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Körperliche Langzeitfolgen nach einer Krebserkrankung im Kindesalter
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Autor:
Dr. med. Eva Maria Tinner
Oberärztin<br> Pädiatrische Onkologie und Hämatologie<br> Inselspital, Universitätskinderklinik<br> E-Mail: eva.tinner@insel.ch
30
Min. Lesezeit
02.04.2020
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<p class="article-intro">Die pädiatrische Onkologie konnte in den letzten Jahrzehnten grosse Erfolge feiern. Heute werden in der Schweiz ca. 85 % aller Kinder und Jugendlichen, die eine maligne Erkrankung haben, geheilt.<sup>1</sup> Die Schweiz ist eines der europäischen Länder mit der höchsten Heilungsrate. Die Heilungsrate variiert nach Erstmalignom, aber selbst bei Hirntumoren können über 70 % der Kinder geheilt werden. Folglich nimmt die Anzahl Langzeitüberlebender nach Kinderkrebs stetig zu. Aktuell leben in der Schweiz ca. 6000 Erwachsene, die vor dem 20. Geburtstag ein Malignom hatten. Wenn man die Erwachsenen dazuzählt, die nach dem 20. Geburtstag ein Malignom hatten, leben in der Schweiz über 200 000 Langzeitüberlebende. Es ist also wichtig, dass wir uns Gedanken über die Spätfolgen machen, die diese Patienten haben.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Hohe Anzahl Langzeitüberlebender in der Schweiz</li> <li>Morbidität und Mortalität aufgrund von Spätfolgen sind bedeutend.</li> <li>Buntes Bild – viele Organsysteme betroffen</li> <li>Therapiebedingte Risikofaktoren sind potenziell modifizierbar.</li> <li>Nachsorge ermöglicht frühere Therapie und bessere Lebensqualität.</li> </ul> </div> <p>Spätfolgen des Malignoms und seiner Therapie sind sehr häufig. Gemäss Schätzungen leiden bis zu 80 % der Langzeitüberlebenden im Laufe ihres Lebens unter einer lebensbedrohlichen Spätfolge. Die Rate und der Schweregrad der Spätfolgen hängen von Risikofaktoren ab: der onkologischen Erkrankung selbst (Typ, Lokalisation, Stadium), der erfolgten Behandlung (Chemotherapie, Radiotherapie, Operationen) und dem Patienten selbst (Geschlecht, Alter bei Behandlung, gesundheitliche Vorgeschichte, genetische Prädisposition). Wir können nur einen Teil dieser Faktoren beeinflussen oder berücksichtigen: Therapie und genetische Prädisposition – z. B. können wir auf eine spezielle Empfindlichkeit gegenüber 6-Mercaptopurin und 6-Thioguanin Rücksicht nehmen.</p> <h2>Folgen von Chemotherapie, Strahlentherapie und Operationen</h2> <p>Die Chemotherapeutika, die wir in der Pädiatrie einsetzen, sind zum grossen Teil sehr alte Substanzen. Deshalb kennen wir die potenziellen Spätfolgen gut. Speziell erwähnenswert ist die Kardiotoxizität der Anthrazykline, die Neurotoxizität der Vinca-Alkaloide, die Beeinträchtigung der Fertilität und Nephrotoxizität der Alkylanzien, die Ototoxizität von insbesondere Cisplatin und die Toxizität auf den Knochenstoffwechsel der Steroide. Die Spätfolgen der Chemotherapeutika betreffen aber praktisch alle Organsysteme und können auch psychische und neurokognitive Beeinträchtigungen inklusive debilitierender Fatigue verursachen, dies v. a. die ZNS-gängigen Substanzen (hoch dosiertes Methotrexat und Cytarabin). Zweitmalignome kommen auch vor, wobei diejenigen, die das blutbildende System betreffen, meistens in den ersten 10 Jahren nach Therapieende auftreten, andere Zweitmalignom- Risiken, wie zum Beispiel das erhöhte Risiko eines Harnblasenmalignoms nach Cyclophosphamid, nehmen im Laufe des Lebens zu.<br /> Radiotherapie führt ebenfalls je nach Strahlenfeld zu Kollateralschäden inklusive Schilddrüsenunterfunktion, Infertilität, Kardiotoxizität, pulmonaler Toxizität, Hörstörungen, Deformationen durch asymmetrisches Wachstum, neurokognitiver und psychischer Beeinträchtigung und Zweitmalignomen im Strahlenfeld, wobei hier das Risiko im Laufe des Lebens zunimmt.