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Natürliche In-vitro-Fertilisation (IVF)

«Nicht nach dem Giesskannenprinzip»

Klassische und natürliche IVF werden oft als dogmatisch getrennt angesehen. Prof. Dr. med. Michael von Wolff aus Bern erklärt, warum die natürliche IVF in Kombination mit der klassischen eine individualisierte Behandlung mit hohen Erfolgschancen unter Berücksichtigung der Wünsche des Paares ermöglicht.

Klassische versus natürliche IVF

  • Ziel der klassischen IVF ist, möglichst viele Eizellen zu gewinnen, 1–2 Embryonen zu transferieren und die überzähligen Embryonen beziehungsweise Zygoten für einen weiteren Auftauzyklus zu verwenden oder für ein zweites IVF-Kind einzufrieren. Die Eierstöcke werden mit Gonadotropinen stimuliert, der Eisprung wird mit HCG ausgelöst und nach dem Eisprung nimmt die Frau Gelbkörperhormone.

  • Zur natürlichen IVF (IVF-Naturelle®) gehören die Natural-Cycle-IVF (NC-IVF) und die Minimal-Stimulation-IVF. Bei der NC-IVF (Abb. 1) erfolgt keine Hormonstimulation, die Frau bekommt nur die eisprungauslösende Spritze. Um das Risiko für einen vorzeitigen Eisprung zu senken, kann die Frau nichtsteroidale Antirheumatika, Einzeldosen von GnRH-Antagonisten und niedrige Dosen von Clomifencitrat oder Letrozol erhalten. In diesem Fall wird von modifizierten NC-IVF-Therapien gesprochen. Die Minimal-Stimulation-IVF kombiniert die Vorteile von NC-IVF und klassischer IVF. Es erfolgt eine Hormonstimulation, aber mit geringeren Dosen als bei der klassischen Technik (maximale Gonadotropindosis 75 Einheiten humanes Menopausen-Gonadotropin [HMG]/FSH). Es werden oft mehrere Eizellen gewonnen, sodass die Chance auf ein Kind grösser ist als bei der NC-IVF.

Abb. 1: Bei der natürlichen IVF spritzt sich die Frau keine Hormone in der ersten Zyklushälfte und nimmt auch keine Hormone in der zweiten Zyklushälfte (Quelle: IVF-Naturelle®)

Das Ergebnis der australischen Studie1 ist klar: Mit eingefrorenen Embryonen ist die Chance auf ein zweites IVF-Kind grösser. Also sollte man jeder Frau raten, die kryokonservierten Embryonen für die nächste Schwangerschaft zu verwenden?

M. von Wolff: Das lässt sich nicht pauschal mit Ja oder Nein beantworten, auch wenn die Studie das suggeriert. Nehmen wir an, eine Frau hat mit 30 Jahren ein Kind per IVF bekommen und sie kommt mit 35 Jahren wieder zu mir und möchte ein zweites. Dieser Frau sage ich: Wir probieren es erst mit den eingefrorenen Embryonen, und wenn Sie damit nicht schwanger werden, stimulieren wir. So eine Stimulation ist belastend für die Frauen. Abgesehen davon sind die jüngeren Embryonen gesünder und haben ein geringeres Trisomie-21-Risiko. Kommt eine Frau dagegen erst mit 40 Jahren wieder, könnte es besser sein, zunächst zu stimulieren, da die Chance, mit frischen Oozyten schwanger zu werden, mit jedem Monat abnimmt. Die eingefrorenen Embryonen kann sie zunächst aufheben, denn sie bleiben ja gleich gut, weil sie eingefroren sind.

Wie schnell könnten die Frauen wiederkommen?

M. von Wolff: Ungefähr ein Jahr nach der Geburt. Ältere Frauen können sich bereits nach einem halben Jahr vorstellen. Der Uterus muss sich zurückbilden. Abgesehen davon wird ja empfohlen, mehrere Monate zu stillen. Das gilt natürlich auch dann, wenn die Frau beim ersten Mal auf natürlichem Wege schwanger geworden ist.

Apropos natürlich: Sie haben die IVF-Naturelle® ins Leben gerufen und 2012 sogar ein Netzwerk gegründet, um die Methode publik zu machen. Was war der Auslöser dafür?

M. von Wolff: Als ich vor 14 Jahren auf einem Kongress in London von der natürlichen IVF hörte, war ich gleich begeistert. Wir haben immer gedacht, wir müssen die Eierstöcke so viel wie möglich stimulieren. Es kommt aber darauf an, wie viele Eizellen noch in den Eierstöcken sind. Salopp gesagt: Wenn der Motor fast kaputt ist, kann man so viel aufs Gaspedal treten, wie man will – das Auto wird einfach nicht schneller. Will heissen: Stellen die Eierstöcke nur 1 bis 2 Eizellen pro Monat zur Verfügung, reifen auch mit der besten Stimulation nicht mehr Zellen heran.

