
Leukämie assoziiert mit mütterlichen Infektionen während der Schwangerschaft
Autoren:
Univ.-Prof. Dr. Andishe Attarbaschi
Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Holter
St. Anna Kinderspital Wien
Medizinische Universität Wien
E-Mail: andishe.attarbaschi@stanna.at
Neue Erkenntnisse aus einer dänischen Studie ergänzen das bisherige Bild der Ätiologie von Leukämien im Kindesalter. Univ.-Prof. Dr. Andishe Attarbaschi und Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Holter vom St. Anna Kinderspital in Wien erklären die Daten und kommentieren die Studienergebnisse.
In der vorliegenden Arbeit evaluierten Jian-Rong He et al. die Assoziation von mütterlichen Infektionen während der Schwangerschaft mit akuten Leukämien des Kindesalters.1 Die groß angelegte Studie beinhaltete alle Lebendgeburten in Dänemark von 1978 bis 2015 mit letztendlich 2222797 inkludierten Kindern, wobei die Autor*innen die für die Analysen notwendigen Daten aus insgesamt sieben nationalen Registern zusammengetragen haben.
Der primäre Endpunkt der Studie war das Auftreten von akuten Leukämien; sekundäre Endpunkte beinhalteten das getrennte Auftreten akuter lymphoblastischer Leukämien (ALL) und akuter myeloischer Leukämien (AML). Nebstbei wurden auch Tumoren des zentralen Nervensystems (ZNS), Lymphome und andere Krebserkrankungen des Kindesalters auf ihre Assoziation mit mütterlichen Infektionen während der Schwangerschaft untersucht.
Insbesondere Infektionen des Genitaltrakts und der harnableitenden Wege stellen möglicherweise ein Risiko für Leukämien im Kindesalter dar
Betreffend die Infektionen wurden sämtliche Infektionen, respiratorische Infektionen, Infektionen der harnableitenden Wege, Infektionen des Genitaltraktes, gastrointestinale Infektionen und andere Infektionen auf deren Einfluss untersucht, separat auch sexuell übertragbare Infektionen. Eine Reihe von Kovariablen und Komorbiditäten wurde ebenfalls in alle Analysen inkludiert. Zur Validierung der Ergebnisse aus Dänemark wurden Daten von insgesamt 2682269 Lebendgeburten von 1988 bis 2014 aus Schweden hinzugezogen.
Datenlage
In der dänischen Kohorte wurden 4362 Kinder mit einer Krebserkrankung vor dem 15. Lebensjahr diagnostiziert: 1050 mit ALL, 165 mit AML, 92 mit anderen Leukämien, 1267 mit ZNS-Tumoren, 224 mit Lymphomen und 1564 mit anderen Krebsarten. 81717 Mütter (3,7%) hatten zu mindestens eine Infektion während der Schwangerschaft:
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harnableitende Wege: 37522 (1,7%)
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Genitaltrakt: 14382 (0,7%)
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Gastrointestinaltrakt: 10097 (0,5%)
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Respirationstrakt: 7318 (0,3%)
Auffallend war, dass Mütter mit Infektionen häufiger jünger und Erstgebärende waren, kürzere Ausbildungszeiten hatten, häufiger Diabetes oder Nikotinkonsum aufwiesen und ein höheres Risiko für Frühgeburten und niedriges Geburtsgewicht hatten als Mütter ohne Infektionen.
Analysen
Die statistischen Analysen ergaben, dass jedwede mütterliche Infektion während der Schwangerschaft mit einem um 35% erhöhten Risiko für das Auftreten von Leukämien im Kindesalter einherging, wobei sich das insbesondere durch Infektionen des Genitaltraktes (142%) und der harnableitenden Wege (65%) erklären ließ. Während auch sexuell übertragbare Infektionen mit einem signifikant erhöhten Leukämierisiko einhergingen, bestand zwischen den anderen Arten der Infektionen und Leukämien keine Assoziation.
Die Ergebnisse wurden separat für die ALL und AML bestätigt und Subgruppenanalysen zeigten, dass die gefundenen Assoziationen insbesondere für Kinder <1 Jahr und Kinder zwischen 1 und 5 Jahren zutrafen. Die Ergebnisse der Analysen von nur den Geschwisterpaaren waren mit jenen der Gesamtkohorte vergleichbar, sodass familiäre Faktoren keinen Einfluss auf die Assoziation von mütterlichen Infektionen mit kindlichen Leukämien zu haben schienen. Für andere Krebserkrankungen konnten keine Assoziationen mit mütterlichen Infektionen gefunden werden. Mittels der Daten aus Schweden wurden die Assoziationen von mütterlichen Infektionen während der Schwangerschaft mit Leukämien des Kindesalters bestätigt.
Schlussfolgerung
Aufgrund der gezeigten Daten kamen die Autor*innen zur Schlussfolgerung, dass mütterliche Infektionen der harnableitenden Wege und des Genitaltraktes während der Schwangerschaft mit einem signifikant höheren Risiko für Leukämien der Kinder assoziiert sind, was bedeuten würde, dass möglicherweise mittels Infektionsprävention die Inzidenz von kindlichen Leukämien gesenkt werden kann.
