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Neue Entwicklungen und Kontroversen in der Hämostaseologie
Jatros
30
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30.05.2019
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<p class="article-intro">Unter dem Kongressmotto „Science meets clinical practice“ trafen sich Hämostaseologen zur 63. Jahrestagung der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH) in Berlin, um sich über neue therapeutische und diagnostische Entwicklungen zu informieren. Ziel der Tagung war der Brückenschlag zwischen präklinischer und klinischer Forschung einerseits und dem Vorgehen im klinischen Alltag andererseits.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>In der Behandlung tumorassoziierter Thrombosen gewinnen DOAK an Bedeutung.</li> <li>Der monoklonale Antikörper Emicizumab bewährt sich jetzt auch bei Hämophilie-A-Patienten ohne Inhibitoren.</li> <li>Auch bei intramuskulärer Impfstoffgabe und Faktorsubstitution sind Komplikationen bei Hämophiliepatienten selten.</li> </ul> </div> <p>Leitliniengemäß sollen Tumorpatienten mit venöser Thromboembolie (VTE) 3–6 Monate lang mit einem niedermolekularen Heparin (NMH) behandelt werden. Die weitere antithrombotische Behandlung ist vom Blutungsrisiko und von der Aktivität des Tumors abhängig zu machen. Ob diese Empfehlungen im klinischen Alltag befolgt werden, ist aber weitgehend unklar.</p> <h2>VTE-Behandlung bei Tumorpatienten im klinischen Alltag</h2> <p>Hier setzt das prospektive „German Evaluation of Cancer Associated Thrombosis“(GECAT)-Register an, für das an den Berliner Kliniken Charité und Vivantes seit Mai 2015 insgesamt 384 im Schnitt 65 Jahre alte Patienten mit aktiver Krebserkrankung und neu diagnostizierter VTE rekrutiert wurden,<sup>1</sup> berichtete Priv.- Doz. Dr. Marianne Sinn, Berlin. Jeweils ein gutes Drittel stellte sich selbst in der Rettungsstelle vor (38 % ) bzw. wurde vom Onkologen (35 % ), die übrigen vom Hausoder Facharzt eingewiesen. Bei knapp 70 % wurde duplexsonografisch eine Venenthrombose (VT), bei 48 % eine Lungenembolie (LE) festgestellt; bei 18 % lag sowohl eine VT als auch eine LE vor. Häufigste Tumoren waren Karzinome des Gastrointestinaltrakts, Lungen- und gynäkologische Tumoren. Drei Viertel der Patienten erhielten zum Zeitpunkt der VTE-Diagnose eine Chemotherapie, weitere 13 % eine Systemtherapie mit Tyrosinkinaseinhibitoren oder Antikörpern.<br /> Bei 94 % der Betroffenen wurde initial leitlinienkonform eine Antikoagulation mit einem NMH eingeleitet, wobei in 10 % der Fälle wegen eines erhöhten Blutungsrisikos oder einer Niereninsuffizienz eine Dosisreduktion erforderlich war. Weitere 6 % erhielten ein direktes orales Antikoagulans (DOAK), nur 0,5 % einen Vitamin-K-Antagonisten. Zum Zeitpunkt der Entlassung war der NMH-Anteil auf 85,5 % gesunken, der der DOAK auf 13,6 % gestiegen. Ein Großteil der Patienten wurde nach drei und sechs Monaten wegen der VTE weiter antikoaguliert und befand sich in kontinuierlicher onkologischer Therapie. In diesem Zeitraum nahm der NMH-Anteil bis Monat 6 weiter ab, auf nur noch 50 % . Nahezu jeder zweite Patient (47 % ) erhielt zu diesem Zeitpunkt bereits ein DOAK. