
Wo stehen wir und welche Herausforderungen erwarten uns in der Zukunft?
Autor:
Nicolas Sperisen
Fachspezialist Cancer Survivorship, Krebsliga Schweiz
Vorstandsmitglied von oncoreha.ch
E-Mail: nicolas.sperisen@krebsliga.ch
Die ambulante onkologische Rehabilitation ist ein wesentlicher Schritt im Behandlungsverlauf. Sie gibt den Krebsbetroffenen nicht nur neue Impulse, sondern bringt auch erhebliche Vorteile für die Gesundheit und das Überleben mit sich. Trotz der Entwicklungen und Fortschritte, die in den letzten Jahren in der Schweiz gemacht worden sind, wird sie nach wie vor nicht ausreichend anerkannt und gewürdigt.
Keypoints
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Die ambulante onkologische Rehabilitation bringt den Krebsbetroffenen einen echten Mehrwert.
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Die ambulante onkologische Rehabilitation ist das Tor zu einem erfolgreichen Cancer Survivorship.
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Qualitativ hochwertige Programme sind in der ganzen Schweiz verfügbar.
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Bisher fehlt es noch an pragmatischen Qualitätskriterien.
Krebserkrankungen sind auf dem Vormarsch und betreffen in der Schweiz jedes Jahr mehr Menschen. Ursächlich sind in der Regel gesundheitsschädliche Verhaltensweisen sowie die Exposition gegenüber bestimmten Risikofaktoren, die oft schwer zu kontrollieren sind. Glücklicherweise führen die Fortschritte in der Medizin sowie bessere Früherkennungsprogramme gleichzeitig zu einer stetigen Verbesserung der Überlebensrate. Derzeit sind 68% der erwachsenen Krebsbetroffenen fünf Jahre nach der Diagnose noch am Leben.1 Folglich steigt die Zahl der sogenannten Cancer Survivors* stetig an – derzeit gelten in der Schweiz über 450000 Menschen als Cancer Survivors.1 Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Menschen mit der Krankheit abgeschlossen haben, denn es können Neben- und Spätfolgen der Krankheit und/oder der Therapien auftreten, die sie über mehrere Jahre hinweg beeinträchtigen und ihre gesundheitsbezogene Lebensqualität noch bis zu 26 Jahre nach der Diagnose einschränken können.2,3 Dies kann dazu führen, dass sie erheblichen Bedarf auf körperlicher, psychischer, sozialer und spiritueller Ebene haben. Etwa ein Drittel der Betroffenen wünscht sich daher eine spezialisierte Betreuung, um diesen Bedarf zu decken.4 Klare und verständliche Informationen über ihren Gesundheitszustand und eine kontinuierliche Unterstützung wurden bei dieser Personengruppe als wichtigste Punkte identifiziert.5 Die onkologische Rehabilitation, insbesondere die ambulante Rehabilitation, kann und sollte einen wichtigen Beitrag dazu leisten.
Was ist onkologische Rehabilitation?
Die Weltgesundheitsorganisation definiert Rehabilitation als «eine Reihe von Interventionen, die darauf ausgerichtet sind, die Funktionsfähigkeit von Menschen mit Gesundheitsproblemen zu optimieren und ihre Behinderung zu verringern, wenn sie mit ihrer Umwelt interagieren».6 Rehabilitation «ist Teil eines gesundheits- und autonomieorientierten Prozesses, der alle koordinierten Massnahmen auf medizinischer, pädagogischer und sozialer Ebene umfasst. Sie soll es dem Patienten ermöglichen, seine Defizite oder Behinderungen zu überwinden, damit er eine optimale körperliche, psychische und soziale Funktionsfähigkeit zurückerlangt. So kann er seinem Leben wieder Sinn verleihen, indem er seinen Platz in der Gesellschaft wiederfindet.»7
Im onkologischen Bereich gilt die Rehabilitation als Schlüsselelement für den Therapieerfolg8 und muss in den Verlauf der Behandlung der Person integriert werden.9 Sie verfolgt Ziele, die mit den spezifischen körperlichen, psychischen, sozialen und spirituellen Bedürfnissen der Personen in Zusammenhang stehen, aber auch allgemeine Ziele wie den Erwerb von neuem Wissen oder neuen Strategien zur Bewältigung und zum Selbstmanagement der Krankheit.
