Kognitive und soziale Folgen eines Schlaganfalls
Autorin:
PD Dr. med. Susanne Renaud
Leitung Stroke Unit
Chefärztin Abteilung für Neurologie
RHNe – Réseau Hospitalier Neuchâtelois
Neuchâtel
E-Mail: susanne.renaud@rhne.ch
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Jährlich erleiden in der Schweiz rund 249 von 100000 Menschen einen Schlaganfall, dessen Folgen weit über die akute medizinische Versorgung hinausreichen. Neben motorischen Einschränkungen sind insbesondere kognitive, emotionale und soziale Beeinträchtigungen häufig, die die Lebensqualität der Betroffenen erheblich mindern. Eine frühzeitige Diagnostik, gezielte Therapie und umfassende Nachsorge sind entscheidend, um die langfristigen psychosozialen Folgen abzumildern.
Keypoints
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Post-Stroke-Depression und kognitive Defizite sind häufig und beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen nachhaltig.
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Früherkennung und multimodale Therapie – inklusive Screening, medikamentöser Behandlung, Psychotherapie und Rehabilitation – verbessern funktionelle Ergebnisse und Lebensqualität.
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Faktoren wie körperliche Einschränkungen, neuropsychologische Defizite und Angststörungen beeinflussen die Rückkehr in Alltag und Beruf und müssen gezielt angegangen werden.
In der Schweiz erleiden jährlich rund 249 von 100000 Einwohnerinnen und Einwohnern einen Schlaganfall, wobei die Schlaganfallmortalität zwischen 2019 und 2023 bei durchschnittlich 12,2 pro 100000 lag (9,3 bei Männern, 15,6 bei Frauen). Diese Zahlen unterstreichen nicht nur die medizinische, sondern auch die weitreichenden psychosozialen Konsequenzen dieser Erkrankung.
Frauen haben eine schlechtere Prognose
Frauen sind beim ersten Schlaganfall im Durchschnitt älter als Männer, was unter anderem zu einer ungünstigeren Prognose beiträgt. Das fortgeschrittene Alter geht häufig mit schwereren Schlaganfällen einher und wirkt sich negativ auf die funktionelle Erholung aus. Zudem besteht bei Frauen häufiger bereits vor dem Schlaganfall eine eingeschränkte Alltagsfunktion. Ein weiterer relevanter Faktor ist das häufigere Vorkommen von Vorhofflimmern, das nicht nur das Schlaganfallrisiko steigert, sondern auch mit schwereren klinischen Verläufen assoziiert ist. Diese Kombination begünstigt eine höhere Belastung durch Behinderungen nach dem Ereignis und verstärkt die psychosozialen Auswirkungen für betroffene Frauen.
Post-Stroke-Depression ist häufig und beeinträchtigt Rehabilitation und Lebensqualität
Die Post-Stroke-Depression (PSD) betrifft etwa ein Drittel der Schlaganfallüberlebenden und stellt eine der häufigsten neuropsychiatrischen Komplikationen dar. Sie ist mit einem erhöhten Risiko für ein Scheitern der Rehabilitation, einem funktionellen Abbau sowie einer gesteigerten Suizidalität verbunden.1 Dong zeigte, dass das Risiko für eine PSD bei Patientinnen und Patienten mit bereits vorbestehender Depression signifikant erhöht ist,2 was die Notwendigkeit einer frühzeitigen psychologischen und psychiatrischen Mitbetreuung unterstreicht.
Im Jahr 2023 lag die Suizidrate bei den über 85-Jährigen in der Schweiz, inklusive der assistierten Suizide, bei 267,4 pro 100000 Einwohner, was die besondere Vulnerabilität dieser Altersgruppe und die hohe Relevanz präventiver Massnahmen verdeutlicht.3,4 Bei 28–46% der jungen Schlaganfallpatienten entwickelt sich eine PSD, die mit einem Suizidrisiko von bis zu 7% einhergeht.5 Besonders gefährdet sind Patientinnen und Patienten mit einer Vorgeschichte von affektiven Störungen, was die Bedeutung einer frühzeitigen Diagnostik und langfristigen psychischen Nachsorge unterstreicht.