<br /> Auch Operationen verursachen Spätfolgen, z. B. bei Amputationen, Entfernung von Organen, Tumorprothesen, ventrikulo-peritonealen Shuntsystemen (v. a. im weiteren Wachstum) und Port-a-Cath-Systemen, die oft jahrelang implantiert bleiben und zu Veränderungen in den betroffenen Gefässen führen. Zusammenfassend kann man sagen, dass Spätfolgen sehr vielfältig sind, potenziell schwerwiegend, und verschiedenste medizinische Disziplinen betreffen.<sup>2</sup></p> <h2>Langzeitfolgen</h2> <p>Die Häufigkeit der Spätfolgen nimmt im Laufe des Lebens zu. Im Alter von 40–49 Jahren berichten nur noch gut 10 % der Cancer Survivors nach Krebs im Kindesund Jugendalter keine Spätfolgen zu haben.<sup>3</sup> Oft haben Langzeitüberlebende auch mehrere chronische Leiden gleichzeitig. Wenn man dies mit einer Kontrollpopulation vergleicht, scheinen die Langzeitüberlebenden schneller als ihre Altersgenossen zu «altern» (um 10–20 Jahre).<sup>4</sup> Schweizer Daten zeigen eine exzessive Mortalität der Langzeitüberlebenden im Vergleich zur übrigen Bevölkerung – die Mortalität ist um das 10-Fache erhöht. In den ersten ca. 15 Jahren nach Diagnose ist diese Mortalität durch das Erstmalignom bedingt, danach durch Spätfolgen, wobei Zweitmalignome – unter denen 35 Jahre nach Erstdiagnose rund 10 % der Survivors leiden –, kardiale und respiratorische Erkrankungen die Haupttodesursachen sind. Diese nehmen mit zunehmendem Alter zu.<sup>5</sup> Bezüglich Morbidität der Schweizer Childhood Cancer Survivors (SCCS) gibt es Daten aus der Fragebogen-basierten Studie, der Swiss Childhood Cancer Survivor Study. Fragebögen wurden ab 2007 an alle SCCS mindestens 5 Jahre nach Diagnose verschickt. Resultate sind zum Beispiel, dass 10 % der SCCS über Hörprobleme berichten im Vergleich zu nur 3 % der ebenfalls befragten Geschwister.<sup>6</sup> Wenn man diese Resultate anhand von Audiogrammen überprüft, zeigt sich, dass leichte oder einseitige Hörprobleme den SCCS nicht bewusst sind und folglich im Fragebogen nicht angegeben werden.<sup>7</sup> Es braucht also auch in der Schweiz Kohortenstudien im Rahmen von Nachsorgesprechstunden, um die Prävalenz der Spätfolgen korrekt zu erfassen. Solche interdisziplinär (allgemein internistisch und pädiatrisch onkologisch) geführte Nachsorgesprechstunden für erwachsene CCS gibt es seit 2017 im Kantonsspital Baselland, Liestal, und seit 2018 im Inselspital Bern.<br /> Eine qualitativ hochwertige Nachsorge ist wichtig, da sie durch frühere Therapie von Spätfolgen die Lebensqualität der Survivor aufrechterhält und im besten Fall die Mortalität senkt.</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Swiss Childhood Cancer Registry: Swiss Childhood Cancer Registry Annual Report 2017/2018. 2019 <strong>2</strong> Hudson MM et al.: Clinical ascertainment of health outcomes among adults treated for childhood cancer. JAMA 2013; 309(22): 2371-81 <strong>3</strong> Phillips SM et al.: Survivors of childhood cancer in the United States: prevalence and burden of morbidity. Cancer Epidemiol Biomarkers Prev 2015; 24(4): 653-63 <strong>4</strong> Bhakta N et al.: The cumulative burden of surviving childhood cancer: an initial report from the St Jude Lifetime Cohort Study (SJLIFE). Lancet 2017; 390(10112): 2569-82 <strong>5</strong> Schindler M et al.: Cause-specific long-term mortality in survivors of childhood cancer in Switzerland: a populationbased study. Int J Cancer 2016; 139(2): 322-33 <strong>6</strong> Weiss A et al.: Long-term auditory complications after childhood can-</p>
</div>
</p>