«Evaluation braucht Zeit»
Unsere Gesprächspartnerin:
Dr. sci. nat. Isabelle Roos
Patient Advocate
Swiss Cancer Institute
E-Mail: patients@swisscancerinstitute.ch
Das Interview führte Ingeborg Morawetz, MA
Dr. sci. nat. Isabelle Roos blickt auf eine Karriere in der Pharmaindustrie zurück. Die Erfahrungen, die sie dort gewonnen hat, aber auch jene aus ihrer Erkrankung setzt sie seit 2018 im SCI-Patientenrat ein, um die Perspektive von Krebspatient:innen inder Schweiz in Wissenschaft und Forschung zu etablieren.
Seit wann und warum sind Sie im SCI-Patientenrat?
I. Roos: Ich bin seit Ende 2018 im SCI-Patientenrat. Ich wurde damals von meinem Onkologen angefragt, weil er meinen beruflichen Hintergrund in der Pharmaindustrie kennt. Am Anfang wusste ich noch nicht, was ich beitragen kann, aber inzwischen arbeite ich mit Begeisterung mit. Wir treffen uns regelmässig und besprechen mögliche Projekte. Alle bestimmen, an welcher Stelle sie sich einbringen können und wollen.
Ich möchte in den Patientenrat sowohl meine Erfahrung als Patientin als auch meine berufliche Vergangenheit einbringen, vor allem mein Hintergrundwissen zu wissenschaftlichen Abläufen in der Forschung. Die Teilnahme am Patientenrat hat mir wirklich mehr Lebenssinn gegeben.
Was haben Sie beruflich gemacht?
I. Roos: Ich war im Pharmabereich in verschiedenen Funktionen tätig. Zuletztwar ich hauptsächlich in medizinischen Abteilungen beschäftigt. Somit hatte ich auch Kontakt mit Ärzt:innen und Berührungspunkte mit Studien, zum Beispiel in Investigator-Meetings. Mich interessiert das Gesundheitswesen im Ganzen. Aber der Blickwinkel alleinig aus Perspektive der Patient:innen war für mich neu und interessant, besonders auch, nachdem ich selbst an Krebs erkrankt war.
Hat Ihre eigene Erkrankung Ihren Blick auf die Anliegen von Patient:innen geändert?
I. Roos: Es ist schon über 20 Jahre her, dass ich krank war. Die Krankheit hilft, nicht nur meine persönliche Geschichte zu berücksichtigen, sondern auch Empathie für die Schicksale anderer Patient:innen zu fühlen. Mir hat damals der Verlust der Kontrolle recht zu schaffen gemacht. Aber natürlich ist jeder Patient anders. Und je nachdem, wo er in seinem Leben steht, ob er jung ist oder ob er eine Familie hat, unterscheiden sich die Situationen.
Deswegen finde ich auch den Austausch mit meinen Kolleg:innen so interessant, weil wir uns in manchen Urteilen nicht einig sind. Das ist aber gut, da wir schlussendlich nicht Vertreter:innen unserer eigenen Geschichte sind, sondern Vertreter:innen aller Krebspatient:innen in der Schweiz.
Worin unterscheiden sich die Meinungen im Patientenrat?
I. Roos: Es gibt Fragen, die sich irgendwann alle Menschen stellen müssen, je nachdem, in welcher Krankheits- oder Lebensphase sie sich befinden. Einige von uns sind zum Beispiel bereit, wirklich alles durchzumachen, um länger zu leben.
In einer vom Patientenrat zu beurteilenden Studie geht es dann darum, ob die Höhe der Lebensqualität oder die Verlängerung des Lebens zu bevorzugen ist. Die Prioritäten hängen oft auch vom Umfeld ab. In gewissen Situationen kann es Priorität haben, dass man genug Zeit hat, noch wichtige Angelegenheiten zu regeln, egal wie die Lebensqualität ist. Und in anderen Situationen ist es wiederum so, dass man auf einem anständigen Level von Lebensqualität noch so lange wie möglich mit der Umgebung interagieren möchte.