Wie sieht die onkologische Rehabilitation aus?
Ein Rehabilitationsprogramm kann zu verschiedenen Zeitpunkten im Verlauf der Behandlungdes Patienten beginnen. Im Vorfeld der Behandlung soll die Prähabilitation die Person auf Therapien, insbesondere auf Operationen, vorbereiten. Durch die Optimierung der Grundfunktionen, insbesondere der physischen und psychischen Gesundheit, und die Erhöhung der Behandlungstoleranz stärkt die Prähabilitation die Person, trägt zur Aufrechterhaltung ihrer Lebensqualität bei und verbessert das Überleben.10 Ein Rehabilitationsprogramm kann auch während der akuten Behandlungsphase beginnen, wodurch die negativen Auswirkungen der Behandlung abgeschwächt werden können. Auftretende Müdigkeit und die vielen Nebenwirkungen der Therapien erschweren jedoch die Teilnahme. In der Praxis beginnen die meisten Personen ein Rehabilitationsprogramm deshalb erst nach Abschluss der Behandlung. Dies hat den Vorteil, dass die Person in einer besonders kritischen Zeit unterstützt wird. Denn in dieser Übergangsphase zwischen dem Ende der Therapien und der Rückkehr in eine gewisse Normalität wird die bis dahin wahrgenommene Unterstützung stark zurückgefahren, während gleichzeitig die ersten Nebenwirkungen auftreten können. In manchen Fällen erfolgt die Aufnahme in ein Rehabilitationsprogramm aber auch erst später, wenn Komplikationen auftreten.
Idealerweise sollte eine Rehabilitation so lange dauern, bis die Person ihre funktionellen Defizite deutlich reduziert hat.11 In der Praxis ist es jedoch schwierig, auf die Festlegung eines genauen Endes zu verzichten. So liegt die optimale Dauer eines Rehabilitationsprogramms zwischen 12 und 16Wochen.12Zwar gibt es in der Schweiz keine Standard-Rehabilitationsprogramme, da jedes Zentrum sein eigenes Angebot entwickelt, doch bestimmte Massnahmen finden sich üblicherweise im Grundangebot. Dazu gehören die Bewegungstherapie – die systematisch angeboten wird –, die Psychoonkologie, die Ernährungsberatung und die soziale Unterstützung. Letztere wird häufig in Kooperation mit den kantonalen Krebsligen angeboten. Einige Programme stellen auch verschiedene ergänzende Massnahmen zur Verfügung, wie z.B. Ergotherapie, komplementärmedizinische Massnahmen oder spirituelle Begleitung. Nicht zuletzt ist die Förderung des Selbstmanagements ein zentraler Aspekt der Rehabilitationsprogramme. Dadurch werden die Kompetenzen der Betroffenen und ihrer Angehörigen gestärkt, damit sie im Alltag wieder in ein Gleichgewicht finden und besser mit der Krankheit und ihren Folgen leben können.13
Wann wird eine Rehabilitation empfohlen?
Wenn eine Person nicht mehr in der Lage ist, ihre alltäglichen Aufgaben so zu bewältigen, wie sie es möchte, oder wenn sie dazu Hilfsmittel benötigt, dann ist es wichtig, den Rehabilitationsbedarf zu ermitteln und zu klären. Dazu gehören die Frage, ob sie während des anvisierten Zeitraums Pflege benötigt oder nicht, sowie die Frage nach dem Grad ihrer Selbstständigkeit und Mobilität. Wenn sie sich fortbewegen kann und keine übermässige Müdigkeit verspürt, kommt eine ambulante Rehabilitation in Betracht. Andernfalls ist eine stationäre oder teilstationäre Rehabilitation vorzuziehen. In Abbildung 1 sind die Voraussetzungen für die Teilnahme an einem Rehabilitationsprogramm dargestellt.
