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Arbeitsmedizin

Gesundheitsbelastungen und Gefährdungen durch Schicht- und Nachtarbeit

Schicht- und Nachtarbeit führen durch Schlafverlust und zirkadiane Desynchronisation zu einem erhöhten Risiko für vielfältige Gesundheitsprobleme. Dazu gehören verbreitete somatische Erkrankungen, aber vor allem auch negative Auswirkungen auf Psyche und Sozialleben. Ärzte sollten die Arbeitsbedingungen ihrer Patienten systematisch erfragen und dokumentieren, um einen möglichen kausalen Zusammenhang der präsentierten Gesundheitsprobleme mit der Organisation der Arbeitszeit zu erkennen.

Keypoints

  • Schicht- und Nachtarbeit ist eine gesundheitlich belastende Form der Arbeitszeitorganisation.

  • Schlafstörungen, kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes und psychische Beschwerden können Folge von Schicht- und Nachtarbeit sein.

  • Es gibt keine «Gewöhnung» des Körpers an dieses Arbeitssystem.

  • Ärzte in der Praxis können und sollten sich bei Hinweisen auf Gesundheitsstörungen, die durch Schicht- und Nachtarbeit verursacht oder negativ beeinflusst werden können, mit dem zuständigen Arbeitsmedizinischen Dienst der Arbeitgeberin in Verbindung setzen.

Physiologische Auswirkungen von Schicht- und Nachtarbeit

Die meisten physiologischen Prozesse des Menschen unterliegen einem ausgeprägten Zirkadianrhythmus. Der Taktgeber dafür sitzt im suprachiasmatischen Nucleus des Hypothalamus; wie der Name sagt, in unmittelbarer Nähe zur Sehnervenkreuzung. Auch wenn die Steuermechanismen des dominanten Taktgebers eine gewisse Autonomie haben, so moderieren Licht und Dunkelheit das Geschehen deutlich. Über das sympathische Nervensystem und humorale Systeme (z.B. Melatoninproduktion in der Zirbeldrüse) wird ein 24-Stunden-Rhythmus der körperlichen Regelkreise aufgebaut und unterhalten. Es gibt interindividuelle Unterschiede («Chronotypen»). So fällt den «Eulen» die Frühschicht viel schwerer als den «Lerchen», welche wiederum deutlich mehr unter der Nachtarbeit leiden.

Für alle Chronotypen ist aber das Faktum der zirkadianen zeitlichen Disruption, also die gewollte oder erzwungene Anpassung des Schlaf-wach-Rhythmus an äussere Zwänge und die damit verbundene Störung der Regelkreise, gleichermassen bedeutend für die Gesundheit. Die Veränderung der Exposition gegenüber Licht und die damit veränderte Produktion von Melatonin und Veränderungen weiterer hormoneller Regelkreise (z.B. Cortisol) sowie der unphysiologische Schlaf-wach-Rhythmus sind die Hauptursachen der zirkadianen Disruption.2

Epidemiologie: Was zeigen grosse Übersichten und Metaanalysen?

In den letzten Jahren konnten mehrere grosse Metaanalysen und Übersichtsarbeiten die zuvor schon bekannten, aber immer wieder kontrovers diskutierten Gesundheitsprobleme bestätigen.

Zusammenfassen kann man die Erkenntnisse in vier Kategorien:

  • Kardiovaskuläre Erkrankungen: Nacht- und Schichtarbeiter haben ein erhöhtes Risiko für koronare Ereignisse und kardiovaskuläre Mortalität. Die geschätzte Risikosteigerung liegt in vielen Studien im Bereich von 8–20% je nach Definition und Expositionsdauer1,3

  • Wenig Zweifel gibt es noch, dass Typ-2-Diabetes und metabolisches Syndromdurch Schicht- und Nachtarbeit signifikant begünstigt werden1,4