An welchen Projekten ist der Patientenrat beteiligt?
I. Roos: Der Patientenrat wird bei allen Forschungs- und Studienprojekten konsultiert, die vom Swiss Cancer Institute angegangen werden. Einmal im Monat gibt es eine Sprechstunde für Investigators. Mir ist es ein grosses Anliegen, dass der Patientenrat früh genug in Projekte einbezogen wird.
Neben der monatlichen Sprechstunde für Investigators geben wir auch fallweise Input. Viele Geldgeber verlangen heute, dass Patient:innen bei allen Forschungsprojekten konsultiert werden. Beim Nationalfonds oder bei Rising Tide gibt es also auch spezifische Fragen, die wir beantworten müssen, um zu erklären, warum ein Projekt aus Patient:innensicht wichtig ist und finanziert werden sollte. Wenn sich gerade Deadlines nähern, kommen da manchmal viele Projekte auf einmal auf uns zu. Es kann sein, dass wir in Zukunft mehr Termine für diese Konsultationen schaffen müssen.
Aber natürlich sind wir auch an anderen Projekten beteiligt, zum Beispiel an solchen zur Patient:innenkommunikation, wie gedruckte Patient:inneninformationen oder «lay summaries». Der Patientenrat organisiert auch Vorträge – ich persönlich aber nicht, ich habe in meiner Laufbahn genug Vorträge gehalten. Das überlasse ich gerne meinen Kolleg:innen.
Nebenbei reviewen wir Texte und gehen zu Informationsveranstaltungen – das machen immer die, die gerade Zeit haben. Mehr als zwei, drei von uns braucht es nicht pro Anfrage.
Haben Sie im Patientenrat die verschiedenen hämatoonkologischen Erkrankungen unter sich aufgeteilt?
I. Roos: In der «patient advocacy» gibt es grobe Merkmale der onkologischen Erkrankungen, die alle Patient:innen betreffen und die für alle wichtig sind. Aber auch in den spezifischen Merkmalen gibt es oft Überschneidungen. Deswegen gibt es bei uns auch nicht Zuständige für die einzelnen Entitäten, sondern wir kümmern uns oft alle um alles.
Wie sieht die Zukunft der Patient:innenvertretung aus?
I. Roos: Dass es mir heute gut geht, habe ich auch den Patient:innen zu verdanken, die vor meiner Zeit an Studien teilgenommen haben. Das Swiss Cancer Institute, damals noch mit dem Namen SAKK, hat schon früh begonnen, auf Patient:innenstimmen zu hören. Aber wir lernen immer noch dazu.
Deswegen ist zum Beispiel auch der Austausch mit anderen Ländern wichtig. Unter anderem stehen wir gerade im Dialog mit der deutschen Gruppe. Auf internationalen Kongressen kommen wir ausserdem in Kontakt mit Kolleg:innen aus Ländern, in denen die Patient:innenbeteiligung vielleicht noch ein bisschen weiter fortgeschritten ist als bei uns.
Sollten in der Schweiz noch mehr Patient:innen einbezogen werden?
I. Roos: Bei der Patient:innenbeteiligung gibt es verschiedene Levels. Im Patientenrat habe ich sehr erfahrene Kolleg:innen, die Patient:innengruppen betreuen und in konstantem Austausch mit Ärzt:innen stehen. Und wir absolvieren alle regelmässig Weiterbildungen. Aber für die Kommunikation ist es eben auch wichtig, dass man Patient:innen konsultiert, die nicht unser Hintergrundwissen haben: naive Patient:innen. Dieser Kontakt mit naiven Patient:innen ist nötig, um zu wissen, ob alle Bedürfnisse gedeckt sind und ob unsere Kommunikation wirklich bei den Betroffenen ankommt. Gerade überlegen wir uns, wie wir mehr naive Patient:innen in unsere Abläufe einbeziehen können. Mehr und mehr Spitäler in der Schweiz haben solche naiven Patient:innengruppen und wir wollen herausfinden, wie die optimale Zusammenarbeit funktionieren kann.
