Auf dem Weg zur individualisierten Behandlung
Chefärztin<br>Klinik für Neurologie<br>Kantonsspital St.Gallen<br>E-Mail: barbara.tettenborn@kssg.ch
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Epilepsie stellt eine der häufigsten chronischen Krankheiten im Kindes- und Erwachsenenalter dar. Knapp 1% der Schweizer Bevölkerung leidet an einer Epilepsie, das sind etwa 80000 Personen, davon etwa 15000 Kinder. 5 bis 10% aller Menschen erleiden in ihrem Leben einen epileptischen Anfall.
Ungefähr zwei Drittel der Menschen mit Epilepsie werden schon bei der Behandlung mit dem ersten richtig ausgewählten Medikament anfallsfrei, oft schon innerhalb des ersten Jahres der Behandlung. Anders sieht es für die ca. 30% der Patient*innen aus, die trotz jahrelanger Behandlung mit oft mehreren Medikamenten weiter unter Anfällen leiden – es liegt eine therapieresistente Epilepsie vor. Nach dem erfolglosen Einsatz von zwei in der Indikation korrekt gewählten Antikonvulsiva in adäquater Dosierung sollte eher früher als später an die Möglichkeit eines epilepsiechirurgischen Eingriffs gedacht werden.
Epilepsiechirurgie: in den Händen der Spezialisten
Kann durch Einsatz modernster Diagnostik ein fokaler Anfallsursprung identifiziert werden und liegt dieser nicht in einem eloquenten kortikalen Areal, kann eine chirurgische Entfernung dieses Areals zu Anfallsfreiheit führen. Die prächirurgische Diagnostik ist ein hochspezialisiertes Verfahren. Ergänzend zu visuellen EEG-Auswertungen werden vermehrt computerbasierte Analyseverfahren in die klinische Praxis integriert. Die korrekte Identifikation des epileptogenen Fokus ist der wesentliche prognostische Faktor für ein gutes Outcome. Die multimodale Bildgebung mit MRI (Magnetresonanzimaging), EEG (Elektroenzephalografie), MEG (Magnetenzephalografie) sowie PET (Positronenemissionstomografie) und SPECT («single photon emission computed tomography») ist mit aktuellen Softwarepaketen machbar, erfordert aber gewisse methodische Voraussetzungen, Verfügbarkeit der erforderlichen Geräte sowie Expertise in der Anwendung. Es wird daher absehbar in den Händen spezialisierter Epilepsiezentren bleiben, eröffnet aber Optionen insbesondere für die schwierigen, zunächst MRI-negativen Patient*innen. Der intraoperativen Bildgebung kommt in den letzten Jahren zunehmende Bedeutung zu. Sie ermöglicht die unmittelbare intraoperative Qualitätskontrolle und hilft, unerwünschte inkomplette Resektionen zu vermeiden.
Es gibt noch Lücken in der medikamentösen Therapie
Für Patient*innen mit schwer behandelbaren Epilepsien, die nicht für einen epilepsiechirurgischen Eingriff in Betracht kommen, liegt die Hoffnung auf der Entwicklung neuer medikamentöser Behandlungsansätze. Fast jedes Jahr wird ein neues Antikonvulsivum zugelassen, wobei sich die neueren Medikamente oft neben einer guten bis sehr guten Wirksamkeit vor allem auch durch eine verbesserte Verträglichkeit und ein geringeres Interaktionspotenzial im Vergleich zu den bereits länger im Handel befindlichen Medikamenten auszeichnen. Hier ist die Entwicklung von Antikonvulsiva mit weiteren neuen Wirkmechanismen zu erwarten, die gezielte, auf den einzelnen Patienten abgestimmte Behandlungen und auch sinnvolle Medikamentenkombinationen ermöglichen könnten.
Wünschenswert wären im Bereich der medikamentösen Behandlung auch neue Medikamente für idiopathisch generalisierte Epilepsien sowie die Entwicklung von Depot-Antikonvulsiva zur Verbesserung der Compliance.
Wichtige Ergänzung sind neue nichtmedikamentöse Optionen
Neben den medikamentösen Behandlungen werden auch grosse Hoffnungen auf den Bereich verschiedener neuer nichtmedikamentöser Therapieansätze gesetzt, zumeist zusätzlich zur Gabe von Antikonvulsiva. Dazu gehören z.B. die Radiochirurgie, die tiefe Hirnstimulation und die in den USA bereits von der FDA für die Behandlung fokaler Anfälle zugelassene responsive Neurostimulation. Bei Letzterer erkennen direkt auf dem epileptogenen Fokus liegende Elektroden individuelle Anfallsmuster noch vor dem klinischen Anfall. Bereits etabliert sind die Vagusnervstimulation oder auch – aus dem diätetischen Bereich – die ketogene Diät, die insbesondere bei dem seltenen autosomal-dominant vererblichen GLUT1-Defizit-Syndrom wirksam ist.
Wichtige Fortschritte der letzten Jahre
Bei genetisch bedingten Epilepsien sind bislang nur wenige Studien zu korrelierenden bildgebenden Befunden vorhanden, jedoch darf man in den nächsten Jahren Arbeiten zu dieser Thematik erwarten. Genetische Befunde können mit struktureller Bildgebung (z.B. Hippokampusvolumen, Malformationen der kortikalen Entwicklung) oder mit funktioneller Bildgebung (z.B. Tracer-Anreicherung in PET-Studien, BOLD-Signal bei fMRI-Studien) korreliert werden. Dieses Feld des «genetic imaging» steckt noch in den Anfängen.
