
«Über-Leben» – mit einer Haltung von Achtsamkeit und Selbstmitgefühl
Autorin:
Dr. sc. hum. Anette Brechtel
Psychologische Psychotherapeutin, Psychoonkologin (WPO e.V.)
Psychotherapeutische Praxis, Speyer
E-Mail: praxis@anette-brechtel.de
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Im Kontext einer Krebserkrankung erleben Patient*innen und Angehörige viel Leidvolles. Sie wünschen sich eine kompetente und mitfühlende Behandlung. Das erfordert von den an der Behandlung beteiligten Personen, dass sie sich auf die schmerzhaften Erfahrungen der Betroffenen einlassen und auch angesichts der eigenen Arbeitsbelastung Hilfe und Unterstützung geben können. Ein achtsamer und selbstmitfühlender Umgang mit leidvollen Gefühlen und Erfahrungen erweist sich nicht nur für Patient*innen und Angehörige als hilfreich und nährend, sondern auch für die Psychohygiene der Unterstützenden und Behandelnden stellt die Haltung von Achtsamkeit und Selbstmitgefühl eine wichtige Ressource dar.
Keypoints
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Krebspatient*innen und ihre Angehörigen erleben krankheits- und behandlungsbedingt vielfältiges Leid, das auch im Erleben der Behandelnden Spuren hinterlässt. Es gehört zu unserer menschlichen Natur, dass wir zunächst auf leidvolles Erleben mit Abwehr reagieren. Gleichzeitig sind wir als Menschen aber auch in der Lage, Leid mit Empathie und Mitgefühl zu begegnen, was in helfenden Berufen als wichtige Kompetenz betrachtet wird.
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Mitarbeitende in helfenden Berufen weisen ein erhöhtes Risiko auf, unter Burnout oder «compassion fatigue» zu leiden.
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Eine achtsame und selbstmitfühlende Haltung im Umgang mit leidvollem Erleben bedeutet, diesem Erleben Raum zu geben, präsent und fokussiert zu sein, sich im Sinne des Menschseins Empfindungen, Gefühle und Gedanken zuzugestehen und diesem Erleben mit Selbstmitgefühl und Selbstfreundlichkeit zu begegnen.
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Die Haltung von Achtsamkeit und Selbstmitgefühl in den Alltag zu integrieren ist kein Wohlfühl- oder Entspannungsprogramm, sondern ein tägliches Training, das hilfreiches Verhalten im Umgang mit Belastungen und Problemen ermöglicht – sowohl für Betroffene als auch für ihre Behandelnden.
Überleben im onkologischen Alltag bedeutet Konfrontation mit Leid. So werden Patient*innen und ihre Angehörigen angesichts der Diagnose Krebs krankheits- und behandlungsbedingt mit einer Vielzahl an Belastungen und Problemen konfrontiert. Dazu gehört sowohl körperliches Leid – Schmerzen, Wunden, Körperbildveränderungen oder Beeinträchtigungen der körperlichen Leistungsfähigkeit – als auch seelisches Leid – mit der Erkrankung einhergehende Ängste und Sorgen, die Angst zu sterben, Schmerzen zu erleiden, Gefühle von Verzweiflung und von Hilf- und Hoffnungslosigkeit, aber auch Gefühle der Scham und der Isolation.
Leidvoll werden auch soziale Veränderungen erlebt: der Verlust von sozialen Rollen und Funktionen, die Veränderung von Beziehungen und Freundschaften. Unter Umständen leiden die Betroffenen auch spirituell, wenn das Gefühl entsteht, im Glauben keinen Halt mehr zu finden und das Vertrauen in Gott zu verlieren. Erschwerend kommen existenzielle oder finanzielle Notlagen hinzu, so zum Beispiel die Sorge, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein oder den eigenen Lebensunterhalt bzw. den der Familie nicht mehr bestreiten zu können.
Auch das Leben der Personen, die die Betroffenen behandeln, unterstützen und begleiten, ist durch die Begegnung mit Leid gekennzeichnet. Hiervon betroffen sind z.B. Ärzt*innen, Pflegekräfte oder Psychoonkolog*innen. Als Teil des professionellen Helfer*innenteams erleben sie das Überleben und manchmal auch das Nichtüberleben der Patient*innen und sind gefordert, nicht nur einen hilfreichen Umgang mit dem Leid der Betroffenen zu finden, sondern auch das persönliche Belastungserleben zu bewältigen – und das oftmals noch unter zunehmend erschwerten Arbeitsbedingungen.