Was möchten Sie anderen Krebspatient:innen sagen?
I. Roos: Also auf jeden Fall: keine Angst vor der Forschung! In dem Bereich ist in der Schweiz noch Aufklärungsarbeit nötig. Ohne Forschung ist kein Fortschritt möglich. Ich würde sagen, alle Patient:innen profitieren von der Teilnahme an einer Studie, weil sie viel engmaschiger überwacht werden – selbst wenn sie nicht das neue Medikament, sondern die Standardtherapie erhalten. Und man weiss ja nie, ob die Standardbehandlung nicht doch die bessere ist.
Aber es geht zum Beispiel auch um Fragen der Dosierung und um Therapiepausen. Einige aktuelle Studien untersuchen, ob man mit geringerer Dosierung und längeren Pausen die Wirkung beibehalten und die Nebenwirkungen verringen kann.
Neben der individuellen Heilung ist es auch Studienteilnehmenden oft wichtig, dazu beizutragen, dass Daten gesammelt werden und die Krankheit in Zukunft besser verstanden wird.
Was würden Sie Onkolog:innen in der Schweiz gerne mitteilen?
I. Roos: Ärzt:innen sollten handkehrum keine Angst vor uns haben, auch wenn sie vielleicht noch nicht genau wissen, was wir zu Studien, Projekten und Veranstaltungen beitragen können. Es stimmt auch nicht, dass wir «Zeitverzögerer» sind. Von ärztlicher Seite wirkt die Zusammenarbeit manchmal schwierig und undurchsichtig, weil die Patient:innenvertretung aus so vielen heterogenen Gruppen besteht. Im Patientenrat haben wir deswegen auch einen Leitfaden für unsere Sprechstunden mit den Investigators entwickelt, in dem wir die Themen aufzeigen, die wir für unsere Evaluation brauchen. Wir müssen zum Beispiel wissen, warum ein Projekt wichtig für Ärzt:innen ist. Aber wir sollten auch Ahnung vom Studienprotokoll und von den Studienzielen haben. Vieles, was besprochen werden muss, entsteht aber auch erst in der Interaktion.
Was sind die Hürden, die dem Patientenrat im Alltag begegnen?
I. Roos: Wenn wir Projekte vor einer Einreichung beim Geldgeber beurteilen sollen, wäre es gut, wenn wir genug Zeit hätten, sie anzuschauen – das funktioniert leider nicht immer. Zwei, drei Tage vor dem Termin ist zu knapp. Evaluation braucht Zeit.
Manchmal wissen Geldgeber und Ärzt:innen auch nicht so genau, wozu wir fähig sind und was unsere Aufgaben sein können. Es würde helfen, wenn sie über unsere Möglichkeiten besser Bescheid wüssten.
Es braucht Aufklärungsarbeit in alle Richtungen. Wir lernen alle voneinander. Und ich finde es sehr spannend, bei diesem Prozess dabei zu sein.
Der SCI-Patientenrat
Der Patientenrat des SCI wurde 2015 gegründet und hat zehn Mitglieder. Seine Ziele sind:
die Kommunikation zwischen Forschenden und Patient:innen zu verbessern
Patient:innenbedürfnisse zu identifizieren, damit die Prioritäten bei Forschungsvorhaben patient:innenorientierter angelegt werden
die Aufklärung von Erkrankten bei einer Studienteilnahme zu verbessern
die Bedürfnisse der Teilnehmenden bei der Entwicklung von klinischen Studien und klinischen Fragestellungen vermehrt zu berücksichtigen
längerfristig innovative Therapien bereitzustellen, die optimal auf Patient:innenbedürfnisse ausgerichtet sind
die Betroffenen zu motivieren und zu ermutigen, an klinischen Krebsstudien teilzunehmen
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