  • Nachtarbeit wurde bereits 2007 von der IARC, der Internationalen Agentur für Krebsforschung, einer WHO-Organisation, als «wahrscheinlich für den Menschen kanzerogen» eingestuft. Eine erneute Auswertung jüngster epidemiologischer Studien bestätigte 2020 diese Einstufung. Besonders Brust- und Prostatakrebs sind im begründeten Verdacht, durch Nacht- und Schichtarbeit begünstigt zu werden.5 An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass die Deutsche Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin DGAUM in der diesbezüglichen AWMF-Leitlinie weiterhin begründete Zweifel an einem Kausalzusammenhang formuliert.7

  • Schlafstörungen und psychische Komplikationen gehören zu den häufigsten Auswirkungen von Nacht- und Schichtarbeit. Die ausgeprägteste Form der überaus häufigen Schlafstörungen ist das «Schichtarbeitersyndrom», das die fast völlige Unfähigkeit des Organismus bezeichnet, zur Ruhe und zum Schlafen zu kommen. Häufig ist in solchen Fällen, die gemäss meiner eigenen arbeitsmedizinischen Erfahrung nicht selten sind, eine Hospitalisierung notwendig. Stimmungsschwankungen bis hin zu depressiven Syndromen sind ebenfalls häufig.6 Nach meiner Erfahrung beklagen viele Schichtarbeiter auch mangelnde Sozialkontakte, die mit langjährigem Verbleiben «in der Schicht» immer weniger werden. Schichtarbeiter können an vielen sozial bedeutsamen Aktivitäten einfach nicht teilnehmen, insbesondere, wenn diese regelmässig wiederkehrend stattfinden, wie z.B. Vereinsaktivitäten.

Zu erwähnen ist hier zudem, dass einige Diagnosen nicht oder kaum mit Schicht- oder Nachtarbeit vereinbar sind: Epilepsie, Psychosen (auch medikamentös kompensierte), Migräne (ausgeprägte Formen), gewisse endokrine Störungen wie z.B. M.Addison. In Zweifelsfällen ist der zuständige arbeitsmedizinische Dienst hinzuzuziehen. Zudem ist in den deutschsprachigen Ländern Nachtarbeit für Schwangere verboten.

Kollektive Gestaltungsmöglichkeiten und arbeitsmedizinische Empfehlungen

In der AWMF-Leitlinie Nr. 002–030 «Gesundheitliche Aspekte und Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit»7 sind ausführliche, begründete Hinweise enthalten, die allen betroffenen Personen und Institutionen erlauben, Nacht- und Schichtarbeit möglichst wenig belastend zu gestalten. Die wichtigsten Prinzipien und Hinweise sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Die rechtlichen Vorgaben sollen in den meisten Ländern ein gewisses Basisniveau für den Gesundheitsschutz bei der Erwerbsarbeit gewährleisten. Arbeitgebern und -nehmern bleibt darüber hinaus ein grosser Gestaltungsspielraum offen. In der betrieblichen Praxis sind Änderungen an oftmals lang eingeführten Arbeitszeit- und Schichtmodellen in der Regel schwierig. Das ist nachvollziehbar, denn eine ganze Organisation und die beteiligten Personen haben sich und ihr Umfeld an ein bestimmtes Arbeitszeitmodell gewöhnt. So habe ich es mehrmals erlebt, dass Arbeitnehmer und ihre betriebliche Vertretung die Rückwärtsrotation der Schichten gegenüber der arbeitsmedizinisch empfohlenen Vorwärtsrotation bevorzugen, weil damit der Wechsel nach der Nachtschichtperiode in die Freischicht etwas mehr zusammenhängende Freizeit ergibt.