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass es sich bei Krebspatienten mit akuter VTE um schwer kranke Patienten mit hohem Mortalitätsrisiko handelt: 138 der 384 Studienpatienten verstarben im Verlauf.</p> <h2>Neue Prophylaxeoption bei der Hämophilie A</h2> <p>Mit Emicizumab wurde neben der Substitution des fehlenden Faktors VIII (FVIII) eine alternative Therapiestrategie für Patienten mit Hämophilie A entwickelt. Der s.c. verabreichte bispezifische Antikörper bindet an FIXa und FX und bewirkt die Aktivierung von FX. Damit übernimmt er die Funktion des fehlenden FVIII. Emicizumab hat sich bereits in der Phase-III-Studie HAVEN 2 bei Patienten mit Hämophilie A und Inhibitoren als effektiv erwiesen.<sup>2</sup><br /> Jetzt wurde der Antikörper in der Phase- III-Studie HAVEN 3 auch bei 152 Patienten mit schwerer Hämophilie A ohne Inhibitornachweis erfolgreich geprüft.<sup>3</sup> Die zuvor mit FVIII als Bedarfstherapie behandelten Teilnehmer wurden im Verhältnis 2:2:1 randomisiert einer Prophylaxe mit Emicizumab in einer Dosis von 3mg/kg 1x/Woche über 4 Wochen, gefolgt von einer Erhaltungstherapie mit 1,5mg/kg/ Woche (Arm A) oder mit 3mg/kg alle zwei Wochen (Arm B) oder keiner Prophylaxe (Arm C) zugeteilt. Patienten in Arm D hatten zuvor eine FVIII-Prophylaxe erhalten und wurden auf eine Erhaltung mit Emicizumab (1,5mg/kg/Woche) umgestellt.<br /> Der Antikörper führte in den Armen A und B im Vergleich zu Arm C zu einer signifikanten und klinisch relevanten Reduktion von Gelenk- und Zielgelenkblutungen sowie Blutungen insgesamt um mindestens 94 % , berichtete Prof. Dr. Johannes Oldenburg, Bonn. Bei mehr als 55 % der mit dem Antikörper behandelten Patienten traten keine, bei über 91 % maximal drei behandlungspflichtige Blutungen auf. In Arm D wurde eine 68 % ige Senkung der Blutungsrate gegenüber der vorherigen FVIII-Prophylaxe dokumentiert. Oldenburg bewertete die Emicizumab- Prophylaxe als sicher: Als Nebenwirkungen wurden lediglich Lokalreaktionen an der Einstichstelle beobachtet; thrombotische Ereignisse, Antikörper gegen Emicizumab oder Inhibitoren gegen FVIII traten nicht auf. Oldenburg bezeichnete den verabreichten Antikörper daher als effektive und flexible Option der Prophylaxe bei der Hämophilie A.</p> <h2>Impfkomplikationen bei Hämophiliepatienten selten</h2> <p>Derzeit gibt es keine generellen Empfehlungen zur Impfung von Patienten mit Hämophilie. Für diese Patientengruppe wird weiterhin die subkutane Vakzinierung empfohlen. Bei intramuskulärer Impfung ist die adäquate Substitution von Gerinnungsfaktorkonzentraten unverzichtbar, betonte Dr. Christian Pfrepper, Leipzig. Doch werden gleichzeitige Impfung und Faktorsubstitution als Risikofaktor für eine Inhibitorentwicklung angesehen. Eine von der Arbeitsgruppe „Ständige Kommission Hämophilie der GTH“ zwischen Juni und September 2018 durchgeführte Onlinebefragung zeigt jetzt, dass die Impfpraxis bei Hämophiliepatienten in Deutschland sehr heterogen ist.<sup>4</sup><br /> An der Befragung beteiligten sich 40 Ärzte (43,5 % der Angeschriebenen). Die Mehrzahl von ihnen behandelt ihre Patienten in Comprehensive Care Centern (58 % ) oder Hämophiliebehandlungszentren (28 % ). Knapp die Hälfte (46 % ) betreut nur Kinder mit Hämophilie, 28 % sowohl pädiatrische als auch erwachsene Patienten. Etwa jeder zweite behandelnde Arzt (51 % ) gab an, den Applikationsmodus bei der Vakzinierung überwiegend von der Schwere der Blutungen abhängig zu machen. Ein gutes Viertel der Befragten verabreicht Impfstoffe ausschließlich subkutan und orientiert sich hier bei fehlender Zulassung an Literaturdaten. Etwa drei Viertel informieren ihre Patienten über den Offlabel- Einsatz der Vakzine. 