns liegt mütterlicherseits Muskeldystrophie in der Familie. Deswegen habe ich mich nach einem Gentest gegen Kinder entschieden. Es war mir aber immer wichtig, dass andere Menschen sich anders entscheiden könnten.
Einerseits wurde ich beim Brustkrebs nicht sofort auf BRCA getestet, weil bekannt war, dass ich auch da eine familiäre Vorbelastung habe, sowohl mit Brust- als auch mit Unterleibskrebs. Damit wurde ich als eine Person mit erhöhtem Risiko eingestuft, auch ohne Gentest. Als ich dann später auf eigene Initiative die positiven BRCA-Ergebnisse bekommen habe, habe ich gemerkt, dass Ärzt:innen bei der Entscheidung für oder gegen eine Mastektomie oder Ovariohysterektomie einen nichtmedizinischen Unterschied machen, ob eine Frau gebärfähig oder in der Menopause ist. Bei der Entfernung der Eierstöcke wurde bei mir nicht gezögert.
Haben Sie Ihre Position als Frau in der Gesellschaft auch noch in anderen Situationen in Ihrer Krankheitsgeschichte gespürt?
U. Ganz-Blättler: Die Frage, inwiefern Müdigkeit ernst genommen wird, vor allem bei Frauen, ist sehr grundsätzlich. Im Zusammenhang mit Long Covid wurde sie auch gerade vom Schweizer Online-Magazin «Republik» aufgegriffen. Denn vor allem durch Long Covid hat das Stiefkind »chronische Müdigkeit» inzwischen eine Lobby. In dem Artikel geht es darum, dass bei Frauenkrankheiten auf ärztlicher Seite oft Stereotype aufkommen: sei es die Hysterie oder ein vermeintlich hohes Erregungspotenzial bei Frauen, das dann vermeintlich zu psychosomatischen Zuständen führt.
Diesen Schwierigkeiten mit weiblichen Stereotypen bin ich auch schon an der Universität begegnet. Stereotype sind einerseits mit viel Vorsicht zu geniessen, weiblich konnotierte Stereotype könnten aber andererseits auch ein wunderbarer Pool für neue Ideen sein, wenn man sich differenziert mit ihnen auseinandersetzt. Dafür braucht es in der Medizin noch mehr Ärztinnen, eine Hinterfragung von Geschlechterrollen und auch eine Offenheit in jeder Beziehung, vor allem, was Hierarchien betrifft. Als Patientenvertreterin sehe ich es als meine Aufgabe, dazu beizutragen.
Der SAKK-Patientenrat
Der Patientenrat der SAKK wurde 2015 gegründet und hat momentan zehn Mitglieder. Seine Ziele sind:
die Kommunikation zwischen Forschenden und Patient:innen zu verbessern
Patient:innenbedürfnisse zu identifizieren, damit die Prioritäten bei Forschungsvorhaben patient:innenorientierter angelegt werden
die Aufklärung von Erkrankten bei einer Studienteilnahme zu verbessern
die Bedürfnisse der Teilnehmenden bei der Entwicklung von klinischen Studien und klinischen Fragestellungen vermehrt zu berücksichtigen
längerfristig innovative Therapien bereitzustellen, die optimal auf Patient:innenbedürfnisse ausgerichtet sind
die Betroffenen zu motivieren und zu ermutigen, an klinischen Krebsstudien teilzunehmen
Was können Ärzt:innen tun, um bei diesen Entwicklungen zu helfen?
U. Ganz-Blättler: Die Ärzteschaft ist zwar in der Verantwortung, aber auch sie braucht Hilfe und Unterstützung. Gerade gibt es zwei Bewegungen, die im Gesundheitssystem ein Spannungsfeld erzeugen. Die eine geht in Richtung grösserer Diversität, grösserer Akzeptanz, in Richtung von Verlangsamung und Respekt. Die andere ist im Grunde eine kapitalistische Bewegung, die die Komplexität beseitigen möchte – denn je grösser die Differenzierung und Toleranz, umso höher die Komplexität. Unter dieser Spannung leidet auch die Ärzteschaft. Dadurch überforderte Ärzt:innen brauchen Hilfe, durch Coaching und Supervisionen.
Von den Ärzt:innen selbst würde ich mir wünschen, dass sie die eigenen Überforderungen erkennen und sich Unterstützung holen, wenn es nötig ist. Und ich wünsche mir, dass Ärzt:innen weniger versuchen, stereotype Rollen und Erwartungen zu erfüllen, und mehr zu ihren Schwächen und ihrem Nichtwissen stehen. Aber wie man in der Pandemie gesehen hat, kann Nichtwissen leider auch zu einer Vertrauenskrise führen, gerade wenn es eine konservative Rechte gibt, die das instrumentalisiert und Verschwörungstheorien fördert. Ärzt:innen sind da in einer schwierigen Position.
Und natürlich gibt es im Gesundheitssystem auch noch andere relevante Akteur:innen. Zum Beispiel profitieren Patient:innen von einer guten Zusammenarbeit zwischen Pflege und Ärzteschaft. Aber auch die Pflege ist oft überfordert.
Ich glaube, dass hier Patientenräte Ärzt:innen helfen können. Denn reflektierte, erfahrene Patient:innen können Ärzt:innen entlasten. Das Betroffensein macht nie den ganzen Menschen aus und auch Ärzt:innen sind manchmal Betroffene.
Literatur:
1 Milzer M et al.: Krebsassoziierte Fatigue: Perspektiven zur Verbesserung der Versorgung. Forum 2023; 38: 201-5
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