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Neue Entwicklungen und Kontroversen in der Hämostaseologie

<p class="article-intro">Unter dem Kongressmotto „Science meets clinical practice“ trafen sich Hämostaseologen zur 63. Jahrestagung der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH) in Berlin, um sich über neue therapeutische und diagnostische Entwicklungen zu informieren. Ziel der Tagung war der Brückenschlag zwischen präklinischer und klinischer Forschung einerseits und dem Vorgehen im klinischen Alltag andererseits.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>In der Behandlung tumorassoziierter Thrombosen gewinnen DOAK an Bedeutung.</li> <li>Der monoklonale Antik&ouml;rper Emicizumab bew&auml;hrt sich jetzt auch bei H&auml;mophilie-A-Patienten ohne Inhibitoren.</li> <li>Auch bei intramuskul&auml;rer Impfstoffgabe und Faktorsubstitution sind Komplikationen bei H&auml;mophiliepatienten selten.</li> </ul> </div> <p>Leitliniengem&auml;&szlig; sollen Tumorpatienten mit ven&ouml;ser Thromboembolie (VTE) 3&ndash;6 Monate lang mit einem niedermolekularen Heparin (NMH) behandelt werden. Die weitere antithrombotische Behandlung ist vom Blutungsrisiko und von der Aktivit&auml;t des Tumors abh&auml;ngig zu machen. Ob diese Empfehlungen im klinischen Alltag befolgt werden, ist aber weitgehend unklar.</p> <h2>VTE-Behandlung bei Tumorpatienten im klinischen Alltag</h2> <p>Hier setzt das prospektive &bdquo;German Evaluation of Cancer Associated Thrombosis&ldquo;(GECAT)-Register an, f&uuml;r das an den Berliner Kliniken Charit&eacute; und Vivantes seit Mai 2015 insgesamt 384 im Schnitt 65 Jahre alte Patienten mit aktiver Krebserkrankung und neu diagnostizierter VTE rekrutiert wurden,<sup>1</sup> berichtete Priv.- Doz. Dr. Marianne Sinn, Berlin. Jeweils ein gutes Drittel stellte sich selbst in der Rettungsstelle vor (38 % ) bzw. wurde vom Onkologen (35 % ), die &uuml;brigen vom Hausoder Facharzt eingewiesen. Bei knapp 70 % wurde duplexsonografisch eine Venenthrombose (VT), bei 48 % eine Lungenembolie (LE) festgestellt; bei 18 % lag sowohl eine VT als auch eine LE vor. H&auml;ufigste Tumoren waren Karzinome des Gastrointestinaltrakts, Lungen- und gyn&auml;kologische Tumoren. Drei Viertel der Patienten erhielten zum Zeitpunkt der VTE-Diagnose eine Chemotherapie, weitere 13 % eine Systemtherapie mit Tyrosinkinaseinhibitoren oder Antik&ouml;rpern.<br /> Bei 94 % der Betroffenen wurde initial leitlinienkonform eine Antikoagulation mit einem NMH eingeleitet, wobei in 10 % der F&auml;lle wegen eines erh&ouml;hten Blutungsrisikos oder einer Niereninsuffizienz eine Dosisreduktion erforderlich war. Weitere 6 % erhielten ein direktes orales Antikoagulans (DOAK), nur 0,5 % einen Vitamin-K-Antagonisten. Zum Zeitpunkt der Entlassung war der NMH-Anteil auf 85,5 % gesunken, der der DOAK auf 13,6 % gestiegen. Ein Gro&szlig;teil der Patienten wurde nach drei und sechs Monaten wegen der VTE weiter antikoaguliert und befand sich in kontinuierlicher onkologischer Therapie. In diesem Zeitraum nahm der NMH-Anteil bis Monat 6 weiter ab, auf nur noch 50 % . Nahezu jeder zweite Patient (47 % ) erhielt zu diesem Zeitpunkt bereits ein DOAK. Grunds&auml;tzlich ist festzuhalten, dass es sich bei Krebspatienten mit akuter VTE um schwer kranke Patienten mit hohem Mortalit&auml;tsrisiko handelt: 138 der 384 Studienpatienten verstarben im Verlauf.