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Expertenkommentar

Evolution der Immunonkologie

Nicht jede wissenschaftliche Entwicklung führt zu einem Durchbruch, und nicht jeder Durchbruch kommt zum richtigen Zeitpunkt. Unter dem Blickwinkel der Evolution wissenschaftlicher Entwicklungen kommentiert Priv.-Doz. Dr. med. Ulf Petrausch Ergebnisse aus der Immunonkologie, die auf dem ASCO-Jahrestreffen 2023 präsentiert wurden.

Das 1962 publizierte Werk «The Structure of Scientific Revolutions» von Thomas S. Kuhn hat seine Aktualität weiterhin behalten, insbesondere in Bezug auf die Entwicklung weiterer tumorimmunologischer Therapien.

Thomas S. Kuhn postulierte vor 61 Jahren, dass die Entwicklung von wissenschaftlichem Wissen nicht durch eine kontinuierliche Ansammlung von immer neuen Informationen entsteht. Vielmehr gebe es immer wieder Phasen, in denen versucht wird, bestehende Thesen zu bestätigen. Im Verlauf dessen komme es dann zu Situationen, in denen diese alten Thesen aufgrund neuer Informationen nicht mehr gehalten werden können. Es folgt ein grosser wissenschaftlicher Fortschritt.

Ich denke, wir haben diese Entwicklung in den Nullerjahren mit der Einführung der Checkpoint-Blockade und in den 10er-Jahren mit der Einführung der CAR-T-Zell-Technologie gesehen und befinden uns nun in einer Situation, in der immer wieder gezielt neue Versuche gestartet werden, vor allem im klinischen Bereich Fortschritte zu erreichen. Meist handelt es sich hierbei jedoch nicht um dramatische Veränderungen der therapeutischen Möglichkeiten, die angestrebt oder erreicht werden.

Diese Beobachtung wurde auf dem ASCO-Jahrestreffen 2023 übrigens auch in der Oral-Abstract-Diskussion von Emiliano Calvo besprochen. Für gastrointestinale Tumoren wurde die gleiche Situation von Joel Randolph Hecht der David Geffen School of Medicine der University of California dargestellt. Er vertrat die Meinung, dass T-Zell-basierte Therapien sicherlich einen Fortschritt gebracht haben, ohne aber gänzlich neue Wege zu öffnen.

Vakzine und onkolytische Viren sind weiterhin in Erprobung, zeigen aber bisher keinen Durchbruch. Zelluläre Therapien könnten in Zukunft eine mögliche weitere Therapieoption darstellen.

Aus dieser Perspektive sah auch ich das ASCO-Jahrestreffen und werde die für mich wichtigsten Beobachtungen im Weiteren zusammenfassen.

Tumorimmunologie

Wenn man nun schaut, welche neuen Moleküle und Kombinationen auf dem Jahrestreffen präsentiert wurden, so wurde man vor allem in der Oral Abstract Session für Tumorimmunologie fündig.

Prinzipiell setzt sich das Konzept durch, dass PD-L1/PD-1-Inhibitoren mit neuen Substanzen kombiniert werden. Hier möchte ich exemplarisch Visugromab nennen. Hierbei handelt es sich um einen GDF-15-neutralisierenden Antikörper. Dieser zeigte in einer Phase-IIa-Studie erste interessante Ergebnisse bei Patient:innen mit fortgeschrittenen soliden Tumoren. Es konnte teilweise ein vollständiges Ansprechen gesehen werden.

Ein weiteres Beispiel für die Kombinationstherapie ist ATRC-101+Pembrolizumab. Der bei dieser Kombination postulierte Mechanismus ist, dass der Antikörper auf einem RNP-Komplex an der Oberfläche von Tumorzellen bindet und im Weiteren dann das Immunmilieu in eine proimmunogene Situation, ähnlich der des Lupus erythematodes, verwandelt. Die gezeigten Daten auf dem ASCO-Jahrestreffen unterstützen diese These mit der klinischen Beobachtung, dass der Einsatz zur lang anhaltenden Tumorkontrolle bei verschiedenen Tumoren geführt hat, welche in einem frühen Basket-Trial getestet worden sind.