13 % der Ärzte richten sich bei der Impfung von Hämophiliepatienten nach dem Zulassungsstatus des jeweiligen Impfstoffes. 71 % sprechen sich für ein festgelegtes Zeitfenster zwischen Impfung und Faktorsubstitution aus.<br /> Nach subkutaner Injektion treten Komplikationen laut Aussage jedes zweiten Arztes nie oder selten auf. Auch bei i.m. Injektion beobachten 68 % der Ärzte nur selten, 31 % nie Komplikationen. Am häufigsten sind lokale Hautreaktionen und Granulome, bei intramuskulärer Impfung auch Muskelblutungen. Beruhigend sind zudem aktuelle Daten des PedNet-Registers, wonach das Risiko einer Hemmkörperentwicklung selbst bei „previously untreated patients“ (PUP), die innerhalb von 24 Stunden nach Faktorsubstitution geimpft werden, gering ist.<sup>5</sup> Pfrepper plädierte deshalb dafür, die Impfempfehlungen bei Hämophiliepatienten zu überarbeiten.</p> <h2>Empfehlenswert: Thromboseprophylaxe nach Phlebektomie</h2> <p>Obwohl chronische Venenerkrankungen weltweit zu den häufigsten Erkrankungen gehören, gibt es bislang keine einheitlichen Empfehlungen zum postoperativen Vorgehen nach offenen venösen Eingriffen. Insbesondere die antithrombotische Prophylaxe zur Verhinderung thromboembolischer Komplikationen wird weiterhin kontrovers diskutiert, konstatierte Dr. Misbah Ahmed, Greifswald. Eine retrospektive Fallkontrollstudie mit 429 Patienten (467 Extremitäten), die sich zwischen 2009 und 2013 einem offenen venösen Eingriff unterzogen hatten und postoperativ ein Jahr lang nachbeobachtet worden waren, weist jedoch auf das hohe Thromboserisiko in diesem Kollektiv hin:<sup>6</sup> In 6,6 % der operierten Extremitäten wurde eine VT diagnostiziert; kein Patient entwickelte eine LE. In 2,4 % der Fälle trat an den unteren Extremitäten eine Thrombophlebitis auf. An einer tiefen VT litten 4,3 % der Patienten. Patienten mit einer Phlebektomie der kleinen Vena saphena hatten im Vergleich zu Kontrollen ein gut achtfach erhöhtes Risiko für eine VT (OR 8,56; p=0,0001). Dabei scheint laut Ahmed der operative Eingriff per se ein wichtigerer prädisponierender Faktor zu sein als zugrunde liegende hämostaseologische Faktoren. Diese Patienten sind nach ihren Worten aufgrund ihres hohen Thromboserisikos definitive Kandidaten für die postoperative Prophylaxe mit s.c. verabreichtem NMH.</p> <h2>Neues Wirkprinzip bei der erworbenen TTP</h2> <p>Mit dem bivalenten Nanobody Caplacizumab hat sich in der Phase-III-Studie HERCULES eine innovative Therapie bei der erworbenen thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura (TTP) bewährt.<sup>7</sup> Ursächlich für diese seltene, aber potenziell lebensbedrohliche Erkrankung sind inhibitorische Autoantikörper gegen das Enzym ADAMTS13, aufgrund deren Wirkung die Spaltung des Von-Willebrand-Faktors (VWF) ausbleibt. Es entwickeln sich daher riesige VWF-Multimere und Mikrothromben aus diesen Multimeren und Plättchen in kleinen Blutgefäßen, die in der Folge zu Thrombozytopenie, hämolytischer Anämie, Gewebeischämie und Endorganschäden wie Herzinfarkt und Schlaganfall führen, informierte Prof. Dr. Johanna Kremer Hovinga, Bern.