Die Lokalisation des Schlaganfalls gilt als potenzieller Risikofaktor für die Entwicklung einer PSD, wenngleich methodische Einschränkungen die Datenlage bislang begrenzen. Frühere Studien weisen darauf hin, dass Läsionen in den frontalen Hirnregionen sowie in den Basalganglien mit einem erhöhten Risiko für depressive Symptome assoziiert sind, wobei insbesondere die linke Hemisphäre häufiger betroffen scheint. Neuere Ansätze der Hirnnetzwerkanalyse legen nahe, dass nicht nur die isolierte Läsion, sondern vielmehr die Störung funktioneller Netzwerke für die Entstehung der Depression entscheidend ist. Allerdings handelt es sich bei diesen Arbeiten bislang überwiegend um Pilotstudien, sodass weitere Untersuchungen mit modernen bildgebenden Methoden erforderlich sind.6
Früherkennung mit PHQ-9/PHQ-2 ermöglicht gezielte Intervention
Ein etabliertes Instrument zum Screening auf PSD ist der Patient Health Questionnaire-9 (PHQ-9), der depressive Symptome anhand von neun DSM-5-Kriterien erfasst. Er kann sowohl in der Akutphase als auch im Verlauf nach einem Schlaganfall eingesetzt werden und erlaubt eine Einschätzung des Schweregrades. In der Rehabilitation bietet er den Vorteil, dass er leicht durchführbar, wiederholbar und für das Monitoring geeignet ist. Eine 2024 in BMC Neurology veröffentlichte Studie zeigte, dass der PHQ-9 in der akuten Phase eine Sensitivität von 0,85 und eine Spezifität von 0,90 aufweist; in der chronischen Phase liegen Sensitivität und Spezifität bei 0,75 bzw. 0,86.7 Der PHQ-2 erreichte in der chronischen Phase eine Sensitivität von 0,73 und eine Spezifität von 0,90.
Allida et al. zeigten in einem systematischen Review, dass antidepressiv wirkende Medikamente, insbesondere SSRI, depressive Symptome moderat reduzieren.8 Auch psychotherapeutische Ansätze wie kognitive Verhaltenstherapie verbessern Stimmung und funktionelle Genesung. Frühzeitige Erkennung und Behandlung sind entscheidend, um Rehabilitationserfolge zu sichern und das Risiko für funktionellen Abbau oder Suizidalität zu verringern. Ein multimodaler Ansatz aus medikamentöser Therapie, Psychotherapie und psychosozialer Unterstützung verbessert die Lebensqualität nachhaltig.
Mehrere randomisierte kontrollierte Studien untersuchten präventive Massnahmen gegen PSD. Besonders Robinson et al. belegten, dass pharmakologische wie auch psychotherapeutische Interventionen die Entwicklung einer PSD wirksam reduzieren können.9
Sexuelle Funktion und Lebensqualität werden durch Schlaganfall multifaktoriell beeinflusst
Bis zu 50% der Schlaganfallpatienten berichten über Schwierigkeiten in ihrem Sexualleben, die häufig multifaktoriell bedingt sind.10,11 Primäre Faktoren entstehen direkt durch den Schlaganfall, etwa Beeinträchtigungen von Lubrikation, Erektion oder Orgasmus, sowie durch zerebrovaskuläre Risikofaktoren wie Bluthochdruck oder Diabetes. Sekundäre Faktoren ergeben sich aus Folgebehinderungen wie Hemiplegie oder Inkontinenz, tertiäre Faktoren betreffen die psychologische Anpassung, einschliesslich veränderten Körperbildes, Depressionen, kognitiver Probleme und der Einstellung des Partners. Behandlungsmöglichkeiten umfassen Sertralin, strukturierte Sexualtherapie und Beckenbodentherapie.
Kognitive Defizite und Demenz sind sehr häufig und gerade für schwere Schlaganfälle fehlen Screening-Instrumente
El Husseini et al. berichten, dass nach einem Schlaganfall bei 22–80% der Patientinnen und Patienten kognitive Beeinträchtigungen auftreten, während die Post-Stroke-Demenz eine Prävalenz von 7–41% aufweist.12 Häufige Begleiterkrankungen innerhalb der ersten 12 Monate nach Schlaganfall sind körperliche und funktionelle Einschränkungen (40–60%), Fatigue (45–55%), Schlafstörungen (50–60%), Multimorbidität (40%), Apathie (30–40%) und Angststörungen (20–25%). Diese komorbiden Zustände tragen wesentlich zu einer verminderten Lebensqualität bei.
Die Entwicklung von «post-stroke cognitive impairment and dementia» (PSCID) wird durch Index-Stroke-Charakteristika, modifizierbare Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Diabetes, Hyperlipidämie und Lebensstil sowie nicht modifizierbare Faktoren wie Alter, genetische Prädisposition und vorbestehende zerebrovaskuläre Schäden beeinflusst.13 Fortgeschrittene MRT-Techniken und Biomarker wie Serum-NfL ermöglichen Einblicke in Degeneration von Faserbahnen, kortikale Ausdünnung, Eisenablagerungen und Vernetzung des Kortex, sowohl in der akuten als auch in der chronischen Phase.
