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Geriatrisches Assessment: Theorie und Praxis
Leading Opinions
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23.02.2017
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<p class="article-intro">Der dritte Fachtag Onko.Geriatrie widmete sich in verschiedenen Plenarvorträgen und Workshops unter anderem der Rolle des geriatrischen Assessments. Die Veranstaltung fand dabei auch 2016 wieder unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. med. Miklos Pless, Winterthur, Prof. Dr. med. Jörg Beyer, Zürich, PD Dr. med. Friedemann Honecker, St. Gallen, und der Fachexpertin für Onkologiepflege, Anita Margulies, Zürich, statt.</p>
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<p class="article-content"><p>Die Altersstruktur der Schweizer Bevölkerung hat sich in den letzten 100 Jahren stark verändert. So gibt es immer mehr alte und immer weniger junge Leute », betonte Prof. Pless in seinen einführenden Worten zu Beginn der Veranstaltung. Mit zunehmendem Alter treten aber auch gewisse Erkrankungen, so z.B. Krebs, häufiger auf. Prof. Pless wies in diesem Zusammenhang kurz auf die Ergebnisse einer Erhebung hin, die vor Kurzem am Tumorzentrum des Kantonsspitals Winterthur durchgeführt wurde.<br /> «Wir haben uns einmal die Anzahl an Patienten mit Lungen- oder gastrointestinalen Tumoren zwischen 2006 und 2016 angesehen. Ihre Gesamtzahl hat in diesem Zeitraum deutlich zugenommen. Dabei ist auch die Zahl der über 65-Jährigen gestiegen. Zudem erhält ein viel grösserer Teil der älteren Patienten, insbesondere auch der über 80-Jährigen, heute eine Chemotherapie», erläuterte er. Evidenz für Therapiekonzepte bei über 70-jährigen Tumorpatienten gebe es allerdings kaum.</p> <h2>Aktuelle Studien zur geriatrischen Onkologie</h2> <p>Mit der Datenlage zur geriatrischen Onkologie befasste sich auch Prof. Dr. med. Jörg Beyer, Zürich, mit einem Einblick in aktuelle Studien zum Thema. Eine der vorgestellten Arbeiten untersuchte den Anteil älterer Patienten in Lungenkarzinomstudien von 1990 bis 2012 und stellte dabei fest, dass dieser zugenommen hatte und dass insbesondere der Anteil an älteren Frauen in den Studien angestiegen war.<sup>1</sup> «Dieses Resultat ist jedoch mit Vorsicht zu geniessen. Es handelte sich bei den analysierten Arbeiten alles um Studien, die vom nationalen amerikanischen Krebsinstitut gefördert wurden und deshalb dazu verpflichtet waren, ältere Patienten einzuschliessen», erläuterte der Redner. Dieses Resultat sei daher noch lange nicht als repräsentativ für allgemeine klinische Studien anzusehen. Auch eine weitere Arbeit spricht davon, dass in Studien vermehrt ältere Patienten eingeschlossen werden.<sup>2</sup> «Schaut man sich jedoch die konkreten Zahlen der Patienten in den verschiedenen Altersgruppen an, so sind insbesondere Patienten über 70 nach wie vor unterrepräsentiert», schränkte Prof. Beyer hier ein. Zudem stammen die Ergebnisse zu den älteren Patienten in den meisten Fällen aus retrospektiven Subgruppenanalysen.<br /> Verschiedene Studien haben sich auch mit dem geriatrischen Assessment befasst. Hurria et al zeigten, dass sich das «Comprehensive Geriatric Assessment» (CGA) gut dazu eignet, das Risiko für Nebenwirkungen einer Tumortherapie bei älteren Patienten vorherzusagen.<sup>3</sup> In einer offenen Phase-III-Studie wurde bei älteren Lungentumorpatienten (Median 77 Jahre) untersucht, ob eine auf einem CGA basierende Therapiewahl im Vergleich zur Wahl auf Basis des Performance Status und des Alters die Überlebenszeit zu verlängern vermag.<sup>4</sup> Dies liess sich jedoch nicht bestätigen (Abb. 1). Bei Patienten mit einem CGA kam es jedoch zu signifikant weniger Nebenwirkungen. «Die Hoffnung also, dass das geriatrische Assessment als Basis für eine Therapieentscheidung eingesetzt werden kann, hat sich bisher noch nicht bewahrheitet. Zur Vorhersage der Nebenwirkungswahrscheinlichkeit einer Behandlung lässt es sich jedoch gut nutzen», erläuterte Prof. Beyer. Es bleibe jedoch die Frage, ob es wirklich ein so umfassendes Assessment brauche, wie es das CGA darstellt, oder ob in der Praxis auch ein einfacheres Vorgehen genügen würde. Prof. Beyer erinnerte in diesem Zusammenhang an eine Studie aus dem Jahr 2011 mit über 80-jährigen Lymphompatienten.