<br /> Mit Caplacizumab wurde ein Anti- VWF-Nanobody entwickelt, der gegen die A1-Domäne des VWF gerichtet ist. Er blockiert die Interaktion des VWF mit dem Glykoprotein-Ib-Rezeptor auf Thrombozyten und verhindert so die Entwicklung von Mikrothromben. Geprüft wurde Caplacizumab in der Phase-III-Studie HERCULES an 145 Patienten mit akuter TTP-Episode, die zusätzlich zu Plasmapherese und Immunsuppression randomisiert der aktiven Therapie mit Caplacizumab oder Placebo zugeteilt wurden.<sup>7</sup> Beim primären Endpunkt „Zeit bis zur Normalisierung der Thrombozytenzahl“ erwies sich Caplacizumab als eindeutig überlegen, hatten doch Patienten im Verumarm zu jedem Zeitpunkt im Studienverlauf eine 1,55-fach höhere Chance für eine Plättchennormalisierung (p<0,01). Auch das Rezidivrisiko konnte durch Caplacizumab im Vergleich zu Placebo um 67 % gesenkt werden (12 % vs. 38 % ; p<0,001).</p> <h2>Besser verträglich als Placebo</h2> <p>Eine auf der GTH-Tagung vorgestellte Post-hoc-Analyse zur Sicherheit des Nanobodys spricht für das günstige Verträglichkeitsprofil des neuen Wirkprinzips.<sup>8</sup> Im Rahmen dieser Auswertung wurde die unterschiedliche Therapiedauer in beiden Behandlungsarmen berücksichtigt, da 28 Kontrollpatienten im Studienverlauf zur aktiven Caplacizumab-Therapie wechselten. Dementsprechend betrug die Expositionszeit für die Caplacizumab-Gruppe im Median 35 Tage, für die Placebogruppe lediglich 23 Tage. Bei Berücksichtigung dieses Unterschieds war die Inzidenzrate aller therapiebedingten unerwünschten Nebenwirkungen bei den aktiv behandelten Patienten deutlich niedriger (534 vs. 822 pro 100 Patientenmonate). Unter Caplacizumab traten Nasenbluten und Zahnfleischblutungen öfter auf, während TTPEpisoden, Hypokaliämie und Prellungen bei den mit Placebo behandelten Patienten häufiger waren. Die Inzidenzrate schwerer Nebenwirkungen war bei Caplacizumab- Gabe deutlich niedriger als unter Placebo (26,4 vs. 83,3/100 Patientenmonate). Damit bestätigt sich die insgesamt gute Verträglichkeit von Caplacizumab, resümierte Kremer. In Übereinstimmung mit dem Wirkmechanismus der Substanz sind Schleimhautblutungen die häufigste Nebenwirkung.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Onko_1903_Weblinks_jatros_onko_1903_s9_abb1.jpg" alt="" width="600" height="403" /></p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: 63. Jahrestagung der Gesellschaft für Thrombose- und
Hämostaseforschung (GTH), 27. Februar – 2. März 2019,
Berlin
</p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Sinn M et al.: GTH-Abstract-Book 2019; Abstr. SY14-3-AB <strong>2</strong> Young G et al.: Blood 2017; 130: 85 <strong>3</strong> Oldenburg J et al.: GTH-Abstract-Book 2019; Abstr. P03-3/SY17-2-AB <strong>4</strong> Pfrepper C et al.: GTH-Abstract-Book 2019; Abstr. P09-4 <strong>5</strong> Platokouki H et al.: Haemophilia 2018; 24: 283-90 <strong>6</strong> Ahmed M, Jünger M: GTH-Abstract-Book 2019; Abstr. P14-7 <strong>7</strong> Scully M et al.: N Engl J Med 2019; 380: 335-46 <strong>8</strong> Kremer Hovinga JA et al.: GTH-Abstract-Book 2019; Abstr. P06-1</p>
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