Dass die Kombination von Checkpoint-Blockade plus einem weiteren therapeutischen Mechanismus ein erfolgversprechendes Konzept ist, zeigte ausserdem das 5-Jahres-Update der Studie KEYNOTE-426, die den Einsatz von Axitinib in Kombination mit Pembrolizumab im Vergleich zu Sunitinib beim metastasierenden Nierenzellkarzinom gezeigt hat. Auch in nun weiter maturierten Daten stellt sich ein Überlebensvorteil von 41,9% vs. 37,1% nach 60 Monaten dar. Die Hazard-Ratio beträgt 0,84 (95% CI: 0,71–0,99).

Ähnlich überzeugend sind die 4-Jahres-Daten des CLEAR-Trials, ebenfalls beim metastasierenden Nierenzellkarzinom. Hier wurde Lenvatinib plus Pembrolizumab vs. Sunitinib getestet. Auch hier zeigt sich nach vier Jahren weiterhin die Überlegenheit der Kombinationstherapie. 36 Monate nach Therapiestart zeigt die Kombination ein Gesamtüberleben von 66,4% versus 60,2% mit einer HR von 0,79 (95% CI: 0,63–0,99).

Resistenzmechanismen

Da es weiterhin eine grosse Zahl von Patient:innen gibt, die langfristig nicht von einer alleinigen Immuntherapie oder einer Kombinations-Immuntherapie profitieren, wurden am Jahrestreffen auch die möglichen Resistenzmechanismen diskutiert. Hier ist exemplarisch Hariett Kluger vom Yale Cancer Center mit ihrer «Educational Session» zu nennen. Dort wurden nochmals die bis anhin bekannten Mechanismen vorgestellt.

Zusammenfassend gibt es im Augenblick aus meiner Sicht hier keine neuen bahnbrechenden Erkenntnisse. Die Resistenzmechanismen könnten zunächst dem adaptiven Immunsystem zugewiesen werden, hier stehen vor allem eine insuffiziente Antigenpräsentation oder das Nichtvorhandensein von Neoantigenen im Vordergrund. Zusätzlich scheint es weiterhin eine sehr individuelle Ausprägung bezüglich des Primings von T-Zellen gegen Tumorantigene zu geben.

Im Weiteren scheinen chronische Inflammationen dafür zu sorgen, dass speziell T-Zellen in einem sogenannten «exhausted state» enden, welcher weitere Aktivität verhindert. Die altbekannten T-regs (regulatorische T-Zellen) sind im Tumor-Microenvironment zu finden und unterdrücken ebenfalls die adaptive Immunantwort.

Was aus meiner Sicht immer mehr an Bedeutung gewinnt, sind die Mechanismen des angeborenen Immunsystems. Hier sind vor allem suppressive tumorassoziierte Makrophagen zu nennen. Auch wird immer deutlicher, dass nicht ausgereifte Blutgefässe mit speziellen Endothelien dazu führen, dass T-Zellen nicht in das Tumor-Microenvironment infiltrieren können. Zusätzlich wird die immunsupprimierende Rolle von krebsassoziierten Fibroblasten immer deutlicher.

Was ich noch besonders interessant fand, da es hilft, eine gewisse Standardisierung zu erreichen, ist eine Definition davon, was als primäre und sekundäre Resistenz gegen Immuntherapien oder Kombinations-Immuntherapien verstanden werden darf. Hierzu machte die Society for Immunotherapy of Cancer einen Vorschlag.

So wird eine primäre Resistenz als eine Situation beschrieben, in der ein Medikament mehr als sechs Wochen gegeben wurde und innerhalb von sechs Monaten kein besseres Ansprechen erreicht werden konnte als eine Progression oder eine stabile Erkrankung. Eine sekundäre Resistenz wird so definiert, dass Patient:innen sechs Monate das Medikament erhalten haben und zwischenzeitlich ein komplettes Ansprechen, ein partielles Ansprechen oder eine stabile Krankheitssituation erreicht haben.

Ich denke, diese Einteilung ist wichtig, um genauer beschreiben zu können, wie Patient:innen reagieren, und um sie im Weiteren auch entsprechend behandeln zu können. So könnte davon ausgegangen werden, dass Patient:innen, die eine primäre Resistenz haben, von einer weiteren Immuntherapie deutlich weniger profitieren.

Ein Kuhn’sches Fazit

Zusammenfassend sind wir – um es mit Thomas S. Kuhns Worten zu sagen – sozusagen in der «Puzzle»-Situation, das heisst, es werden viele kleine neue Puzzlestücke zum Gesamtwissen der Tumorimmunologie zusammengefügt, aber es gibt im Augenblick keine grösseren, weiteren Sprünge im Wissen und bei den therapeutischen Möglichkeiten.

beim Verfasser

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