Reaktionen auf das Erleben von Leid
Es gehört zu unserer menschlichen Natur, dass wir unangenehmen Gefühlen und Empfindungen gern ausweichen. In der Regel versetzt uns die Konfrontation mit Leid in einen Alarmzustand. Entsprechend reagieren wir, indem wir gegen diesen Zustand ankämpfen, Leid vermeiden und davor flüchten oder indem wir angesichts des überwältigenden Gefühls der Hilflosigkeit erstarren.
Diese Reaktionsmuster können wir bei Betroffenen, aber auch im Behandlungsteam wiederfinden. Neben diesen mit dem Bedrohungsmodus assoziierten Reaktionsweisen verfügen wir Menschen auch über ein weiteres Verhaltensrepertoire: Wir sind fähig, uns in unser Gegenüber einzufühlen, das Leid und die Belastung einer Person wahrzunehmen und unser mitfühlendes Verhalten darauf auszurichten, dieser Person zu helfen.
Gerade in helfenden Berufen wird die Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl als wichtige Kernkompetenz betrachtet. Gleichzeitig beklagen viele Klinikärzt*innen und Pflegekräfte Zeit- und Arbeitsdruck, wodurch eine patient*innengerechte Versorgung oftmals erschwert wird. Vor diesem Hintergrund sind gerade Angehörige helfender Berufe gefährdet, durch berufliche Belastungen ein Burnout-Syndrom oder eine Mitgefühlsmüdigkeit («compassion fatigue») zu entwickeln.1–4
Die Bedeutung und der Nutzen von Achtsamkeit und Selbstmitgefühl
Achtsamkeit bedeutet, dass ich meine Aufmerksamkeit auf eine ganz bestimmte Weise ausrichte: nämlich absichtsvoll auf den gegenwärtigen Moment, und dies ohne zu urteilen.5 Das heisst, Achtsamkeit bedeutet wahrzunehmen, was da ist: Gedanken, Körperempfindungen und Gefühle, ohne diese emotional oder kognitiv zu verzerren.
Wenn ich achtsam bleibe, kann ich wahrnehmen, wie sich meine Gedanken vielleicht in der Vergangenheit verlieren, mit wenig hilfreichen «Warum-Fragen», oder Zukunftsszenarien kreiieren, die meine Sorgen und mein Leid verstärken. Eine Haltung von Achtsamkeit ermöglicht, die Gegenwart wahrzunehmen, sich allen Empfindungen zu öffnen, den Fokus neu auszurichten und dem Automatismus, gegen Leid anzukämpfen, auszuweichen und ihn zu unterbrechen.
In der Arbeit mit Patient*innen erweisen sich die Bilder eines Scheinwerfers und eines Ankers als hilfreich, um das Prinzip der Achtsamkeit zu erklären. Achtsamkeit erlaubt, den Scheinwerfer der eigenen Wahrnehmung wieder bewusst neu auszurichten – ihn wieder weit zu stellen, wenn sich der Fokus zu sehr verengt hat. Gleichzeitig ermöglicht Achtsamkeit, einen Anker zu werfen und sich so vom Sturm der Gedanken, Gefühle und Empfindungen nicht überwältigen zu lassen und auf das ausgerichtet zu bleiben, was gerade Aufmerksamkeit erfordert.
Wenn es gelingt, dem eigenen Erleben nicht nur achtsam, sondern im nächsten Schritt auch selbstmitfühlend zu begegnen, erschliessen sich daraus neue und hilfreiche Möglichkeiten, mit den bestehenden Belastungen umzugehen. Mit anderen mitfühlend zu sein ist vielen Menschen vertraut, viel schwerer fällt es jedoch, mitfühlend mit sich selbst zu sein.
Kristin Neff, die seit vielen Jahren zu diesem Thema forscht, beschreibt Selbstmitgefühl folgendermassen: «Es geht um das klare Erkennen unseres eigenen Leidens, um eine fürsorgliche Antwort auf unser Leiden, die den Wunsch zu helfen sowie die Erkenntnis einschliesst, dass Leiden Teil der gemeinsamen Erfahrung des Menschseins ist.»6 Forschungsergebnisse zeigen, dass mit der Entwicklung von Selbstmitgefühl vielfältige positive Effekte auf das psychische Wohlbefinden erzielt werden können.