</p> <h2>Neue Prophylaxeoption bei der H&auml;mophilie A</h2> <p>Mit Emicizumab wurde neben der Substitution des fehlenden Faktors VIII (FVIII) eine alternative Therapiestrategie f&uuml;r Patienten mit H&auml;mophilie A entwickelt. Der s.c. verabreichte bispezifische Antik&ouml;rper bindet an FIXa und FX und bewirkt die Aktivierung von FX. Damit &uuml;bernimmt er die Funktion des fehlenden FVIII. Emicizumab hat sich bereits in der Phase-III-Studie HAVEN 2 bei Patienten mit H&auml;mophilie A und Inhibitoren als effektiv erwiesen.<sup>2</sup><br /> Jetzt wurde der Antik&ouml;rper in der Phase- III-Studie HAVEN 3 auch bei 152 Patienten mit schwerer H&auml;mophilie A ohne Inhibitornachweis erfolgreich gepr&uuml;ft.<sup>3</sup> Die zuvor mit FVIII als Bedarfstherapie behandelten Teilnehmer wurden im Verh&auml;ltnis 2:2:1 randomisiert einer Prophylaxe mit Emicizumab in einer Dosis von 3mg/kg 1x/Woche &uuml;ber 4 Wochen, gefolgt von einer Erhaltungstherapie mit 1,5mg/kg/ Woche (Arm A) oder mit 3mg/kg alle zwei Wochen (Arm B) oder keiner Prophylaxe (Arm C) zugeteilt. Patienten in Arm D hatten zuvor eine FVIII-Prophylaxe erhalten und wurden auf eine Erhaltung mit Emicizumab (1,5mg/kg/Woche) umgestellt.<br /> Der Antik&ouml;rper f&uuml;hrte in den Armen A und B im Vergleich zu Arm C zu einer signifikanten und klinisch relevanten Reduktion von Gelenk- und Zielgelenkblutungen sowie Blutungen insgesamt um mindestens 94 % , berichtete Prof. Dr. Johannes Oldenburg, Bonn. Bei mehr als 55 % der mit dem Antik&ouml;rper behandelten Patienten traten keine, bei &uuml;ber 91 % maximal drei behandlungspflichtige Blutungen auf. In Arm D wurde eine 68 % ige Senkung der Blutungsrate gegen&uuml;ber der vorherigen FVIII-Prophylaxe dokumentiert. Oldenburg bewertete die Emicizumab- Prophylaxe als sicher: Als Nebenwirkungen wurden lediglich Lokalreaktionen an der Einstichstelle beobachtet; thrombotische Ereignisse, Antik&ouml;rper gegen Emicizumab oder Inhibitoren gegen FVIII traten nicht auf. Oldenburg bezeichnete den verabreichten Antik&ouml;rper daher als effektive und flexible Option der Prophylaxe bei der H&auml;mophilie A.</p> <h2>Impfkomplikationen bei H&auml;mophiliepatienten selten</h2> <p>Derzeit gibt es keine generellen Empfehlungen zur Impfung von Patienten mit H&auml;mophilie. F&uuml;r diese Patientengruppe wird weiterhin die subkutane Vakzinierung empfohlen. Bei intramuskul&auml;rer Impfung ist die ad&auml;quate Substitution von Gerinnungsfaktorkonzentraten unverzichtbar, betonte Dr. Christian Pfrepper, Leipzig. Doch werden gleichzeitige Impfung und Faktorsubstitution als Risikofaktor f&uuml;r eine Inhibitorentwicklung angesehen. Eine von der Arbeitsgruppe &bdquo;St&auml;ndige Kommission H&auml;mophilie der GTH&ldquo; zwischen Juni und September 2018 durchgef&uuml;hrte Onlinebefragung zeigt jetzt, dass die Impfpraxis bei H&auml;mophiliepatienten in Deutschland sehr heterogen ist.<sup>4</sup><br /> An der Befragung beteiligten sich 40 &Auml;rzte (43,5 % der Angeschriebenen). Die Mehrzahl von ihnen behandelt ihre Patienten in Comprehensive Care Centern (58 % ) oder H&auml;mophiliebehandlungszentren (28 % ). Knapp die H&auml;lfte (46 % ) betreut nur Kinder mit H&auml;mophilie, 28 % sowohl p&auml;diatrische als auch erwachsene Patienten. Etwa jeder zweite behandelnde Arzt (51 % ) gab an, den Applikationsmodus bei der Vakzinierung &uuml;berwiegend von der Schwere der Blutungen abh&auml;ngig zu machen. Ein gutes Viertel der Befragten verabreicht Impfstoffe ausschlie&szlig;lich subkutan und orientiert sich hier bei fehlender Zulassung an Literaturdaten. Etwa drei Viertel informieren ihre Patienten &uuml;ber den Offlabel- Einsatz der Vakzine. 