Die Autoimmunenzephalitiden haben sich als feste Grösse in der Neurologie und vor allem der Epileptologie etabliert. Wesentliche Fortschritte hat es hier bei der Antikörperdiagnostik und den immunmodulatorischen Therapien gegeben.
Grosse prospektive Schwangerschaftsregister wie z.B. EURAP (European Registry of Anticonvulsants in Pregnancy) haben unsere Kenntnisse über teratogene Effekte von Antikonvulsiva in den letzten Jahren deutlich verbessert. Im Laufe der Zeit ergab sich daraus ein Rückgang des Einsatzes von Valproat (VPA) und Cabamazepin bei der Behandlung von Frauen im gebärfähigen Alter, während Lamotrigin und Levetiracetam zunehmend häufiger verordnet werden. Parallel dazu zeigt sich ein Rückgang grosser Fehlbildungen. In den letzten Jahren wurden zunehmend negative kognitive und psychische Auswirkungen auf die Kinder von Müttern bekannt, die während der Schwangerschaft VPA eingenommen haben. Trotzdem kann bei idiopathisch generalisierten Epilepsien in einigen Fällen auf das besonders gut wirksame VPA nicht verzichtet werden. Dabei sind dann alle Vorsichtsmassnahmen und die Aufklärungspflicht mit einmal jährlicher, schriftlich zu unterzeichnender Aufklärung über die Risiken unter einer Behandlung mit Valproat zu beachten. Erfreulich ist, dass die VPA-Schwangerschaftsproblematik offenbar aktuell dazu führt, dass nun auch bei den anderen Antikonvulsiva systematischer auf teratogene kognitive und psychische Effekte geachtet wird.
Die Folgen der Pandemie
Die Covid-19-Pandemie hat gleich zu Beginn die Problematik der Abhängigkeit von globalen Lieferketten bei Antikonvulsiva und vielen anderen Medikamenten aufgezeigt. Gerade für Epilepsiepatient*innen ist es von besonderer Wichtigkeit, dass sie «ihr» Medikament kontinuierlich erhalten. Ein unkritischer Herstellerwechsel von Antikonvulsiva kann weitreichende negative Folgen im Sinne von wieder oder vermehrt auftretenden epileptischen Anfällen haben und sollte – insbesondere bei anfallsfreien Patient*innen – unbedingt vermieden werden. Es bleibt zu hoffen, dass schnellstmöglich Massnahmen getroffen werden, die diese Fragilität der Lieferketten für Antikonvulsiva dauerhaft beheben und für ausreichende lokale Versorgungskapazitäten sorgen.
Ausblick
Aufgrund der immer höher werdenden Lebenserwartung von uns allen nehmen Epilepsien im höheren Lebensalter einen immer grösser werdenden Raum ein. Schlaganfall ist die häufigste Ätiologie neu diagnostizierter Epilepsien jenseits von 65 Jahren. Der neu entwickelte und sehr einfach am Krankenbett anzuwendende SeLECT-Score eignet sich zur Vorhersage einer postischämischen Epilepsie. Parameter, die die Vorhersagekraft in Zukunft zusätzlich verbessern können, sind EEG, Neuroimaging, Entzündungsmarker, Genetik, Einbeziehung von Komorbiditäten (psychiatrische Erkrankungen, Schlafstörungen, Diabetes etc.). Dies ist ein wichtiger Schritt in Richtung personalisierter Epilepsiebehandlung. Soweit bislang bekannt ist, erhöht eine Thrombolyse das Risiko für klinische epileptische Anfälle nicht, möglicherweise kommt es aber zum vermehrten Auftreten epilepsietypischer Potenziale im EEG. Hier sind in naher Zukunft weitere richtungsweisende Ergebnisse zu erwarten.
Zur optimalen Versorgung der Patient*innen in der Zukunft sind verschiedene Punkte neben den bereits erwähnten Aspekten wünschenswert: Dazu gehört die Entwicklung von besserem ambulantem EEG-Longterm-Monitoring sowie neuen Devices zur Anfallsvorhersage und Anfallsdetektion (z.B. «night watch»), um zu erkennen, ob Patient*innen im Alltag oder auch nachts noch Anfälle haben, und damit eine massgeschneiderte Behandlung zu ermöglichen. Die interdisziplinäre Versorgung von Patient*innen mit dissoziativen Anfällen sowie von Patient*innen mit geistiger Behinderung und Epilepsie einschliesslich Transitionssprechstunden ist verbesserungsbedürftig. Generell ist eine engere Zusammenarbeit zwischen Epileptolog*innen und Psychiater*innen in der Betreuung von Epilepsiepatient*innen mit psychiatrischen Komorbiditäten wünschenswert. Dies alles mit dem Ziel, die soziale und berufliche Integration von Patient*innen mit Epilepsie zu verbessern und die leider oft immer noch vorhandene Stigmatisierung zu verringern. Der Weg zu diesem Ziel wird nur über eine individualisierte therapeutische Strategie möglich sein.
Literatur:
bei der Verfasserin
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