Neff und Germer7 weisen darauf hin, dass Selbstmitgefühl die Reaktion des menschlichen Bedrohungssystems auf Stress zu reduzieren scheint, indem es die Aktivität des sympathischen Nervensystems unterdrückt und die parasympathische Aktivität erhöht. Auch gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass Selbstmitgefühl eine wichtige Ressource für Personen in Pflege- und Gesundheitsberufen darstellt.8–12
Im Umgang mit dem oben beschriebenen Erleben von Belastung und Leid im Kontext der Krebserkrankung oder -behandlung bedeutet dies, dass Betroffene im Umgang mit ihrem Erleben von Leid eine neue und hilfreiche Erfahrung machen können, wenn sie eine achtsame und selbstmitfühlende Haltung ihrem Erleben gegenüber einnehmen. Konkret beinhaltet diese Strategie, das empfundene Leid achtsam wahrzunehmen, anstatt es zu verdrängen oder dagegen anzukämpfen.
Im Weiteren geht es darum, die Empfindungen von Angst, Sorge, Trauer und Verzweiflung als etwas zutiefst Menschliches zu betrachten, d.h., sich daran zu erinnern, dass Krankheit, Leiden und Tod zum Leben gehören und einen Teil unseres Menschseins ausmachen. Dabei geht es nicht um billigen Trost, sondern vielmehr darum, dass sich der leidende Mensch mit anderen Menschen, anderen Patient*innen, verbunden fühlen und sich (wieder) als Teil einer Gemeinschaft wahrnehmen kann. Wenn es gelingt, dem persönlichen Erleben mitfühlend und selbstfreundlich zu begegnen, eröffnen sich neue Perspektiven und Verhaltensoptionen.
Uns Behandelnden ermöglicht eine achtsame und mitfühlende Haltung dem eigenen Erleben gegenüber, in Kontakt zu sein mit den eigenen Empfindungen, aber auch mit denen meines Gegenübers. Indem ich mir zugestehe, z.B. ein Gefühl der Erschöpfung zu spüren, kann ich die Warnzeichen für Überlastung wahrnehmen und hilfreich gegensteuern.
Gerade in emotional fordernden Situationen, wenn ich z.B. als Behandlerin einer verzweifelten und sich hilflos fühlenden Patientin gegenübersitze, hilft mir eine achtsame und selbstmitfühlende Haltung dabei, authentisch zu sein, fokussiert zu bleiben und mich nicht in dem Gefühl von Leid und Hilflosigkeit zu verlieren, sondern vielmehr eine menschliche Verbundenheit zu fühlen.
Damit gelingt es mir, dem Erleben der Patientin mehr Raum zu geben, ihre Gefühle mit zu tragen und mein Verhalten darauf auszurichten, ihr Leben und «ÜberLeben» hilfreich zu unterstützen.
Literatur:
1 Cavanagh N et al.: Compassion fatigue in healthcare providers: a systematic review and meta-analysis. Nurs Ethics 2020; 27(3): 639-65 2 Trufelli DC et al.: Burnout in cancer professionals: a systematic review and meta-analysis. Eur J Cancer Care 2008; (6): 524-31 3 Helaß M et al.: Burnout among German oncologists: a cross-sectional study in cooperation with the Arbeitsgemeinschaft Internistische Onkologie Quality of Life Working Group. J Cancer Res Clin Oncol 2022; 13: 1-13 4 Lombardo B, Eyre C: “Compassion fatigue: a nurse’s primer”. Online J Issues Nurs 2011; 16(1): 3 5 Kabat-Zinn J: Im Alltag Ruhe finden. Freiburg: Herder, 1998 6 Neff KD: Self-compassion: an alternative conceptualization of a healthy attitude toward oneself. Self and Identity 2003; 2: 85-102 7 Neff KD, Germer C: Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten. Freiburg: Arbor Verlag, 2021. S. 111 8 Durkin M et al.: A pilot study exploring the relationship between self-compassion, self-judgement, self-kindness, compassion, professional quality of life and wellbeing among UK community nurses. Nurse Educ Today 2016; 46: 109-14 9 Trockel M et al.: 2016 Physician Wellness Survey: Full Report. Stanford: Stanford Medicine, 2017 10 Kemper K et al.: Are mindfulness and self-compassion associated with sleep and resilience in health professionals? J Altern Complement Med 2015; 21 (8): 496-503 11 Hashem Z, Zeinoun P: Self-compassion explains less burnout among healthcare professionals. Mindfulness 2020; 11(11): 2542-51 12 Vaillancourt ES, Wasylkiw L: The intermediary role of burnout in the relationship between self-compassion and job satisfaction among nurses. Can J Nurs Res 2020; 52(4): 246-54
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