13 % der &Auml;rzte richten sich bei der Impfung von H&auml;mophiliepatienten nach dem Zulassungsstatus des jeweiligen Impfstoffes. 71 % sprechen sich f&uuml;r ein festgelegtes Zeitfenster zwischen Impfung und Faktorsubstitution aus.<br /> Nach subkutaner Injektion treten Komplikationen laut Aussage jedes zweiten Arztes nie oder selten auf. Auch bei i.m. Injektion beobachten 68 % der &Auml;rzte nur selten, 31 % nie Komplikationen. Am h&auml;ufigsten sind lokale Hautreaktionen und Granulome, bei intramuskul&auml;rer Impfung auch Muskelblutungen. Beruhigend sind zudem aktuelle Daten des PedNet-Registers, wonach das Risiko einer Hemmk&ouml;rperentwicklung selbst bei &bdquo;previously untreated patients&ldquo; (PUP), die innerhalb von 24 Stunden nach Faktorsubstitution geimpft werden, gering ist.<sup>5</sup> Pfrepper pl&auml;dierte deshalb daf&uuml;r, die Impfempfehlungen bei H&auml;mophiliepatienten zu &uuml;berarbeiten.</p> <h2>Empfehlenswert: Thromboseprophylaxe nach Phlebektomie</h2> <p>Obwohl chronische Venenerkrankungen weltweit zu den h&auml;ufigsten Erkrankungen geh&ouml;ren, gibt es bislang keine einheitlichen Empfehlungen zum postoperativen Vorgehen nach offenen ven&ouml;sen Eingriffen. Insbesondere die antithrombotische Prophylaxe zur Verhinderung thromboembolischer Komplikationen wird weiterhin kontrovers diskutiert, konstatierte Dr. Misbah Ahmed, Greifswald. Eine retrospektive Fallkontrollstudie mit 429 Patienten (467 Extremit&auml;ten), die sich zwischen 2009 und 2013 einem offenen ven&ouml;sen Eingriff unterzogen hatten und postoperativ ein Jahr lang nachbeobachtet worden waren, weist jedoch auf das hohe Thromboserisiko in diesem Kollektiv hin:<sup>6</sup> In 6,6 % der operierten Extremit&auml;ten wurde eine VT diagnostiziert; kein Patient entwickelte eine LE. In 2,4 % der F&auml;lle trat an den unteren Extremit&auml;ten eine Thrombophlebitis auf. An einer tiefen VT litten 4,3 % der Patienten. Patienten mit einer Phlebektomie der kleinen Vena saphena hatten im Vergleich zu Kontrollen ein gut achtfach erh&ouml;htes Risiko f&uuml;r eine VT (OR 8,56; p=0,0001). Dabei scheint laut Ahmed der operative Eingriff per se ein wichtigerer pr&auml;disponierender Faktor zu sein als zugrunde liegende h&auml;mostaseologische Faktoren. Diese Patienten sind nach ihren Worten aufgrund ihres hohen Thromboserisikos definitive Kandidaten f&uuml;r die postoperative Prophylaxe mit s.c. verabreichtem NMH.</p> <h2>Neues Wirkprinzip bei der erworbenen TTP</h2> <p>Mit dem bivalenten Nanobody Caplacizumab hat sich in der Phase-III-Studie HERCULES eine innovative Therapie bei der erworbenen thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura (TTP) bew&auml;hrt.<sup>7</sup> Urs&auml;chlich f&uuml;r diese seltene, aber potenziell lebensbedrohliche Erkrankung sind inhibitorische Autoantik&ouml;rper gegen das Enzym ADAMTS13, aufgrund deren Wirkung die Spaltung des Von-Willebrand-Faktors (VWF) ausbleibt. Es entwickeln sich daher riesige VWF-Multimere und Mikrothromben aus diesen Multimeren und Pl&auml;ttchen in kleinen Blutgef&auml;&szlig;en, die in der Folge zu Thrombozytopenie, h&auml;molytischer An&auml;mie, Gewebeisch&auml;mie und Endorgansch&auml;den wie Herzinfarkt und Schlaganfall f&uuml;hren, informierte Prof. Dr. Johanna Kremer Hovinga, Bern.