Abb.1: Medizinische Kriterien für die Teilnahme an einem Rehabilitationsprogramm
Wie hat sich die Rehabilitation in der Schweiz entwickelt?
Die Anfänge der Rehabilitation in der Schweiz gehen auf das Jahr 2008 zurück, als die Krebsliga Schweiz das Projekt «Aufbau von regionalen Netzwerken für die onkologische Rehabilitation» lancierte. Dieses verfolgte das Ziel, die Rehabilitation durch die Bereitstellung von Finanzmitteln zu fördern. Von den drei geförderten Projekten (Zürich, Freiburg und Wallis) besteht nur das Projekt im Wallis im Bereich der onkologischen Rehabilitation fort (OncorehaVS). Die beiden anderen führten im Wesentlichen zu spezialisierten Angeboten, die jedoch weiterhin zugänglich sind. Parallel zu dieser Finanzierung wurden zwei Projekte in den Kantonen Tessin und Bern durchgeführt, die in den Jahren 2009 bzw. 2011 zu zwei Rehabilitationsprogrammen führten. Das Tessiner Programm kann mit Fug und Recht als das erste Pilotprogramm für ambulante Rehabilitation in der Schweiz bezeichnet werden. In der Zwischenzeit wurde 2010 der interdisziplinäre Berufsverband oncoreha.ch gegründet. Er vertritt die Interessen der Mitgliedsinstitutionen und hat zum Ziel, die Rehabilitation in der Schweiz als festen Bestandteil der Behandlung einer jeden Krebserkrankung zu etablieren.
In den Folgejahren stieg die Zahl der verfügbaren Programme exponentiell an. Von zwölf Programmen im Jahr 2016 (sechs in der Deutschschweiz/eines in der Romandie/fünf im Tessin) stieg die Zahl Anfang 2018 auf 20 (11/4/5) und Ende 2024 auf 40 (20/15/5). Die nationale Studie zur ambulanten onkologischen Rehabilitation,12 die zwischen 2018 und 2020 durchgeführt wurde, ergab, dass die Ziele und Zielgruppen sowie die erbrachten Basisleistungen ähnlich waren. Die Studie zeigte jedoch auch grundlegende Unterschiede auf. Diese betreffen vor allem die Dauer der Programme und Therapien, die Anzahl der Pflichtmodule sowie die Kommunikation und den internen Informationsfluss. Die Analyse nach Sprachregionen ergab, «dass in der Deutschschweiz und der italienischen Schweiz einzelne modulare Programme von längerer Dauer, aber geringerer Intensität angeboten werden. In der Westschweiz werden dagegen eher kürzere, aber auch intensivere Programme angeboten.»12
Vor welchen Herausforderungen steht die Rehabilitation in der Schweiz?
Trotz eines starken Wachstums und einer erfolgreichen Etablierung in der gesamten Schweiz steht die ambulante onkologische Rehabilitation noch immer vor einigen Herausforderungen, insbesondere mit Blick auf die Zugänglichkeit. Denn die Gesamtzahl der Personen, die von einem Programm profitieren, ist immer noch sehr gering, vergleicht man sie mit der Anzahl der Menschen, die jedes Jahr an Krebs erkranken und idealerweise von einem Programm profitieren könnten. Ein wahrscheinlicher Grund dafür ist, dass das medizinische Fachpersonal und die Verordnungsgeber zu wenig über den Nutzen der Rehabilitation, aber auch über das verfügbare Angebot wissen. Die Krebsliga Schweiz stellt seit 2016 eine Übersicht über die verfügbaren Programme sowie einige Hintergrundinformationen zur Verfügung (Abb. 2).