<sup>5</sup> Hier wiesen Patienten mit einem IADL-Score («Instrumental Activities of Daily Living» wie einkaufen, kochen, telefonieren, Rechnungen bezahlen etc.) von 4 ein längeres Überleben als Patienten mit einem IADL-Score von unter 4 auf. «Und diese instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens kann ich im Gespräch mit meinem Patienten in sehr kurzer Zeit erfragen», meinte der Redner.<br /> Anita Margulies, Zürich, wies im Anschluss aus Sicht der Fachexpertin für Onkologiepflege auf einige spannende Publikationen hin. Eine dieser Studien beschäftigte sich mit der Frage, ob Assessment Tools allenfalls auch von Pflegenden eingesetzt werden könnten.<sup>6</sup> «Die Arbeit stellte fest, dass Pflegende mit einer entsprechenden Anleitung und Instruktion ein geriatrisches Assessment ebenso gut durchführen können wie alle anderen Mitglieder eines multidisziplinären Teams», erläuterte sie in diesem Zusammenhang. Geddie et al untersuchten, ob sich Faktoren identifizieren lassen, mit deren Hilfe ungeplante Spitaleinweisungen bei älteren Erwachsenen mit Krebs während der Therapiephase vorausgesagt werden könnten.<sup>7</sup> Dabei zeigte sich, dass das Vorliegen von Nebenwirkungen (wie Fieber, Erbrechen, Durchfall, Infektionen) und einer eingeschränkten Funktion prädiktiv für ungeplante Spitaleinweisungen waren. Dabei war es unerheblich, ob die Nebenwirkungen im Zusammenhang mit der Tumortherapie oder bereits bestehenden anderen Erkrankungen standen. Die Untersuchung kommt zum Schluss, dass Pflegende durch eine gezielte Beurteilung älterer Tumorpatienten und ihrer pflegenden Angehörigen dazu beitragen könnten, diejenigen zu identifizieren, die zusätzliche Unterstützung benötigen, und ihnen entsprechende praktische Massnahmen anzubieten.<br /> Im Zusammenhang mit pflegenden Angehörigen von älteren Tumorpatienten wies Anita Margulies darauf hin, dass diese selbst meist schon älter sind – im Durchschnitt 63 Jahre – und dass der Stress der Pflege ihnen einen hohen physischen sowie emotionalen Zoll abverlangt. «Diese Angehörigen sind anfälliger gegenüber einer Vielzahl an Erkrankungen. Zudem vernachlässigen sie oft ihre eigene Gesundheit durch verpasste oder verzögerte Kontrolltermine und Krebsvorsorgeuntersuchungen. » Beim Betreuen und Anleiten von Bezugspersonen müsse man daher nicht nur der Betreuung des Patienten Rechnung tragen, sondern auch auf den Gesundheitszustand der Bezugsperson achten. «Doch wer nimmt diese Verantwortung wahr?», fragte sie abschliessend.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Onko_1701_Weblinks_s70_abb1.jpg" alt="" width="1455" height="1030" /></p> <h2>Workshop: geriatrisches Assessment in der Onkologie</h2> <p>Auch einer von vier Workshops befasste sich mit dem Thema des geriatrischen Assessments. «Noch nie hat es so viele so alte und so gesunde Menschen gegeben wie heute», meinte Prof. em. Dr. med. Christoph Hürny, St. Gallen, zu Beginn. Er erinnerte daran, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen aktuell etwa 85 Jahre, diejenige der Männer rund 81 Jahre beträgt. «Im Alter geht jedoch alles langsamer, nicht nur das Wahrnehmen und Denken, sondern auch das Fühlen, Bewegen und die inneren Körpervorgänge», gab er zu bedenken. Ganz alte Menschen seien polymorbid, würden gleichzeitig an verschiedenen Krankheiten und Einschränkungen leiden und, ähnlich wie kleine Kinder, eine labile Homöostase aufweisen. «Die Tumorerkrankung ist also womöglich eine Erkrankung von vielen und für die noch verbleibende Lebensdauer nicht massgebend. » Dabei stehe auch bei Patienten in hohem Alter und mit nahem Lebensende die Erhaltung der Lebensqualität im Vordergrund. «Alle diese Faktoren machen die Behandlung von Hochbetagten sehr komplex », betonte Prof. Hürny.<br /> In dieser schwierigen Situation kann ein umfassendes geriatrisches Assessment helfen (Tab. 1). Die gesamtheitliche Erfassung des alten und ganz alten Patienten – unter Berücksichtigung verschiedener Ebenen – ermöglicht es, einen adäquaten mehrdimensionalen Behandlungsplan aufzustellen und einen vernünftigen Behandlungsentscheid zu treffen. Ein umfassendes geriatrisches Assessment sei jedoch aufwendig und werde meist stationär durch ein interprofessionelles Team im akutgeriatrischen Setting durchgeführt. Anhand eines Fallbeispiels zeigte Prof. Hürny anschliessend auf, wie sich ein geriatrisches Assessment ohne den Einsatz der diversen Skalen durchführen und dadurch auch in der Praxis umsetzen lässt. Dazu werden im Gespräch mit dem Patienten die soziodemografischen Daten (inkl. Finanzen), das soziale Umfeld, das Befinden, die Wahrnehmung und Kognition, Mobilität/Gleichgewicht, die Ernährung, die Selbstständigkeit/ Pflegebedürftigkeit sowie die ADL/ IADL erfragt. Die Entscheidung für das weitere Vorgehen bleibt jedoch weiterhin eine Ermessensfrage. «Je älter ein Patient, desto individueller muss entschieden werden. Und je älter ein Patient ist, desto mehr zählt meiner Meinung nach das Ermessen und weniger das Wissen, also die Evidenz», schloss Prof. Hürny.