<br /> Mit Caplacizumab wurde ein Anti- VWF-Nanobody entwickelt, der gegen die A1-Dom&auml;ne des VWF gerichtet ist. Er blockiert die Interaktion des VWF mit dem Glykoprotein-Ib-Rezeptor auf Thrombozyten und verhindert so die Entwicklung von Mikrothromben. Gepr&uuml;ft wurde Caplacizumab in der Phase-III-Studie HERCULES an 145 Patienten mit akuter TTP-Episode, die zus&auml;tzlich zu Plasmapherese und Immunsuppression randomisiert der aktiven Therapie mit Caplacizumab oder Placebo zugeteilt wurden.<sup>7</sup> Beim prim&auml;ren Endpunkt &bdquo;Zeit bis zur Normalisierung der Thrombozytenzahl&ldquo; erwies sich Caplacizumab als eindeutig &uuml;berlegen, hatten doch Patienten im Verumarm zu jedem Zeitpunkt im Studienverlauf eine 1,55-fach h&ouml;here Chance f&uuml;r eine Pl&auml;ttchennormalisierung (p&lt;0,01). Auch das Rezidivrisiko konnte durch Caplacizumab im Vergleich zu Placebo um 67 % gesenkt werden (12 % vs. 38 % ; p&lt;0,001).</p> <h2>Besser vertr&auml;glich als Placebo</h2> <p>Eine auf der GTH-Tagung vorgestellte Post-hoc-Analyse zur Sicherheit des Nanobodys spricht f&uuml;r das g&uuml;nstige Vertr&auml;glichkeitsprofil des neuen Wirkprinzips.<sup>8</sup> Im Rahmen dieser Auswertung wurde die unterschiedliche Therapiedauer in beiden Behandlungsarmen ber&uuml;cksichtigt, da 28 Kontrollpatienten im Studienverlauf zur aktiven Caplacizumab-Therapie wechselten. Dementsprechend betrug die Expositionszeit f&uuml;r die Caplacizumab-Gruppe im Median 35 Tage, f&uuml;r die Placebogruppe lediglich 23 Tage. Bei Ber&uuml;cksichtigung dieses Unterschieds war die Inzidenzrate aller therapiebedingten unerw&uuml;nschten Nebenwirkungen bei den aktiv behandelten Patienten deutlich niedriger (534 vs. 822 pro 100 Patientenmonate). Unter Caplacizumab traten Nasenbluten und Zahnfleischblutungen &ouml;fter auf, w&auml;hrend TTPEpisoden, Hypokali&auml;mie und Prellungen bei den mit Placebo behandelten Patienten h&auml;ufiger waren. Die Inzidenzrate schwerer Nebenwirkungen war bei Caplacizumab- Gabe deutlich niedriger als unter Placebo (26,4 vs. 83,3/100 Patientenmonate). Damit best&auml;tigt sich die insgesamt gute Vertr&auml;glichkeit von Caplacizumab, res&uuml;mierte Kremer. In &Uuml;bereinstimmung mit dem Wirkmechanismus der Substanz sind Schleimhautblutungen die h&auml;ufigste Nebenwirkung.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Onko_1903_Weblinks_jatros_onko_1903_s9_abb1.jpg" alt="" width="600" height="403" /></p></p> <p class="article-quelle">Quelle: 63. Jahrestagung der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH), 27. Februar – 2. März 2019, Berlin </p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Sinn M et al.: GTH-Abstract-Book 2019; Abstr. SY14-3-AB <strong>2</strong> Young G et al.: Blood 2017; 130: 85 <strong>3</strong> Oldenburg J et al.: GTH-Abstract-Book 2019; Abstr. P03-3/SY17-2-AB <strong>4</strong> Pfrepper C et al.: GTH-Abstract-Book 2019; Abstr. P09-4 <strong>5</strong> Platokouki H et al.: Haemophilia 2018; 24: 283-90 <strong>6</strong> Ahmed M, J&uuml;nger M: GTH-Abstract-Book 2019; Abstr. P14-7 <strong>7</strong> Scully M et al.: N Engl J Med 2019; 380: 335-46 <strong>8</strong> Kremer Hovinga JA et al.: GTH-Abstract-Book 2019; Abstr. P06-1</p> </div> </p>
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