Für welche Frauen eignet sich die natürliche IVF?

M. von Wolff: Für wen sich welche IVF-Technik eignet, hängt vom Einzelfall ab. Hierbei spielen die Wünsche des Paares und die individuellen Prognosefaktoren der Frau eine Rolle. Wir vom Netzwerk haben versucht, das in einem Algorithmus zu erklären.2 Vielleicht hilft der bei der Beratung eines Paares.

Können Sie uns ein Beispiel nennen, welcher Frau Sie eine natürliche IVF empfehlen?

M. von Wolff: Zum Beispiel, wenn eine Frau keine Hormone und keine Narkose möchte und wenn ihr Zyklus regelmässig ist. Generell sind die Chancen bei der natürlichen IVF sehr gut bei Frauen, die jünger als 35 Jahre alt sind, einen regelmässigen Zyklus haben und bei denen die schlechte Spermienqualität des Mannes für die Infertilität verantwortlich ist. Die natürliche IVF ist auch sinnvoll, wenn eine 37-Jährige nur noch eine geringe Ovarreserve hat. Werden diese Frauen nach mehreren natürlichen Zyklen nicht schwanger, schlage ich eine Stimulation mit einer geringen Hormondosis vor, also eine Minimal-Stimulation-IVF. Einer 40-Jährigen mit einer noch hohen Ovarreserve würde ich dagegen sofort eine klassische IVF empfehlen.

Wie sind die Erfolgschancen?

M. von Wolff: Mit der natürlichen IVF braucht eine Frau im Schnitt 3,5 Zyklen mehr, um ein Kind zu bekommen, wie britische Forscher anhand von 584835 stimulierten und 6168 nicht stimulierten Zyklen herausfanden.3 Die Wahrscheinlichkeit, in einem Zyklus schwanger zu werden, ist zwar mit der klassischen IVF deutlich höher. Da aber eine klassische IVF insgesamt etwa 3 Monate dauert und in dieser Zeit drei natürliche IVF gemacht werden können, ist der Unterschied nicht gross. Das bedeutet: Mit der klassischen IVF ist nach 4 Monaten etwa jede zweite Frau schwanger, mit der natürlichen nach 5 Monaten.

Ist die natürliche IVF billiger, weil die Frau weniger Hormone braucht?

M. von Wolff: Nein. 3 bis 4 Zyklen einer Natural-Cycle-IVF oder einer Minimal-Stimulation-IVF kosten ähnlich viel wie ein kompletter Therapiezyklus einer klassischen IVF. Wenn aber die Frau im ersten Zyklus einer natürlichen IVF schwanger wird, hat sie viel Geld gespart.

Ist die natürliche IVF gesünder?

M. von Wolff: Für die Mutter sind die Risiken der natürlichen IVF sicherlich geringer. Allerdings ist es so, dass auch die klassische IVF inzwischen sehr risikoarm ist. Die Kinder, die nach einer natürlichen IVF geboren werden, haben ein normaleres Geburtsgewicht als die Kinder nach einer klassischen IVF. Ob die Kinder deswegen aber wirklich gesünder sind, wissen wir noch nicht.

Auf Kongressen und in Gesprächen mit Kollegen erlebt man immer wieder, dass die verschiedenen Techniken als dogmatisch getrennt angesehen werden.

M. von Wolff: Ja, das ärgert mich. Es gibt hier aber nicht weiss oder schwarz, sondern die Techniken ergänzen sich.

Wie meinen Sie das?

M. von Wolff: Das Paar entscheidet mit dem Arzt, mit welchem Therapiepfad (natürlich oder klassisch) man anfängt – ganz im Sinne einer partizipativen Entscheidungsfindung. Je nach Behandlungserfolg – also Transferrate, Embryoqualität und Belastung durch die Therapie – entscheidet man gemeinsam, ob der eingeschlagene Pfad weiter verfolgt wird oder ob die Therapie umgestellt werden sollte. Die Pfade können sich auch während einer Behandlung kreuzen.2 Ein solches Vorgehen verhindert eine Indikation für eine IVF-Therapie nach dem Giesskannenprinzip und ermöglicht eine individualisierte Therapie mit hohen Erfolgschancen unter Berücksichtigung der Wünsche des Paares.

Nähere Informationen zur natürlichen IVF unter: https://ivf-naturelle.de

Weitere Informationen finden Sie hier:
Chancen auf ein zweites Kind
"Die Vorgeschichte des Paares ist entscheidend"

1 Paul RC et al.: Human Reproduction 2020; 35(6): 1432-40 2 von Wolff M, Magaton I: Gynäkologe 2020; 53: 588-96 3 Sunkara SK et al.: Human Reproduction 2016; 31: 2261-7

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