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Onko_1701_Weblinks_s70_tab1.jpg" alt="" width="1419" height="1281" /></p> <h2>Orale Tumortherapie im Alter</h2> <p>Dr. rer. nat. Dorothee Dartsch, Hamburg, sprach schliesslich aus Sicht der Pharmakologin über die Tumortherapie bei älteren Patienten. «Mit der wachsenden Zahl an Senioren und Hochbetagten steigt nicht nur die Krebsprävalenz, sondern auch die Komorbidität je Patient», erläuterte sie. Dabei kommen bei Krebspatienten kardiovaskuläre, rheumatische und endokrine Erkrankungen am häufigsten vor.<sup>8</sup> «Da diese ebenfalls medikamentös therapiert werden, steigt die Zahl der Arzneimittel pro Patient und damit auch die Anzahl an potenziellen Wechselwirkungen.» Informationen dazu, welche Wirkstoffe sich für geriatrische (onkologische) Patienten eignen und welche vermieden werden sollten, liefern unter anderem Positiv- bzw. Negativlisten wie die PRISCUS- oder FORTAListe.<sup>9, 10</sup><br /> Wie umfangreich und komplex ein Therapieschema ist, hat für ältere Patienten insbesondere auch bei oralen Tumortherapien Bedeutung. «Die Verantwortung für die korrekte Anwendung liegt hier vollständig beim Patienten anstatt – wie bei der parenteralen Behandlung – beim Onkologen. » Die Adhärenz ist jedoch gerade bei einer Krebstherapie von zentraler Bedeutung für den Erfolg der Therapie. «Angesichts der zahlreichen Faktoren, welche die Adhärenz gefährden können, und dies nicht nur bei geriatrischen Patienten, ist hier in besonderem Umfang ein multiprofessionelles Team gefordert», meinte Dr. Dartsch zum Schluss.</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: 3. Fachtag Onko.Geriatrie, 19. November 2016, Zürich
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Pang HH et al: Enrollment trends and disparity among patients with lung cancer in national clinical trials, 1990 to 2012. J Clin Oncol 2016; pii: JCO677088 [Epub ahead of print] <strong>2</strong> Le Saux O et al: Inclusion of elderly patients in oncology clinical trials. Ann Oncol 2016; 27: 1799-804 <strong>3</strong> Hurria A et al: Validation of a prediction tool for chemotherapy toxicity in older adults with cancer. J Clin Oncol 2016; 34: 2366- 71 <strong>4</strong> Corre R et al: Use of a comprehensive geriatric assessment for the management of elderly patients with advanced non-small-cell lung cancer: the phase III randomized ESOGIA-GFPC-GECP 08-02 study. J Clin Oncol 2016; 34: 1476-83 <strong>5</strong> Peyrade F et al: Attenuated immunochemotherapy regimen (R-miniCHOP) in elderly patients older than 80 years with diffuse large B-cell lymphoma: a multicentre, single-arm, phase 2 trial. Lancet Oncol 2011; 12: 460-8 <strong>6</strong> Burhenn PS et al: Geriatric assessment in daily oncology practice for nurses and allied health care professionals: opinion paper of the Nursing and Allied Health Interest Group of the International Society of Geriatric Oncology (SIOG). J Geriatr Oncol 2016; 7(5): 315-24 <strong>7</strong> Geddie PI et al: Family caregiver knowledge, patient illness characteristics, and unplanned hospital admissions in older adults with cancer. Oncol Nurs Forum 2016; 43(4): 453-63 <strong>8</strong> Nightingale G et al: Evaluation of a pharmacist-led medication assessment used to identify prevalence of and associations with polypharmacy and potentially inappropriate medication use among ambulatory senior adults with cancer. J Clin Oncol 2015; 33(13): 1453-9 <strong>9</strong> Holt S et al: Potentially inappropriate medications in the elderly: the PRISCUS list. Dtsch Arztebl Int 2010; 107(31-32): 543-51; Liste unter: http://priscus.net/download/PRISCUS-Liste_PRISCUS-TP3_2011.pdf verfügbar. <strong>10</strong> http://www.umm.uni-heidelberg.de/ ag/forta/FORTA_Liste_2015_deutsche_Version.pdf</p>
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