Kommentar
Die Ätiologie von Leukämien im Kindesalter ist seit jeher ein Forschungsfeld mit noch vielen unbeantworteten Fragen. Bei der Mehrzahl der Erkrankungen ist das Auftreten von spontanen somatischen Mutationen in hämatopoetischen Stammzellen oder lymphoiden Vorläuferzellen als krankheitsverursachend wahrscheinlich. Seltener sind auch Keimbahnmutationen mit einem erhöhten Leukämierisiko verbunden, mit der konstitutionellen Trisomie 21 als bekanntestem Beispiel. Gut kontrollierte genomweite Assoziationsstudien haben auch gezeigt, dass Allel-Varianten in Genen wie IKZF1, ARIDB5, CEBPE, CDKN2A, GATA3, BCL11A-PAPOLG und PIP4K2A die Suszeptibilität für das Auftreten einer ALL begünstigen.
Ende der 1990er-Jahre gelang erstmals die einwandfreie Rückverfolgung von präleukämischen Zellklonen bis zum Zeitpunkt der Geburt. Dabei ließ sich bei einigen Subtypen der ALL (ETV6::RUNX1-positiv) und später der AML (RUNX1::RUNX1T1-positiv) nachträglich auf den zum Stoffwechsel-Screening postpartal abgenommenen und auf Löschblättern konservierten Bluttests (Guthrie-Karten) die Leukämie-spezifische genetische Veränderung (Translokationen) der Jahre später aufgetretenen ALL oder AML detektieren, auch wenn damit die Ätiologie der Leukämien per se natürlich nicht entschlüsselt war. Andererseits ließen sich auch bei ganz gesunden Kindern derartige Aberrationen zum Zeitpunkt der Geburt detektieren, sodass ein generelles Screening-Programm zur Früherkennung von akuten Leukämien nicht infrage kommt.
Diese Erkenntnisse sind aber ein Hinweis darauf, dass die pränatale genetische Aberration (1. Hit) allein nicht ausreicht, um eine Leukämie zu verursachen, sondern weitere genetische Aberrationen (2.Hit) postnatal auftreten müssen, die das vulnerable Genom der lymphozytären Vorstufen nachhaltig verändern.
Für den 2. Hit werden zwei infektionsbasierte Hypothesen favorisiert:
Jene von Mel Greaves besagt, dass ein Leben im Säuglingsalter mit geringer Erregerexposition, gefolgt von einer erst verzögerten späten Exposition gegenüber gewöhnlichen Keimen (Viren) im Kleinkindesalter, einem Alter mit extensiver Proliferationskapazität der Lymphozyten, zum 2. Hit prädisponiert und somit zum klinischen Auftreten der Leukämie führt.2
Jene von Leo Kinlen besagt, dass jene verzögerte späte Exposition im Kleinkindesalter (bei reduzierter Exposition mit nichtendemischen Keimen im Säuglingsalter) mit „neuen“ Keimen durch Durchmischungen der Bevölkerung (z.B. Migration aus der Stadt in ländliche Regionen) erfolgt und dadurch den 2. Hit und somit die sichtbare Leukämie verursacht.3
Die vorliegende Arbeit von Jian-Rong He et al. ist insofern bemerkenswert, als sie den Kreis der Leukämogenese schließt, indem sie versucht, den primären Hit, der zum präleukämischen Klon führt, durch mütterliche Infektionen während der Schwangerschaft zu erklären. Die prä-leukämischen Translokationen, die wir sowohl bei der ALL als auch bei der AML pränatal finden können, werden durch DNA-Doppelstrangbrüche und nichthomologe End-zu-End-Verknüpfungen (DNA-Reparatur) erklärt. Die Auslösung solcher chromosomalen Prozesse im Rahmen von „räumlich“ dem Fetus nahen Entzündungen von mütterlichen urogenitalen Infektionen während der Schwangerschaft scheint als Erklärungsmodell für das primäre Event der 2-Hit-Theorie gut möglich und fügt sich in die epidemiologischen Erkenntnisse der infektiösen Ursache von Leukämien im Kindesalter ein. Dennoch dürfte aber auch eine genetische Prädisposition die Auslösung solcher chromosomalen Prozesse begünstigen. Auch ist die pränatale Genese der Leukämien nicht für alle Leukämien des Kindesalters gültig.
Literatur:
1 He JR et al.: Evaluation of maternal infection during pregnancy and childhood leukemia among offspring in Denmark. JAMA Netw Open 2023; 6(2): e230133 2 Greaves MF, Alexander FE: An infectious etiology for common acute lymphoblastic leukemia in childhood? Leukemia 1993; 7(3): 349-60 3 Kinlen L: Evidence for an infective cause of childhood leukaemia: comparison of a Scottish new town with nuclear reprocessing sites in Britain. Lancet 1988; 2(8624): 1323-7