Mijajlovic et al. beschreiben, dass kognitive Verläufe nach Schlaganfall sehr unterschiedlich sein können: Manche Patientinnen und Patienten zeigen nach dem Schlaganfall einen klar definierten kognitiven Abbau, andere haben bereits vor dem Schlaganfall kognitive Einschränkungen und unterschiedliche Post-Stroke-Verläufe ihrer kognitiven Funktionen.14 Godefroy betont, dass etablierte Screening-Instrumente wie MMSE und MoCA nur mässig sensitiv sind und nicht alle Domänen abdecken und auch neue Tests besonders für schwere Schlaganfälle und für aphasische Patienten benötigt werden.15
Patientinnen und Patienten sollten systematisch auf kognitive Beeinträchtigungen untersucht werden, alternative Ursachen wie Delir, Depression, metabolische Störungen, Infektionen oder Polypharmazie ausgeschlossen und Komorbiditäten wie körperliche Behinderungen, Schlafstörungen, soziale Isolation sowie Stimmungs- und Angststörungen behandelt werden.12 Die Koordination von Versorgung, Beratung zu häuslicher Sicherheit, Fahrfähigkeit, Rückkehr an den Arbeitsplatz und die Unterstützung pflegender Angehöriger sind entscheidend. Ausserdem sollen die Progression kognitiver Defizite minimiert, sekundäre Schlaganfälle verhindert, die Funktionalität optimiert und kognitive Rehabilitation umgesetzt werden. Körperliche Aktivität und gegebenenfalls pharmakologische Therapien ergänzen die Behandlung.
Die Fahrfähigkeit nach Schlaganfall hängt von motorischen und neuropsychologischen Defiziten, Hemineglekt, homonymer Hemianopsie, persistierenden Doppelbildern und Schlaganfallrisiko ab. In der Schweiz gibt es bislang keine offiziellen Empfehlungen zur Beurteilung der Fahreignung.
Die Rückkehr an den Arbeitsplatz ist nach Hirnblutungen weniger wahrscheinlich
Für die Rückkehr an den Arbeitsplatz sind Art des Schlaganfalls, Hemiplegie, neuropsychologische Defizite und Unabhängigkeit in den ADL entscheidend.16 Wicht zeigte, dass 43% der Patientinnen und Patienten nach leichtem Schlaganfall nicht an ihre Arbeit zurückkehrten, wobei Angststörungen, NIHSS-Wert zu Beginn und Hyperlipidämie Risikofaktoren waren.17
Hausärzt:innen spielen eine wichtige Rolle
Hausärzte und Hausärztinnen können die Lebensqualität von Schlaganfallüberlebenden verbessern, indem sie Komorbiditäten behandeln, Medikamente korrekt einsetzen und überwachen, Lebensstiländerungen fördern, regelmässige funktionelle und kognitive Kontrollen durchführen, die Versorgung koordinieren, Patientinnen und Patienten sowie Angehörige unterstützen und für Notfälle die schnelle Alarmierung über die Nummer 144 sicherstellen.
Literatur:
1 Jeong H et al.: Post-stroke depression: Epigenetic and epitranscriptomic modifications and their interplay with gut microbiota. Mol Psychiatry 2023; 28: 4044-55 2 Dong Y et al.: Sex difference in prevalence of depression after stroke. Neurol 2020; 94: 1973-83 3 Laurent S / RTS: Suizide in der Schweiz. 29.6.2025. https://www.srf.ch/news/dialog/folge-der-sterbehilfe-suizide-haben-bei-aelteren-menschen-deutlich-zugenommen; letzter Zugriff 22.10.2025 4 Bundesamt für Statistik (BFS): Spezifische Todesursachen. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/sterblichkeit-todesursachen/spezifische.html ; letzter Zugriff 22.10.2025 5 Kapoor R et al.: Symptoms of depression and cognitive impairment in young adults after stroke/transient ischemic attack. Psychiatry Res 2019; 279: 361-3 6 Nickel A, Thomalla G: Post-stroke depression: Impact of lesion location and methodological limitations – a topical review. Front Neurol 2017; 8: 498 7 Liu F et al.: Validity of evaluation scales for post-stroke depression: a systematic review and meta-analysis. BMC Neurol 2024; 24: 286 8 Allida S et al.: Pharamcological, non-invasive brain stimulation and psychological interventions and their combination for treating depression after stroke. Cochrane Database Syst Rev 2023; 7: CD003437 9 Robinson R et al.: Post-stroke depression: A review. Am J Psychiatry 2016; 173: 221-31 10 Giaquinto S et al.: Evaluation of sexual changes after stroke. J Clin Psychiatry 2003; 64: 302-7 11 Dusenbury W et al.: Determinants of sexual function and dysfunction in men and women with stroke: a systematic review. Int J Clin Pract 2017; 71: 1312-1322 12 El Husseini N et al.: Cognitive impairment after ischemic and hemorrhagic stroke : A scientific statement form the American Heart Association/American Stroke Association. Stroke 2023; 54: e272-91 13 Rost NS et al.: Post-stroke cognitive impairment and dementia. Circ Res 2022; 130: 1252-71 14 Mijajlovic M et al.: Post-stroke dementia – a comprehensive review. BMC Med 2017; 15: 11 15 Godefroy O et al.: Are we ready to cure post-stroke cognitive impairment ? Many key rerequisites can be achieved quickly and easily. Eur Stroke J 2025; 10: 22-35 16 Umemura T et al.: Rate of return to work in patients with stroke under the health and empoyment support program of Rosai hospitals in Japan. Sci Rep 2023; 13: 15795 17 Wicht C et al.: Predictors for returning to paid work after transient ischemic attack and minor ischemic stroke. J Pers Med 2022; 12: 1109
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