Abb. 2: Screenshot des Rehabilitationsangebots in der Schweiz (Stand November 2024)
Die Finanzierung der Programme stellt eine weitere Herausforderung dar. Obwohl sie in den meisten Fällen von der Grundversicherung der Krankenkasse übernommen wird, ist sie nicht standardisiert, sondern wird individuell ausgehandelt. Dies führt zu erheblichen Unterschieden bei der Kostenübernahme durch die verschiedenen Krankenkassen. In manchen Fällen muss die betroffene Person über die Zusatzversicherung gehen oder sogar einen Teil der Leistungen selbst bezahlen. Daher ist es unerlässlich, über neue Finanzierungsmodelle nachzudenken, die diesem Problem entgegenwirken könnten. Um dies zu erreichen, sind Leistungs- und Qualitätskriterien vonnöten, die eine Vereinheitlichung der Programme und eine optimale Qualität der Betreuung ermöglichen. Auch eine Zertifizierung könnte in Betracht gezogen werden. Im Jahr 2016 war der Verband der Rehabilitationskliniken SW!SS REHA in dieser Richtung aktiv und hat entsprechende Kriterien definiert.** Einige dieser Kriterien wären jedoch je nach Rehabilitationsanbieter schwer oder gar nicht in der Praxis umsetzbar.12 Daher ist es von entscheidender Bedeutung, aktiv an der Definition pragmatischer Kriterien zu arbeiten.
Was sind die Zukunftsaussichten für die Rehabilitation in der Schweiz?
Die Rehabilitation ist das Tor zu einem erfolgreichen Cancer Survivorship. Sie ermöglicht es den Betroffenen, ihre Lebensqualität zu optimieren, und erleichtert die Rückkehr zu einer neuen Normalität. Es ist an der Zeit, sie als zentrales Element der Behandlung der Patienten aufzuwerten. Die Verbesserung der Bekanntheit des Angebots, seine Harmonisierung durch Qualitätskriterien und die Entwicklung eines nachhaltigen Finanzierungsmodells sind die nächsten Schritte, die unternommen werden müssen. Die Einrichtung von Prähabilitationsangeboten würde für die Betroffenen ebenfalls einen grossen Mehrwert im Bereich der Lebensqualität und Gesundheit mit sich bringen.
* Für diesen Artikel wird eine Person gemäss der Definition der NCCS (2014),
https://canceradvocacy.org/defining-cancer-survivorship/
, vom Zeitpunkt der Diagnose bis zum Ende ihres Lebens als Cancer Survivor bezeichnet.
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https://www.swiss-reha.com/fr/ambulatoire_semi-stationnaire.html
Literatur:
1 Ligue suisse contre le cancer le cancer en suisse: les chiffres; Bern 20232 Nilsson M et al.: Cancer survivors’ experience of health-related quality of life six to eight years after diagnosis – a qualitative study. Open J Nurs 2021; 11: 882-95 3 Firkins J et al.: Quality of Life in «Chronic» Cancer Survivors: a meta-analysis. J Cancer Surviv 2020; 14: 504-17 4 Holm LV et al.: Participation in cancer rehabilitation and unmet needs: a population-based cohort study. Supportive Care Cancer 2012; 20: 2913-24 5 Sperisen N et al.: Domains and categories of needs in long-term follow-up of adult cancer survivors: a scoping review of systematic reviews. Healthcare 2024; 12: 1058 6 Organisation mondiale de la santé Réadapation Available online: https://www.who.int/fr/news-room/fact-sheets/detail/rehabilitation (accessed on 14 October 2024) 7 Eberhard S: La réadapation en médecine interne. Bulletin des médecins suisses 2012; 93: 1334-6 8 World Health Organisation: WHO report on cancer: setting priorities, investing wisely and providing care for all; World Health Organisation, Ed.; Geneva, 2020; ISBN: 978-92-4-000129-99 Silver JK: Integrating rehabilitation into the cancer care continuum. PM&R 2017; 9: S291-6 10 Stout NL et al.: Prehabilitation is the gateway to better functional outcomes for individuals with cancer. J Cancer Rehabil 2021; 4: 283-6 11 Strasser F: Onkologische Rehabilitation integriert in die Behandlungspfade der modernen Onkologie. Therapeutische Umschau 2019; 76: 449-9 12 Rohrmann S et al.: Swiss national survey on outpatient cancer re-habilitation (2018-2020): final report; Zurich 2020 13 Kessler C & Lasserre Moutet A: Concept de soutien à l’autogestion: lors de maladies non transmissibles, psychiques et d’addictions; Bern 2022
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