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Klinische Ethik – zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Die klinische Ethik kann Gesundheitsfachpersonen helfen, in schwierigen Situationen bessere ethische Entscheidungen zu treffen. Sie hilft in der Analyse von Argumenten, sucht aber auch Zwischenwege und vermittelt zwischen Berufsgruppen.

Keypoints

  • Die Ethik ist eine Geisteswissenschaft.

  • Klinische Ethik unterstützt Gesundheitsfachpersonen bei ethischen Entscheidungen.

  • Eine klinische Ethikberatung ist nicht mit einer juristischen Beratung zu verwechseln.

  • Die klinische Ethik berät nur, sie trifft selbst keine Entscheidungen zu Patient*innen.

Die «klinische Ethik» ist eine neue Disziplin im Gesundheitswesen. Sie soll als solche hier kurz vorgestellt werden. Es soll hier auch deutlich werden, dass sich die klinische Ethik als Disziplin gerade erst im Aufbau befindet.

Viele Menschen im Gesundheitswesen wünschen sich oft mehr «Ethik» in ihrem Arbeitsumfeld – es ist aber nicht immer ganz klar, was mit diesem Wunsch gemeint ist, und wie man gute nachhaltige «Ethikstrukturen» z.B. in Krankenhäusern implementieren kann. Aber fangen wir ganz vorne an. Woher kommt überhaupt der Wunsch nach Ethik?

Der Wunsch nach mehr Ethik

In der Corona-Pandemie ist uns allen schlagartig klar geworden, wie leicht ethische Wertekonflikte entstehen können. Zum Beispiel mit den Fragen: «Muss ich mich an die Regeln der Politik halten oder kann ich selbst bestimmen, wann und wo ich eine Maske tragen will?» oder: «Soll man Menschen zur Impfung zwingen können?»

Aber auch schon vor der Corona-Pandemie stellten sich immer mehr ethische Fragen im Gesundheitswesen. Einige Themenbeispiele hierzu sind Organtransplantationen, künstliche Befruchtung, Abtreibung, genetische Tests, der Einsatz von künstlicher Intelligenz und vieles mehr. All das sind Themen, die bei verschiedenen Menschen unterschiedliche moralisch-ethische Assoziationen hervorrufen.

Alle diese Themen verdeutlichen einerseits den medizinischen Fortschritt der letzten Jahrzehnte in unserer westlichen Welt. Doch genau dieser Fortschritt löst andererseits auch immer Fragen nach den Grenzen der neu entwickelten Technologien aus. Hinzu kommen auch ökonomische Fragen, und teilweise auch schlechte Arbeitsbedingungen der Gesundheitsfachpersonen und moralische Überforderungen – die Pflegenden sprechen hier oft von «moral distress». Ein Konglomerat all dieser Aspekte kann am Krankenbett schliesslich ganz konkrete ethische Fragen auslösen.

Klinische Ethik vor Ort

Die klinische Ethik als Disziplin findet nicht irgendwo an einem Schreibtisch oder an einer Universität in einem «stillen Kämmerlein» statt. Nein, sie soll direkt am Krankenbett stattfinden und dort auch den Ärztinnen und Ärzten helfen. Denn wenn Ärztinnen und Ärzte, Pflegende und Therapeut*innen sich direkt am Krankenbett mit solchen ethischen Situationen auseinander setzen müssen, etwa ob eine Therapie abgebrochen werden soll oder nicht, dann hilft es meistens, alle Argumente – pro und contra – aus einer Aussenperspektive abwägen zu lassen. Und genau das ist der Job der klinischen Ethik.

Sie versteht sich als eine Art geisteswissenschaftlicher Konsiliardienst, der bei ethischen Entscheidungen unterstützt. Damit hat die klinische Ethik in den letzten Jahren auch durchaus an Bedeutung gewonnen. Innerhalb von Krankenhäusern, Pflegeheimen und ambulanten Pflegediensten werden in Europa vermehrt Strukturen zur ethischen Unterstützung geschaffen.

Diese konsultative Hauptaufgabe der klinischen Ethik wird oft unter dem Begriff der «klinischen Ethikberatung» zusammengefasst. Und diese Beratung richtet sich nicht nur an die Behandlungsteams, sondern auch an die gesamte Institution. Die Beratungstätigkeit auf der Institutionsebene kann beispielsweise auch darin bestehen, dass mit Führungspersonen der Geschäftsleitung allgemeine Ethikempfehlungen oder Leitlinien ausgearbeitet werden.