Tab. 1: Empfehlungen für Schichtarbeit

Individuelle Gestaltungsmöglichkeiten

In allen deutschsprachigen Ländern haben Nachtarbeiter die Pflicht oder zumindest das Angebot, regelmässige arbeitsmedizinische Untersuchungen und Beratungen auf Kosten des Arbeitgebers wahrzunehmen. Aber nicht nur Arbeitsmediziner müssen sich um die mit Schichtarbeit verbundenen Fragen kümmern, auch Ärzte in der Grundversorgung und Internisten sollten ihre Patienten bezüglich ihrer Erwerbsarbeit befragen und beraten. Dazu gehören das Wissen über die gesundheitlichen Folgen von Schicht- und Nachtarbeit, wie oben beschrieben, und der Gedanke an eine mögliche kausale Beziehung präsentierter Beschwerden zu diesem Arbeitssystem. Erfragen Sie bei der Berufsanamnese systematisch Schichttyp (rotierend vs. fest), Beginn/Ende, Schichtdauer, Anzahl aufeinanderfolgender Nachtschichten, Dauer der beruflichen Exposition (Jahre), Schlafdauer/Qualität, Tagesmüdigkeit, Gebrauch von schlaffördernden Medikamenten, Unfälle sowie die Auswirkung auf soziale Aktivitäten. Eine klinische Untersuchung sollte die Durchführung einer kurzen körperlichen Untersuchung mit Befunddokumentation (u.a. Körpergrösse, Gewicht, Blutdruck, klinische Befunde) beinhalten. Die klinische Laboruntersuchung sollte mindestens die Parameter zur Bestimmung des kardiovaskulären Risikos und des Zuckerhaushalts (Cholesterin mit Differenzierung zwischen HDL und LDL, Triglyzeride, Nüchternglukose, HbA1c) umfassen.7 In der Beratung sollte darauf aufmerksam gemacht werden, dass es eine komplette körperliche Gewöhnung an die Schichtarbeit nicht gibt und gewisse Beschwerden, insbesondere Schlafstörungen, daher nicht ungewöhnlich sind. Wichtig ist das Gefühl einer Erholung während der Freischicht; wenn diese Erholung nicht gewährleistet ist, droht die Entwicklung eines Schichtarbeitersyndroms. Nach einer Nachtschicht sollten keine aufregenden Nachrichten oder Filme geschaut und es sollte – eventuell nach einer leichten Mahlzeit – zum Schlafen bald ein vor Lärm geschützter Ruheraum aufgesucht werden. Das Einwirken von Tageslicht sollte durch lichtdichte Vorhänge verhindert werden. Eine zweite Schlafphase am Nachmittag wird von vielen Betroffenen praktiziert und geschätzt.

In der Vergangenheit wurde viel über die Ernährung von Schicht- und Nachtarbeitenden geschrieben und gestritten, z.B. darüber, ob in der Nacht eine vollgültige oder eher eine sehr leichte Mahlzeit eingenommen werden sollte. Nach meiner Erfahrung haben Schichtarbeiter diesbezüglich meist eigene Konzepte und Vorlieben. Ich bin inzwischen der Überzeugung, dass es hier kaum Ratschläge braucht – ausser vielleicht den Hinweis, den Konsum von zuckerhaltiger Nahrung und zuckerhaltigen Getränken nicht zu übertreiben. Adipositas ist unter Schichtarbeitern häufiger als im Durchschnitt.

1 Kecklund G, Axelsson J: BMJ 2016; 355: i5210 2 Garde AH et al.: Scand J Work Environ Health 2020; 46: 557-69 3 Erdem JS et al.: Environ Res 2025; 276: 121503 4 Xie F et al.: BMC Endocr Disord 2024; 24: 268 5 Night Shift Work. IARC Monographs on the identification of carcinogens to humans Volume 124. 2020; https://publications.iarc.who.int/593 ; zuletzt aufgerufen am 1.9.2025 6 Torquati L et al.: Am J Public Health 2019; 109: e13-20 7 AWMF S2k Leitlinie «Gesundheitliche Aspekte und Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit». 2021; https://register.awmf.org/assets/guidelines/002-030k_S2k_Gesundheitliche-Aspekte-Gestaltung-Nacht-und-Schichtarbeit_2021-08.pdf ; zuletzt aufgerufen am 1.9.2025

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