Professionelle Ethikberatung

Eine gute und professionelle klinische Ethikberatung ist dadurch charakterisiert, dass die Wertvorstellungen der involvierten Gesundheitsfachpersonen geklärt und analysiert werden. Ausserdem sollten die beteiligten Personen auf ethische Richtlinien und relevante gesetzliche Grundlagen, die neben den in jedem Fall individuellen Faktoren existieren, hingewiesen werden.

Allgemein will die klinische Ethik die Behandlungsteams auch für ethische Fragestellungen prospektiv sensibilisieren, damit die Teams in Zukunft mit Werte- und Interessenskonflikten besser selbstständig umgehen können. Die klinische Ethikberatung darf hierbei nicht mit einer juristischen Beratung verwechselt werden. Ausserdem geht es in der klinischen Ethik weder um die Entscheidung zu Forschungsprojekten (Forschungsethik), noch sollte man die klinische Ethik innerhalb einer Institution als «Kontrollinstanz» verstehen. Zur Vermeidung solcher Missverständnisse müssen klinische Ethikerinnen und Ethiker in ihrer Rollenausübung auch möglichst unabhängig agieren können und Empfehlungen und Stellungnahmen möglichst frei äussern dürfen.

Weiter muss klar sein, dass die klinische Ethik nur berät, also nicht selbst die Entscheidungen trifft. Die Entscheidungsverantwortung bleibt immer beim Behandlungsteam und den behandelnden Ärzt*innen bzw. natürlich bei Patient*innen selbst, wenn sie noch dazu in der Lage sind, eigene Entscheidungen zu treffen.

Methodenfragen und fehlende Ausbildungsmöglichkeiten

Es gibt eine Vielzahl von methodischen Zugängen, die sich in ihren theoretischen Grundlagen unterscheiden und die klinischen Ethiker*innen oder die Mitglieder der klinischen Ethikkommissionen darin unterstützen, Fallbesprechungen durchzuführen und Ethikberatung anzubieten.

Diese Vielzahl an aktuellen methodischen Zugängen lässt aber bereits erahnen, dass sich bis heute keine Methode oder Theorie als besonders empfehlenswert herausgestellt hat. Dies ist mit Sicherheit auch darauf zurückzuführen, dass die klinische Ethik noch eine sehr junge Disziplin ist. Dennoch müsste die Zukunft der Disziplin hier bessere Aus-, Weiter- und Fortbildungsmöglichkeiten entwickeln,und dies insbesondere für all die Gesundheitsfachpersonen, die sich selbst in klinischer Ethik weiterbilden möchten. In der Schweiz z.B. gibt es aktuell keinen klaren Aus- und/oder Weiterbildungsweg, um «klinischer Ethiker» bzw. «klinische Ethikerin» zu werden.

Ausblick

Es scheint mehr als begrüssenswert, dass vermehrt Ärzt*innen, Pflegende und Therapeut*innen auf den Konsiliardienst der klinischen Ethik zugreifen können. Im Idealfall sensibilisiert die ethische Unterstützung die Mitarbeitenden dafür, sich mit den eigenen Wert- und Normvorstellungen auseinanderzusetzen.

Ausserdem fördert die Disziplin der Ethik die interprofessionelle Zusammenarbeit, z.B. in ethischen Fallbesprechungen. Die Nachfrage nach klinischer Ethikberatung verdeutlicht aber auch den Bedarf an Aus-, Weiter- und Fortbildung in diesem Bereich. Auch die Nachfrage nach wissenschaftlichen Erkenntnissen in diesem Bereich der Ethik ist gross. Noch sind beispielsweise viele Fragen der Methodik und auch die Rolle der Patient*innen und Angehörigen in der Ethikberatung ungeklärt.

Gerade die Forschung im Bereich Ethik birgt aber noch eine zusätzliche Herausforderung in sich: Die Ethik ist eine Geisteswissenschaft, deshalb unterliegt sie nicht den naturwissenschaftlichen Forschungskategorien, die man aus der Medizin kennt.

beim Verfasser

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